Jacob Walden

Wahrheit oder Sylt


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bugsiert er das Mädchen weiter in Richtung Haustür. Doch auf halber Strecke erstarrt er. Es muss etwas passiert sein, da ist er sich plötzlich ganz sicher. So einfach, dass Carlos sich abgesetzt hat, kann des Rätsels Lösung nicht sein. Das würde nicht erklären, was er jetzt sieht. Er lässt Angelina stehen und geht langsam, Schritt für Schritt, auf den Carport zu.

      Der nicht mehr ganz neue – und deshalb nach Sylt degradierte – Porsche Cayenne steht da wie immer im Carport zwischen dem halben Klafter Kaminholz und den Mülltonnen, und doch ist etwas anders, unnormal. Sein Herz pocht. Angst legt sich wie zu enge Metallbänder um seinen Brustkorb.

      Er starrt auf den vor Staub und Salz stumpf gewordenen Lack, auf den Möwendreck auf Dach und Scheiben. Verdammt, was haben diese geflügelten Ratten überhaupt in seinem Carport zu suchen? Ist es nicht mehr als genug, wenn sie draußen alles voll kacken? Was wird er im Inneren des Wagens entdecken? Ist da nicht irgendetwas hinter den abgedunkelten Scheiben des Fonds?

      »Warum steht denn die Autotür offen?«, hört er Angelina hinter sich fragen. Ihre Stimme kiekst, und als er sich zu ihr umdreht, erkennt er ein nervöses Zucken in ihrem Gesicht. Just in diesem Moment flattert ihm etwas ins Gesicht, er schreit auf, schlägt um sich, taumelt zurück, eine Möwe fliegt kreischend in Richtung Watt davon. Sein Herz rast wie wahnsinnig. Er starrt auf die offen stehende Tür, auf den Vogelkot, der auch die hellbraunen Ledersitze über und über bedeckt, auf die Schatten auf den Rücksitzen. Und dann riecht er es. Er muss nicht mehr nachsehen, er weiß, was er im Inneren des Wagens sehen wird.

      »Hast du dich verletzt?« Ihre Stimme scheint weit weg zu sein, er nimmt sie kaum wahr. Sie steht neben der offenen Fahrertür. Er will sie warnen, er will sie beschützen vor dem zu erwartenden Anblick, er stürzt zu ihr, doch zu spät, er kann sie nicht mehr davon abhalten, einen Blick in den Wagen zu werfen. Er muss sich abstützen, um nicht zusammen mit Angelina in den Wagen hineinzustürzen, seine Hand landet in einem dunklen, verkrusteten Fleck auf der Sitzfläche des Fahrersitzes, hastig rappelt er sich auf und sieht nun, was die ewig gierigen Möwen von den Gestalten auf den Rücksitzen übrig gelassen haben. Und dann fängt er an zu schreien, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geschrien hat.

      1

      Irgendwo

      Irgendwann

      Die Schwärze vergraut. Schatten bilden sich und werden zu Konturen, zu Gegenständen.

      Er blinzelt. Vorsichtig hebt er den Kopf.

      Dröhnen.

      Flackern.

      Wo ist er?

      Der Raum ist größer, als er überblicken kann. Unübersichtlich. Rechts ein Fenster, Jalousien mit horizontal gestellten Lamellen, dahinter nur Himmel, intensiv blau, unnatürlich blau. Links eine Glasfront, dahinter kaltes Neonlicht. Außerdem: eine Trennwand, eine Art Paravent. Niedrige Schränke, ein Tresen, leer.

      Er ist sich absolut sicher, diesen Raum noch nie in seinem Leben gesehen zu haben.

      Er lässt den Kopf wieder sinken. Das Dröhnen hört auf, das Flackern erlischt. Er versucht, seine nächste Umgebung zu erfassen, ohne noch einmal den Kopf heben zu müssen. Geräte. Schläuche. Kabel. Digitale Anzeigen, leuchtende Zahlen und Buchstaben, scheinbar zusammenhangslos.

      Er stöhnt. Wo, verdammt, ist er hier gelandet? Und wie? Und warum? Er sucht in seiner Erinnerung nach einem Punkt zum Festhalten, zum Anknüpfen, Rekonstruieren.

      Unfassbar laut explodiert das Gleiten der sich öffnenden Glastür in seinem Kopf. Ein Impuls fordert, die Augen zu schließen, sich zu verschließen vor dem unbekannten Ort, doch er kann nicht, ganz im Gegenteil, mit vor Angst geweiteten Augen starrt er in Richtung der Tür, von der sich nun Schritte auf ihn zubewegen.

