sah überrascht zu ihm auf. »Wie bitte?«, fragte er in nahezu akzentfreiem Deutsch.
Jetzt schien er zu bemerken, dass André auf die Stelle mit dem Verband starrte. Er zögerte, schaute erschreckt in Andrés Gesicht. Mit einem Ruck erhob er sich und stieß krachend den Stuhl neben sich um. Er verpasste André einen Stoß, sodass er gegen den Nachbartisch taumelte, dort vergeblich Halt suchte und zu Boden ging. Zwei ältere Damen schrien schrill auf, als sich der Aperol Sprizz über ihre Kleider ergoss.
Für einen Augenblick war André desorientiert. Er hatte im Fallen die Brille verloren. Nur mühsam kam er zwischen dem Bistrotisch und dem Roller, der auf ihn gekippt war, auf die Beine. Mit zusammengekniffenen Augen sah er gerade noch, wie der Asiate ein Mountainbike schnappte und sich auf den Sattel schwang. Behände schlängelte er sich durch das Chaos aus abgestellten Fahrrädern, Parkscheinautomaten, Schildermasten und parkenden Autos auf die Busspur.
André spürte unbändigen Zorn in sich aufsteigen. Was fiel diesem Typen nur ein, ihn einfach umzustoßen und ihn vor den kompletten Bistrobesuchern derart bloßzustellen. Er sah rot. Das Limit des Erträglichen war für heute endgültig überschritten.
»So nicht, Freundchen!«, schrie er zornig mit verbissenem Gesicht. Er ergriff seinen Roller. Ohne zu zögern, holte er Schwung und nahm die Verfolgung auf. In einer halsbrecherisch engen Kurve zirkelte er um die Ecke, zerrte den Scooter über den Bordstein. Er streifte den Parkscheinautomaten und riss mit dem Ellbogen beinahe den Seitenspiegel eines Cabriolets ab. Eine Reihe Fahrräder kippte wie aufgestellte Dominosteine zur Seite. Mit vor Anstrengung und Wut geröteten Wangen schaffte er es, sich mit dem Roller auf der Fahrbahn hinter den Asiaten zu bringen. Im Zornesrausch verdrängte er alles um sich herum. Irina schaute ihm verwundert und überfordert hinterher. Was tat er da nur? Was für ein Chaos hatte er im Dolceamaro hinterlassen? Die Kellnerin tobte und forderte ihn auf zurückzukommen.
Doch er hatte nur noch eines im Sinn. Er wollte diesen merkwürdigen Grobian einholen. Es war zu seiner privaten Mission geworden, der er alles unterordnete. Mit weit ausholenden Fußschwüngen versuchte er, dem Gefährt unter sich mehr Fahrt zu geben und trieb es an wie ein stures Maultier.
Ein Pkw hatte sich vor den Flüchtigen gesetzt und ihn zum Abbremsen gezwungen. Nur drei Fahrradlängen lagen noch zwischen ihnen. Der Asiate trat mit aller Kraft in die Pedale, um wieder Fahrt aufzunehmen. André drückte den kleinen Gashebel, der sich bedenklich unter dem Daumen bog, in die Maximalstellung. Er würde heute nicht noch einmal der belächelte Verlierer sein. Er würde diesen Rüpel stellen, koste es, was es wolle.
Schnell hatten sie gut 50 Meter zurückgelegt. Rechts neben ihnen lag bereits das Kongresszentrum Rosengarten mit der roten Sandsteinfassade. Davor staute sich der Verkehr. Ein Taxifahrer half umständlich einem älteren Fahrgast aus dem Wagen. Der Asiate bremste scharf ab. Zu spät, er riss den Lenker herum und wendete stark schwankend. André erging es nicht besser. Entschlossen stemmte er den Fuß in den Asphalt, um nicht in das Heck des Taxis zu prallen. Er spürte, wie der raue Straßenbelag unter seinen Sohlen entlangschabte und ihm den Absatz vom Schuh hobelte. Er kam zum Stehen, stolperte und zerrte den Scooter in die Gegenrichtung.
Die zweispurige Ringstraße, die um den Wasserturm und die ihn umgebende Parkanlage verlief, war eine Einbahnstraße. Zu Andrés Entsetzen befuhr der Flüchtige die hochfrequentierte Straße nun in entgegengesetzter Richtung.
»Verdammt«, stöhnte André. Bei dem gewagten Wendemanöver musste ein hinter ihm fahrendes Auto scharf bremsen.
Wieder vergrößerte sich die Distanz zwischen ihnen. Auf lange Sicht würde André das ungleiche Rennen verlieren. Während der Roller bei 25 Stundenkilometern abgeregelt war, kam man mit einem Rad auf freier Strecke deutlich schneller voran.
