Jacob Walden

Wahrheit oder Sylt


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sie.

      »Hat gewirkt«, rief Karsten zurück.

      Miriam kam einige Schritte auf ihn zu.

      »Was hat wie gewirkt?«, fragte sie und betonte die beiden Fragewörter überdeutlich. Dabei zog sie die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief.

      Karsten spürte, wie das Regenwasser auf seinem Gesicht heiß wurde.

      »Der Regentanz. Erfolgreich.«

      »Du hast Talent«, bemerkte sie spöttisch. »Kann ich reingehen? Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne den Rucksack abstellen.«

      »Ist offen. Ich komme gleich nach.«

      »Okay«, sagte sie und wandte sich zur Haustür. Dort drehte sie sich nochmals um.

      »Ich geh unter die Dusche, ja?« Wieder legte sie den Kopf schief. Trotz des klobigen Rucksacks auf ihrem Rücken wirkte es anmutig.

      Weder Karsten noch Miriam hatten die Gestalt bemerkt, die nun unter den Eschen stand und die Szene ganz genau beobachtete: Franziska.

      13

      Westerland/Sylt. Nordseeklinik

      Danach

      Karsten bemüht sich um Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit, als er den Gang hinunterschlendert. Er hat frische Kleidung aus seiner Reisetasche angezogen und versucht, seine verschwitzten, verklebten Haare zu ordnen. Mit einem Blick in den Badezimmerspiegel hat er versucht, sich selbst davon zu überzeugen, eher wie ein Besucher und nicht wie ein Patient auszusehen.

      Eine geöffnete Tür. Stimmen. Eine Frau und ein Mann. Nicht zu schnell gehen, unauffällig bleiben. Das Foyer. Seine Schritte werden wie von selbst schneller. Er muss sich beherrschen, nicht loszurennen.

      »Stehen bleiben!«, brüllt die dröhnende Stimme des Pflegers. »Wo willst du hin?«

      Der Pfleger hat die Arme in die Seiten gestützt und kommt langsam auf Karsten zu. Er wirkt bedrohlich, wie ein Raubtier auf dem Sprung.

      »Nur mal kurz raus«, antwortet Karsten und bemüht sich um eine feste Stimme. »Frische Luft schnappen.«

      »Du hast Bettruhe«, sagt der Pfleger überdeutlich. »Halte dich dran, sonst muss ich dem Arzt Bescheid sagen.«

      Bilder aus Filmen mit gefesselten Psychiatriepatienten schießen Karsten durch den Kopf. Ohne ein weiteres Wort geht er mit gesenktem Kopf zurück, den ganzen Gang bis ans Ende. Bevor er in die Stirnseite des u-förmig aufgebauten Trakts abbiegt, wo sich sein Zimmer befindet, sieht er sich um. Der Pfleger wartet an der offenen Tür des Personalraums und sieht ihm hinterher.

      14

      Eine Viertelstunde später kommt der Pfleger wortlos in Karstens Zimmer und holt das unangetastete Essenstablett ab. Karsten hat sich aufs Bett gelegt, vollständig bekleidet, und sieht zur Decke.

      Der Pfleger ist schon fast wieder an der Tür, da dreht er sich um und sagt: »Hübsches Mädchen, deine Freundin.«

      »Sie meinen meine Schwester?«

      »Jaja, von mir aus.« Er lacht höhnisch. »Schwester!« Er wiederholt das Wort wie die Pointe eines guten Witzes. »Verarschen kann ich mich selbst.«

      »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

      »Och«, sagt er, »mir kann es ja egal sein. Aber irgendwas ist da doch faul. Da kommt ein Mädchen, das dich offensichtlich anhimmelt, und gibt sich als deine Schwester aus. Vor der Tür warten drei Leute auf die Kleine und schaffen es kaum, sich in die Augen zu sehen. Und genau einen Stock tiefer liegt das Mädel, das in der Nacht bei dir war, genauso abgeschossen wie du, nur dazu noch mit Blessuren, die ganz nach Vergewaltigung aussehen.«

      Er macht eine gewichtige Pause und starrt Karsten bohrend an.

      »Also, was habt ihr ausgefressen?«

      »Ich kann mich an nichts erinnern.« Die Antwort kommt mechanisch. Karstens Stimme ist wieder ein Flüstern geworden.

