Heike Meckelmann

Küstensturm


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Seine Wangenknochen traten hart hervor. Ihm missfiel, wie der Hund an seinem Chef hing. Schließlich hatte er die komplette Ausbildung mit Watson absolviert und teilte mit ihm seine Junggesellenbude in Neustadt. »Vielleicht hättest du dir den Hund anschaffen sollen«, grummelte Thomas. »Steig ein, Verräter«, lotste er Watson zurück in den Hundekäfig.

      »Wann fährst du nach Fehmarn?«, wollte Hartwig wissen, während er den Wagen lenkte.

      »Am Wochenende. Katrin möchte zu einer Vernissage, und ich begleite sie. Nettes Event mit Kanapees und Champagner.« Thomas prustete los. »Soll ich dir Watson zur Verstärkung mitgeben? Der räumt mit Sicherheit den Laden auf.«

      Dirk lachte und schüttelte den Kopf. Er hatte im eigenen Wagen miterlebt, dass der Hund, sobald er nicht unter Kontrolle war, ein Flegel seiner Zunft war und jede Menge Schaden anrichten konnte. »Ne, lass mal. Ich werde allein mit denen fertig. Außerdem haben wir ja Charlotte dabei, die wird uns schon rechtzeitig da rausholen.« Dirk Westermann dachte daran, wie er der Fotokünstlerin Charlotte Hagedorn das Leben gerettet hatte, während Hartwig und er gemeinsam auf Fehmarn ermittelten. Und er musste schmunzeln, als er daran dachte, dass er durch sie ihre Nichte Katrin kennen und lieben gelernt hatte. Es war damals sein erster Mordfall auf der Insel, und er würde den grausamen Überfall auf die Künstlerin niemals vergessen.

      »Ich muss dringend tanken«, murmelte Hartwig und fuhr von der Straße ab. Westermann nickte und sie hielten an den Zapfsäulen. Auf dem Gelände standen nur zwei Pkws und ein Lkw. Der Hauptkommissar blieb im Wagen sitzen und unterhielt Watson, der sich fiepend bemerkbar machte. Neben dem Lkw stand ein Mann mit dichtem grauem Bart und Zopf, der den Rauch seiner Zigarette so intensiv inhalierte, als sei es die erste nach langer Zeit. Dirk beobachtete den schlanken, trotzdem muskulösen Mann, der Jeans trug, die ihm irgendwann mal gepasst haben mussten. Überhaupt sah er angeschlagen aus. Die blasse Haut und der ungepflegte Bart verstärkten die tiefliegenden Augenringe. Er hatte etwas an sich, das bedrohlich wirkte. Seine dunklen Augen hatten einen lauernden Blick, der Westermann an ein jagendes Tier erinnerte. Selbst Watson knurrte verhalten, als er den Mann aus dem Fond heraus beobachtete. »Westermann, du spinnst. In jedem Kerl siehst du einen potenziellen Mörder. Mensch, lass gut sein. Watson, sei ruhig, alles in Ordnung.« Hartwig kam zurück und stieg ein. Er reichte Dirk ein Eis und packte sich selbst eines aus. Im hinteren Teil des Wagens fing es an zu rumoren. Der Hund knurrte leise bei jedem Bissen, den die Männer sich genehmigten.

      Auf einmal stand der Bärtige unmittelbar neben dem Wagen und starrte die Kommissare mit eisigem Blick an.

      *

      »Da hinten kann man den Leuchtturm sehen, zumindest seine Umrisse«, rief Stina und fing an, ihre Schritte zu beschleunigen, nachdem sie sich beruhigt hatte. Ihre Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt, und sie war froh, auf einer Wiese zu stehen und nicht mehr im Wald umherirren zu müssen.

      Lotta erreichte die Freundin, und sie stapften weiter Richtung Leuchtturm. »Müsst ihr so schnell gehen?«, maulte Tilda, die hinter ihren Freundinnen her stolperte. Ihr Mantel wehte bei jedem Schritt auseinander und sah aus wie schlagende Flügel, als sie sich um die eigene Achse drehte, um den Wind durch ihre Haare wehen zu lassen. Die schmale Straße zum Turm erschien ihr endlos, und sie verspürte überhaupt keine Lust mehr, noch weiterzugehen. Sie hätte es vorgezogen, sich auf eine Bank zu setzen. Sie steckte gähnend die Hände in die Manteltaschen und schlurfte hinterher.

      Der Nebel wurde dichter und zog vom Wasser aus über die Felder ins Landesinnere. Es war zwar kein bisschen Ostsee zu sehen, aber das Rauschen der Wellen klar und deutlich zu hören. Um die Frauen herum entstand eine milchige Suppe, die sich zäh ausbreitete. Lotta und Stina hatten das Gelände des Leuchtturms erreicht und begutachteten die Umzäunung. Sie warteten auf Tilda. »Sag mal, hast du eigentlich noch andere Klamotten als deine Grufti Outfits?«, fragte Stina.