      2

      Eine Frau mit graublonden Haaren beugt sich über ihn. Sie trägt ein sackförmiges hellblaues Oberteil, das jegliche Hinweise über ihre Figur verbirgt. Ihr aufgeschwemmtes Gesicht sieht müde aus. Die Augenringe sind dunkel und tief wie bei einem Junkie.

      »Ruhig«, sagt sie mit rauchiger Stimme und legt eine kühle Hand auf seinen Unterarm. Er zuckt zusammen. »Alles in Ordnung.«

      Sein Blick wird allmählich klarer. Er erkennt immer mehr Einzelheiten. Das schmucklose, weiß getünchte Zimmer, pastellfarbener Linoleumboden, ein mit transparenter Plastikfolie abgedecktes Krankenhausbett, dessen Fußende hinter dem Paravent hervorschaut. Die Zahlen, Buchstaben und Linien auf den Monitoren, die sich in unendlichen Zacken und Wellen wiederholen.

      Nun bemerkt er auch den Schlauch, der in seiner Armbeuge verschwindet, eine Art Fingerhut an seinem Zeigefinger und einen Fremdkörper an seinem Penis. Vorsichtig tastet er an dem Fremdkörper herum und erkennt mit Schrecken, dass dieser sich nicht nur an seinem Penis befindet, sondern sogar in ihn hineinführt.

      »Was ist passiert?«, bringt er mühsam hervor. Er spürt, wie sich Panik in ihm hochschaukelt, wie er innerlich hektisch wird, auch wenn sich sein Körper wie gelähmt anfühlt.

      »Wie bin ich hierhergekommen?«

      »Wir haben gehofft, Sie könnten uns das erzählen«, antwortet die Frau. »Im Moment wissen wir nicht einmal Ihren Namen.«

      Er öffnet den Mund, selbstverständlich, seinen Namen, klar. Wenn er schon sonst nichts zu Protokoll geben kann, dann doch zumindest … Er sieht in die erwartungsvollen Augen der Krankenschwester, die auf seinen Mund starren, der den Namen ausspucken will, seinen Namen. Doch der Mund bleibt still.

      »Ich hole den Arzt«, hört er schließlich die Schwester sagen. Ihre Stimme hat sich verändert. Sie wirkt jetzt abweisend, verächtlich, feindselig, oder kommt ihm das nur so vor?

      »Helen hier«, sagt sie nach einigen Sekunden in ein schnurloses Telefon, das sie aus der Tasche ihres unförmigen Oberteils gezogen hat. »Er ist wach.«

      3

      Der Arzt ist noch jung, keine 30, schätzt er. Verschlafen und übernächtigt, die schlecht geschnittenen braunen Haare stehen in alle Richtungen. Der weiße Kittel und das Stethoskop verleihen ihm eine Aura von Autorität, die jedoch nicht vollständig seine Milchbubigkeit überdecken kann.

      »Waldmann«, stellt er sich vor. »Ich bin der diensthabende Internist.« Erwartungsvoll sieht er ihm in die Augen. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

      »Ich weiß es nicht.« Flüstern, mehr nicht. Sein Mund fühlt sich an, als hätte er einen Prittstift gegessen.

      Waldmann nickt. »Wie geht’s Ihnen?«

      »Kopfweh. Durst.«

      Waldmann nimmt eine Flasche vom Nachttisch und gießt Wasser in einen daneben stehenden Becher, auf den er einen Deckel mit schnabelförmiger Öffnung steckt.

      »Nicht aufsetzen«, mahnt er. »Ich helfe Ihnen beim Trinken.«

      Waldmann hält ihm den Becher an die Lippen. Er hebt vorsichtig den Kopf, nur ein Stückchen. Das Wasser in seinem Mund fühlt sich an, als müsse es dort eine Feuersbrunst löschen.

      »Wissen Sie, wo Sie sind?«

      »Krankenhaus?«

      »Gut! Sehr richtig!«, lobt Waldmann. »Und zwar auf der Intensivstation. Aber keine Angst, bislang sieht alles gut aus. Wir haben uns allerdings etwas Sorgen um Sie gemacht.« Wieder Pause und erwartungsvoller Blick. Waldmann scheint darauf zu warten, dass er sich an irgendetwas erinnert, etwas erklären kann. Doch er kann nicht. Er hat keine Ahnung, nur einen alles verschleiernden Nebel im Kopf und diese Angst, die immer beklemmender wird.

      »Wissen Sie, in welcher Stadt wir uns befinden?«

      »Hamburg?«

      »Warum Hamburg? Kommen Sie aus Hamburg?«

      Er sieht den Arzt unsicher an. »Weiß nicht.«

      »In Hamburg sind wir nicht. Sonst eine Idee?«

      »Nein.«