      »Jaja, schon klar«, sagt der Pfleger. »Ich bin ja mal gespannt, was im Drogenscreening rauskommt. Dann wird bestimmt auch mal die Polizei mit dir sprechen wollen.«

      Wie vom Donner gerührt, starrt Karsten zur Tür, die hinter dem Pfleger ins Schloss gefallen ist.

      15

      Bremen. Stadtwerder

      Davor

      Miriam und Franziska saßen nebeneinander im Garten auf der verwitterten Bank, von der man auf das kleine Kaisenhaus sehen konnte. Sie hatten bereits einen Gin Tonic intus und den zweiten in der Hand. Sie hatten geredet. Belangloses Zeug. Jetzt schwiegen sie und beobachteten, wie die Nacht das letzte blaue Abendlicht vertrieb.

      Etwas stand zwischen ihnen. Miriam musste so sehr an die bizarre Szene von vor einer Stunde denken, an den nackt im Regen tanzenden Karsten, dass Franziska ihre Gedanken schon fast hören musste, so kam es Miriam vor.

      Sie hätte Franziska den Vorfall erklären können. Zumindest soweit der Vorfall zu erklären war. Was Karsten dazu bewogen haben könnte, nackt im Regen durch den Garten zu tanzen, konnte sie auch nicht sagen. Doch wer war sie, dass sie das kritisieren oder seltsam finden könnte? Solche Aktionen, wie nackt durch den Regen tanzen, würde man eher ihr zutrauen als Karsten. Nach den heißen Wochen ohne einen Tropfen Regen, nach diesem extrem schwülen Tag und nach der offensichtlichen Verstimmung, die Matze und Enrico bei Karsten hervorgerufen hatten, war es durchaus verständlich, einem solch befreienden Impuls nachzugeben. Oder etwa nicht? Miriam entschloss sich, Franziska nichts von Karstens Regentanz zu erzählen. Es war schließlich nichts passiert. Wenn sie davon erzählte, würde erst etwas daraus werden. So war es nichts, gar nichts.

      Miriam konnte schon gar nicht mehr nachvollziehen, was Franziska und sie geritten hatte, in die Einladung nach Sylt einzuwilligen. Auf den ersten Blick war ihr klar gewesen, dass Matze und Enrico Blender waren, vermutlich reiche Söhnchen, die nichts besser konnten, als auf dicke Hose zu machen. Sie selbst hatte auch abgewinkt und auf ihre Freunde verwiesen. Franziska war es dann gewesen, die mit Matzes Cayenne zum Café Sand fahren wollte, um Lorenz und Karsten zu suchen und zu fragen. Ein Cayenne, Miriam lachte. Was für ein Klischee!

      »Warum lachst du?« Franziska sah sie fragend an. Sie wirkte, als ob sie auch gerne lachen würde.

      »Ich dachte nur gerade: Wenn ich hätte raten müssen, was für ein Auto Matze fährt, ich hätte sofort auf einen Cayenne getippt.«

      Franziska schmunzelte und zuckte mit den Schultern.

      »Meinst du, er hat nichts in der Hose und braucht ein dickes Auto zum Kompensieren?«, legte Miriam nach.

      Franziska prustete. Sie hatte im falschen Moment einen Schluck aus ihrem Glas genommen. Hustend und lachend wand sie sich auf der wackelnden Bank.

      »Kann doch sein«, sagte Miriam, jetzt auch lachend. »Das sagt man doch immer: je größer das Auto, desto kleiner der Pimmel!«

      »Miriam!« Franziska tat empört, konnte aber ihr Lachen nicht unterdrücken. »So ’n Spruch aus deinem Mund?«

      »Cheers!« Sie stießen an.

      »Karsten und Matze haben ein Problem miteinander, oder? Weißt du was darüber?«

      »Ganz lange Geschichte.« Franziska winkte ab.

      »Erzähl doch mal!«, bohrte Miriam nach. »Oder soll ich ihn selbst fragen?«

      »Nee, lass mal. Sonst ist er wieder tagelang schlecht drauf. Karsten ist im letzten Schuljahr ein paar Monate zweigleisig gefahren.«

      Miriam musste ein Schmunzeln unterdrücken. Warum überraschte sie das nicht?

      »Eigentlich wollte er mit seiner Freundin Schluss machen und mit seiner Affäre richtig zusammen sein, aber er hat es einfach nicht gebacken bekommen. Schuldgefühle und so weiter. Karsten war dann irgendwann kurz vorm Durchdrehen