Jacob Walden

Wahrheit oder Sylt


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Flur ist ein Murmeln zu hören, leise Stimmen, unverständlich, doch irgendwie bedrohlich. Er ist sich sicher, dass die Stimmen über ihn reden.

      5

      Ein gebeugtes, hageres Männchen manövriert ihn in seinem Bett durch Gänge, in denen er sofort die Orientierung verliert.

      Fahrstuhl. Mehr Gänge. Türen. Eine davon öffnet das Männchen, schiebt ein leeres, mit Plastikfolie überzogenes Bett hinaus und ihn hinein.

      »Schwester kommt gleich. Alles Gute.« Das Männchen nimmt eine graue Mappe vom Fußende des Bettes und geht. Die Tür schließt sich, absolute Stille.

      Auf einem Tisch in Reichweite eine Flasche Mineralwasser, ein eingeschweißter Plastikbecher. Begrüßungsritual, denkt er, wobei ihn eine Woge aus Angst überspült. Das abstrakte Aquarell über dem Tisch scheint auf ihn zuzukommen. Billiger Druck, schmuckloser weißer Rahmen. Blau und Orange verschwimmen zu undefinierbaren Formen und Figuren. Das Orange flackert. Das Orange droht. Das Orange schreit ihn an.

      Er stöhnt und muss aufstoßen. Ein widerlich süß-saurer Geschmack flutet seinen Mund. Und plötzlich fühlt er etwas, eine Ahnung von Erinnerung. Gleißende Sonne, schnelle Bewegungen, schrilles Lachen, ein Impuls, Ambivalenz. Und Angst, immer wieder Angst.

      6

      Er taucht durch ein violettes Meer, in dem orangefarbene Wellen pulsieren. Seine Haut ist so glatt, dass das Violett nicht ganz zu ihm vordringen kann, sondern Millimeterbruchteile über seiner Haut abperlt.

      Es ist angenehm in diesem Meer, ruhig und kühl.

      Er ist unantastbar.

      Unberührbar.

      Mittendrin und doch wie in einem Kokon vor allem und jedem geschützt.

      Aber hier gibt es sowieso nichts anderes als ihn und das pulsierende violett-orangefarbene Meer.

      Er schreckt hoch und merkt, dass er einige Stunden geschlafen haben muss. Das Licht vor dem Fenster hat sich verändert. Unter dem Aquarell steht ein Tablett mit verschiedenen abgedeckten Tellern.

      Dann erst bemerkt er den Mann. Er ist bullig wie ein Schwergewichtsboxer. Auf seiner Glatze glitzern Schweißperlen. Er steht neben dem Bett und blättert in einer Akte. Weiße unförmige Kleidung mit Namensschild, Blutdruckmanschette und Stethoskop um den Hals. Ein Pfleger.

      »Na, ausgeschlafen?«, fragt der Mann.

      Kopfschütteln. Das geht jetzt besser. Kein Dröhnen mehr. Doch sein Mund ist noch immer staubtrocken.

      »Durst«, flüstert er.

      Wortlos befreit der Mann den eingeschweißten Becher von der Plastikfolie, öffnet die Wasserflasche und gießt ihm ein. Mühsam rappelt er sich hoch und nimmt mit beiden Händen den Becher in Empfang. Gierig saugt er das Wasser ein.

      »Gut gefeiert gestern, was?«

      »Weiß nicht.«

      »Ganz schön hinüber biste gewesen, als wir dich heut Nacht eingesammelt haben.«

      Er starrt irritiert auf den spöttisch grinsenden Mund des Pflegers.

      »Ich war der eine Sani«, fährt dieser fort. »Nebenjob. Sonst reicht das Geld nicht für die Insel der Schönen und Reichen.« Er malt ein paar Anführungszeichen in die Luft. »Solche wie dich haben wir in der Saison fast jeden Tag hier. Aber Junge, Junge, du warst mehr tot als lebendig. Und deine Freundin auch. Was habt ihr euch nur reingepfiffen, um alles in der Welt?«

      »Ich weiß es nicht«, haucht er. »Ich kann mich an nichts erinnern.« Sani. Das Wort hallt in seinem Kopf nach. Sani, Sani, Sani.

