Kurz dachte Karsten, er wolle einen Hund herbeirufen, doch dann tauchte ein Typ mit schwarzen zurück gegelten Haaren neben Matze auf. Er war nicht allein. Miriam und Franziska waren bei ihm. Sie trugen bunte, blumig gemusterte Sommerkleider, oben eng und figurbetont, unten weit und luftig. Karsten hatte die Kleider noch nie an den beiden gesehen.
Miriam ging direkt zu Lorenz und küsste ihn auf den Mund. Franziska setzte sich dicht neben Karsten, legte ihre Hand auf seine Brust und sagte: »Hallo, Schatz.«
Einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Matze meckernd zu lachen.
»Na so was!«, rief er laut. »Ich war ja echt gespannt auf die Freunde der beiden, aber dass das ausgerechnet ihr zwei Dünnbrettbohrer seid!«
Er klatschte sich grölend mit dem anderen ab, der etwas verdutzt daneben stand.
»Darf ich vorstellen, das ist Ricky, Kollege von der Uni in München. Ricky, sag hallo zu Kasi und Renzo, meinen alten Schulfreunden.«
»Hi«, sagte Ricky. »Ich bin Enrico, aber für dieses Genie hier ist der Name anscheinend zu anspruchsvoll.«
»Jaja«, winkte Matze ab. »Sei nicht so eine verdammte Pussy.«
»Stellt euch vor«, schaltete sich jetzt Miriam ein, »Matze und Enrico haben uns nach Sylt eingeladen, ist das nicht cool?«
»Und als wir gesagt haben«, warf Franziska ein, »aber nur mit unseren Männern, da haben sie sofort Ja gesagt, obwohl sie euch gar nicht kannten.«
»Aber ihr kennt euch ja doch!«, stellte Miriam fest. »Das ist ja umso besser.«
»Ja«, brummte Karsten, »ganz super.«
»Wenn ich mal aufklären darf«, sagte Matze. »Wir sind auf der Durchreise. Ich muss nach Sylt, nach unserem Haus dort sehen. Es ist eingebrochen worden, und jemand von der Familie muss dem Hausverwalter auf die Finger schauen, ihr versteht. Und als wir diese beiden bezaubernden Damen in der Stadt getroffen haben, haben wir sie kurz entschlossen gefragt, ob sie uns begleiten möchten. Wie ihr seht, sind eure Mädels begeistert von der Idee. Wenn ihr auch mitwollt, könnt ihr das gerne tun, aber ihr müsstet separat fahren, sechs Leute krieg ich nicht ins Auto. So ein Cayenne ist zwar geräumig, aber alles hat Grenzen.« Er meckerte erneut.
»Danke, kein Interesse«, brummte Karsten.
»Na dann, zu fünft passt’s!«
Miriam und Franziska wechselten Blicke.
»Also entweder kommen wir alle mit oder keiner.«
»Und natürlich fahren wir vier auch gemeinsam hoch«, fügte Miriam hinzu.
Was bedeutete: Karsten würde fahren müssen. Miriam hatte kein Auto, Franziska besaß einen 20 Jahre alten Polo, der schon bei Tempo 80 auseinanderzubrechen drohte, und Lorenz fuhr einen klassischen Mini Cooper, der nun wirklich zu klein war für vier Erwachsene mit Gepäck. Die einzige sinnvolle Möglichkeit war der Audi A6, die ehemalige Familienkutsche der Straußbergers, mit der Karsten gelegentlich durch die Gegend fuhr.
»Wir können auch einfach hier bleiben«, sagte Franziska leise zu Karsten, als Matze und Enrico bereits gegangen waren. »Wenn dir das mit Matze immer noch so viel ausmacht …«
»Nein, wir fahren!«, sagte Karsten bestimmt. »Soll er doch sehen, dass wir bessere Freunde sind, als er jemals hatte und haben wird. Aber wenn er es wagt, sich an eine von euch ranzuschmeißen, dann wird er bluten, dafür sorge ich!«
»Huch, wie männlich!«, sagte Franziska und lachte.
»Was ist denn los?«, fragte Miriam stirnrunzelnd, als sie Karstens Gesichtsausdruck bemerkte. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
9
Westerland/Sylt. Nordseeklinik
Danach
Mit einem Ruck fährt er hoch. Er ist schweißgebadet. Sein Herz rast. Aber das Dröhnen in seinem Kopf ist weg, nur noch eine blasse Ahnung. Immerhin.