      »Nö«, war die knappe Antwort. »Lass uns ums Grundstück rumlaufen, dann kommen wir runter ans Wasser. Direkt zum Turm können wir sowieso nicht«, schlug Lotta vor. Stina folgte ihr auf dem Wanderweg Richtung Strand. Hinter sich hörte sie leises Knarzen und drehte sich mit unsicherem Gefühl um. Dann sah sie erleichtert, dass Tilda über das grün gestrichene, hüfthohe Metallgeländer kletterte. »He, warum sind wir denn hier? Stellt euch nicht so an! Ihr wolltet doch zu diesem Leuchtfeuer der Historie.« Mit einem Satz landete sie auf der anderen Seite des Zauns. »Bist du wahnsinnig? Das ist verboten!«, fluchte Lotta. »Wenn uns hier jemand sieht. Das gibt richtig Ärger. Dieses Grundstück ist fast historisch. Hier hat der Maler Ernst Ludwig Kirchner einige Sommer verbracht, um seine Bilder zu malen. Unglaublich. Da springt man nicht mal eben über den Zaun.«

      »Mann, nun stellt euch nicht an wie Püppchen. Ihr wolltet Abenteuer und Erholung. Wo erholt man sich besser als an einem Leuchtturm. Wir beschreiten den Weg der alten Seebären.«

      Sie winkte ihre Freundinnen heran, die an einem kleinen Haus stehengeblieben waren, das sich auch auf dem Grundstück befand. »Ich geh da nicht rüber«, murmelte Stina. »Sei kein Frosch. Wir wollten was erleben oder etwa nicht? Tilda hat recht«, antwortete Lotta und zog ihre Freundin hinter sich her.

      Entschlossen liefen sie zum Metallzaun und kletterten ihr nach. Erleichtert rannten sie Tilda hinterher, die mit verschränkten Armen vor dem Leuchtturm stand und ihre Fingernägel begutachtete. Prustend blieben sie vor dem zweifarbig gemauerten Bauwerk stehen. »Das sieht aber urkomisch aus. Ist denen das Geld für die anderen Steine ausgegangen?«, kicherte Stina und betrachtete die farblich unterschiedlichen Mauersteine. »Ne, soweit ich weiß, war der Turm anfangs komplett aus gelben Steinen. Die haben dem Wetter wohl auf der Westseite nicht standgehalten, sodass sie ausgetauscht werden mussten. Ich finde, das hat was«, lachte Lotta und stiefelte einmal um den Leuchtturm von Staberhuk herum. »Es ist toll, auf den Spuren Ernst Ludwig Kirchners zu wandeln, oder?« Stina sah sie fragend an und stapfte in ihren vom Dreck versauten Stiefeln weiter über das Grundstück. Sie entdeckte eine hölzerne Pforte, die auf ein Portal führte. Von dort aus hatte man einen fantastischen Blick über die Ostsee. Der Riegel des quietschenden Tores schlug, nachdem sie hindurchgeschlüpft war, in einem Schnappschloss ein. Die zarte Person betrat eine vorgelagerte Empore, die einem Balkon ohne Geländer glich und jetzt nur einen kleinen Ausblick auf Teile der Ostsee und den Strand bot. Sie war enttäuscht, dass sie nur einige Findlinge sehen konnte, die verstreut im Sand lagen. Das Meer war weitgehend vom Nebel verschluckt worden. »Das müsst ihr euch ansehen!«, rief sie. »Das ist der Hammer.« Sie trat einen Schritt zurück und setzte sich auf eine verwitterte Holzbank, die im geschützten Teil der etwa acht Quadratmeter großen Plattform vor einer Hecke aufgestellt war. Lotta und Tilda kamen über das Rasenstück angelaufen. Sie staunten, als sie die Freifläche betraten. »Wow, da kann man sicher weit gucken, wenn klare Sicht ist, und das Meer bis zum Horizont bestaunen«, flötete Tilda. Sie näherte sich der Felskante, die zum Strand hin senkrecht in die Tiefe abfiel, und wedelte mit den Armen, während Lotta bei Stina stehen blieb. »Halt Abstand, oder willst du den Abgrund runterfliegen«, mahnte sie und presste die Hand auf ihr Herz. Tilda grinste sie an und tänzelte weiterhin gefährlich nahe der Felsklippe herum. »Tanz auf dem Drahtseil«, flötete sie ausgelassen. Der Mantel flatterte wie Fledermausflügel. Es schien, als würde sie jeden Moment abheben. »Lass das! Findest du das cool?«, rief Stina und wurde blass. Ohne Vorwarnung geriet Tilda in ihrer unbekümmerten Art gefährlich ins Straucheln. Sie ruderte mit den Armen und schien das Gleichgewicht zu verlieren. Starr vor Angst standen die Freundinnen da, unfähig, sich zu bewegen und auch nur einen Schritt auf sie zu zu machen. Tilda riss erschrocken die Augen auf, als ein Stück des Bodens unter ihrem Fuß wegbrach. Ein markerschütternder Schrei hallte über die Ostsee.

      Kapitel 4

      Der Tag gefiel ihr. Es war genau diese Art von Stimmung, die sie mit ihrer Kamera einfangen wollte.

      Das Wetter war kühl, neblig und wirkte geheimnisvoll. Charlotte Hagedorn trällerte, als sie, mit ihrem Rucksack auf den Schultern und in ihren dicken Wollmantel eingepackt, ihr Fahrrad über den Sandweg Richtung Staberhuk dirigierte. Sie kratzte sich mit einer Hand unter ihrer mit Delfinen bestickten Mütze. Die Künstlerin wusste aus Erfahrung, dass sie bei dem Wetter fast eine Stunde