      »Schade auch, hätte mich ja mal interessiert.« Der Pfleger lacht. »Übrigens: Deine Schwester ist da. Soll ich sie reinlassen?«

      7

      Er hat keine Schwester. Auch wenn er momentan nicht viel weiß, das weiß er. Doch der Duft ist angenehm, vertraut. Er weiß, dass es Aromen von Jasmin, Pfirsich und Sandelholz sind. Er hat es einmal gegoogelt, vor Jahren, verliebt, unglücklich. Ein Parfum. Sunflowers.

      Das Gesicht des Mädchens, das jetzt neben seinem Bett steht, kommt ihm vage bekannt vor. Kennt er sie? Sollte er sie kennen? Sani, Sani, Sani. Das Wort wabert in seinem Kopf. Dann trifft ihn die Erkenntnis wie ein Donnerschlag.

      »Sunny!«, flüstert er.

      »Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Sebastian!«, sagt sie und streicht ihm über die Wange.

      »Ich lass euch dann mal alleine«, hört er den Pfleger aus dem Hintergrund. Das Mädchen bedankt sich höflich. Sekunden später fällt die Tür ins Schloss. Stille.

      Das Mädchen hat lange, glatte blonde Haare, ist schlank und mag etwa 18 sein. Sie sieht übernächtigt aus. Dunkle Ringe zeichnen sich trotz Make-up unter ihren Augen ab.

      »Sunny!«, sagt er nochmal.

      Das Mädchen verzieht den Mund. »Das muss jetzt doch nicht mehr sein. Eigentlich möchte ich diesen Namen nie mehr hören.«

      »Aber du bist Sunny, oder?«

      »Ich bin Luna. Ich hab mich nur Sunny genannt. Erinnerst du dich nicht?«

      »Nein!«

      Sie runzelt die Stirn. »An was kannst du dich überhaupt erinnern?«

      »Sylt. Ein Haus. Dünen. Ein paar Leute.«

      »Ja und?«

      »Nichts. Gar nichts. Bis eben wusste ich nicht einmal, dass ich Sebastian heiße. Kommt mir auch total fremd vor.«

      »Nun ja.« Luna lacht leise. »Das könnte daran liegen, dass du gar nicht Sebastian heißt.«

      »Aber …«

      »Das war nur für den Pfleger«, flüstert sie. »Die wollten als Erstes deine Daten haben, Versichertenkarte und so. Ich hab gesagt, du hättest keine Karte, weil du privat versichert bist, und dass du Sebastian Krämer heißt und in Berlin wohnst.«

      Er starrt sie verständnislos an. »Und warum das alles? Und wie heiße ich denn nun wirklich?«

      »Karsten«, sagt Luna. »Du heißt Karsten. Und glaub mir, es ist besser, wenn niemand deinen richtigen Namen erfährt.«

      »Warum?« Seine Stimme kiekst aufgeregt.

      »Pst«, zischt Luna. »Nicht so laut. Der Pfleger meinte, du bräuchtest absolute Ruhe und dürftest dich nicht aufregen. Wenn du nicht ruhig bist, schmeißt er mich gleich wieder raus.«

      »Karsten Straußberger«, flüstert Karsten. »Ich bin Karsten Straußberger, oder?«

      Luna nickt. »So sieht’s aus.«

      »Was ist passiert? Warum bin ich hier?«

      »Du hattest einen Anfall.«

      Karsten wartet auf weitere Ausführungen, doch Luna schweigt.

      »Und warum bist du meine Schwester?«

      »Sonst würden sie mir doch gar nichts erzählen. Wahrscheinlich dürfte ich gar nicht zu dir.«

      »Clever.«

      »Danke.«

      Sie sieht hübsch aus, wenn sie lächelt, denkt er.

      »Was ist alles geschehen gestern Abend?«, fragt Karsten. »Es war doch gestern? Oder?«

      Luna nickt. Einen Augenblick lang scheint sie nachzudenken.

      »Jetzt sag schon!«, drängt Karsten. »Hilf mir! Bitte!«

      »Wir haben Party gemacht. Ziemlich viel getrunken. Flaschendrehen gespielt. Und dann ist alles außer Kontrolle geraten.«

      Das Flackern. Es kommt schlagartig und aus dem Nichts. Ein eigenartiger Geruch sticht Karsten in der Nase. Eine bleierne Müdigkeit überfällt