Luna, wo ist sie hin? Hektisch springt er auf und sackt beinahe vor dem Bett zusammen. Keuchend lehnt er an der Wand, spürt, wie das Pulsieren in seinen Ohren allmählich nachlässt, die Sternchen vor den Augen verschwinden. Vorsichtig tastet er sich an der Wand entlang, um die Ecke, zum Badezimmer.
Er erschrickt furchtbar, als wenige Sekunden nach der Beleuchtung lautstark die Lüftung anspringt.
Scheiße, warum bist du so nervös, denkt er. Du bist doch sonst nicht so schreckhaft. Als hättest du einen Geist gesehen, hatte Franziska gesagt. So fühlt er sich nun auch.
Luna. Sie wollte nicht mehr erzählen, hatte nur noch herumgedruckst. Er musste einfach eingeschlafen sein, noch während sie bei ihm saß. Warum? Warum ist er nur so dermaßen erschöpft?
Am Tisch setzt er die Mineralwasserflasche an die Lippen und trinkt sie aus, ohne abzusetzen. Einen Moment lang befürchtet er, alles wieder erbrechen zu müssen. Doch dann entfährt ihm ein fulminantes Rülpsen, und danach geht es ihm besser.
Sein Blick schweift durchs Zimmer. Auf dem Nachttisch liegt etwas. Er erstarrt. Ein Zettel.
Mit klopfendem Herzen beeilt er sich, seinen geschwächten Körper um das Fußende des Bettes herum zum Nachttisch zu manövrieren, stolpert über etwas, taumelt, flucht und fällt aufs Bett. Er erkennt seine Reisetasche, halb unters Bett gerutscht, doch dafür hat er jetzt keinen Blick. Er greift nach dem Zettel, ein kariertes Blatt Papier, DIN A4, aus einem Collegeblock gerissen, einmal in der Mitte gefaltet. Darauf mit blauem Kugelschreiber eine Mädchenschrift, unverkennbar, rund und verspielt, die i-Tüpfelchen sind kleine Kreise. Atemlos beginnt er zu lesen.
Lieber Karsten,
erhol dich noch gut und mach dir bitte keinen Kopf. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber wir können die Dinge nun mal nicht rückgängig machen. Aber wir haben alles in Ordnung gebracht, auch wenn das nicht wirklich möglich ist, aber eben so gut es ging. Also mach dir keine Sorgen.
Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben! Aber man trifft sich ja immer zweimal!? Egal, was kommt: Ich bin auf deiner Seite!
Alles Liebe,
Luna
Karsten lässt das Papier sinken und starrt zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch. Ein Stück entfernt ist ein Kiefernhain zu sehen. Karsten betrachtet die sich im leichten Wind bewegenden Wipfel. Von den gleichförmigen Bewegungen geht eine hypnotisierende Wirkung aus.
Auf meiner Seite? Egal, was kommt? Keine Sorgen machen? Alles in Ordnung gebracht? Und dann auch noch: auch wenn das nicht wirklich möglich ist? Was soll das bedeuten? Was will sie damit sagen? Und was alles sagt sie nicht?
Karsten liest den Brief ein zweites Mal. Erst jetzt fällt ihm der Pfeil ganz unten auf. Er wendet das Blatt. Eine weitere Nachricht, mit einem anderen Kugelschreiber geschrieben, offenbar in Eile, unverkennbar die gleiche Handschrift, aber nicht mehr Mädchenschönschrift, sondern schlampig hingekritzelt.
Wenn er sich bislang von einer Mauer aus Angst umgeben gefühlt hat, rollt nun eine Panikwelle wie ein Tsunami auf ihn zu.
Auf der Rückseite steht:
Sag niemandem deinen Namen! Verschwinde von hier! Dein Auto steht neben der Klinik. Schlüssel ist in der Reisetasche. Wenn du den Autozug hinter dich gebracht hast, werden sie dich kaum noch finden können. Hau so schnell wie möglich ab!!!
10
Bremen. Stadtwerder
Davor
Nachdem Matze und Enrico gegangen waren, waren auch Franziska, Miriam und Lorenz nicht mehr lange geblieben. Eine Geschäftigkeit setzte ein, die Karsten gegen den Strich ging. Alle hatten noch dies und das zu erledigen für die Fahrt nach Sylt am Tag darauf. Er nicht. Ein paar Sachen achtlos in eine Reisetasche zu werfen, hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert.
Am Himmel hingen nun dunkle Wolken.