Glücklicherweise war die Straße alles andere als frei. Wie auf eine Perlenschnur gereiht kam ihnen Auto um Auto in dichter Folge entgegen. Eng quetschten sie sich am Fahrbahnrand an hupenden Autos und ihren fluchenden Fahrern vorbei. Wenigstens für den Moment gab es für den Asiaten vor ihm kein Entrinnen. Links fuhren die Autos, und rechts war der Bürgersteig durch eine Kette abgegrenzt. Abzubremsen, abzusteigen und das Rad darüber zu wuchten, würde viel zu lange dauern und André die Chance geben, ihn zu ergreifen.
Gerade bremste der Flüchtige vor ihm mit quietschenden Reifen. Ein wuchtiges SUV kam, ohne Anstalten zu machen auszuweichen, auf ihn zu. André schloss auf. Der Abstand war erneut auf wenige Meter geschrumpft. Für einen Augenblick keimte in ihm die Hoffnung auf, ihn stellen zu können. Ein entschlossener Griff in den Pulloverrücken, und er würde ihn vom Rad zerren. Er versuchte, alles aus dem Roller herauszuholen. Obwohl er den Gashebel in Maximalstellung gedrückt hielt, holte er zusätzlich mit dem Fuß Schwung, auch wenn ihm das jedes Mal Stabilität raubte, und er drohte, das Gleichgewicht zu verlieren.
Sie erreichten den Scheitelpunkt der Ringstraße, dort, wo die vierspurige Augustaanlage auf den Friedrichsplatz stieß. Die Straße verengte sich. Am Fußgängerübergang vor ihnen endete die Begrenzungskette. Hier war einer der Hauptzugänge zum Park, der deutlich tiefer als das Straßenniveau den Wasserturm umgab.
Unvermittelt stoppte der Asiate, sprang vom Rad und schnappte nach dem Lenker des Rollers, den er mit einem Ruck querstellte. André war völlig überrascht und konnte der Aktion seines Kontrahenten nichts entgegensetzen. Den Gesetzen der Schwerkraft folgend kippte der Roller in voller Fahrt vornüber und riss André mit sich aufs Pflaster.
Er fing sich mit den Händen ab, bevor es ihn auf den Asphalt riss. Der ihm entgegenkommende Kleinbus bremste scharf. Der ihm nachfolgende Pkw fuhr, begleitet von lautem Hupen, auf. André spürte, wie seine Knochen und Sehnen in den Armen überdehnt wurden. Völlig unter Schock, noch immer von der fixen Idee besessen, den Flüchtenden zu fassen, rappelte er sich auf. Auch dem Asiaten war es nicht besser ergangen. Beim Versuch, sich wieder aufs Rad zu schwingen, kam er ins Schlingern und stürzte ebenfalls. Andrés Gehirn hatte alles um ihn herum ausgeblendet. Selbst die stark blutenden Handflächen, mit denen er den Sturz auf der rauen Straßendecke aufgefangen hatte, schien er nicht zu bemerken. Ohne zu realisieren, dass das Vorderrad des Rollers grotesk deformiert abstand, zog er das marode Gefährt mit sich und folgte dem Flüchtigen.
Dieser war erneut aufs Fahrrad gesprungen und strebte dem Treppenabgang zum Park entgegen. Ohne zu zögern, trat er in die Pedale und fuhr kurzerhand über die flachen Treppenstufen nach unten. André folgte ihm noch ein paar Schritte bis zum Ende der neben dem Abgang terrassenförmig in den Park gebauten Plattform. Rasend vor Zorn über die Boshaftigkeit, mit der ihn der Fremde vom Roller geholt hatte, schleppte er seinen geschundenen Körper bis ans Geländer der Terrasse. Er hatte verloren. Zum wiederholten Mal hatte er heute den Kürzeren gezogen. Unmöglich würde er mit dem havarierten E-Scooter oder laufend diesem Typen hinterherkommen. Der hatte in halsbrecherischem Tempo den Fuß der Treppe erreicht. Doch als er zu früh den Lenker des Rads nach links riss, stürzte er erneut. André starrte wie gebannt auf ihn, wie er sich direkt unter ihm aufrappelte. In einem verzweifelten Affekt stemmte er mit seinen ramponierten Armen den Roller hoch und warf ihn kurzerhand über die Balustrade nach unten.
Wunden lecken
Samstag, 6. Juli 2019, 13.35 Uhr
André war ganz schummerig zumute. Eine Hand umklammerte grob seinen lädierten Oberarm und ließ ihn laut aufstöhnen.
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte ihn eine knarzige Männerstimme an. Wie in Zeitlupe drehte er den Kopf, sein Nacken schmerzte, hinter ihm erkannte er den älteren der beiden Polizisten von vorhin.
»Den, den da unten müssen Sie verhaften!«, stöhnte er kraftlos. Dem Asiaten schien es nicht viel besser zu gehen als ihm. Er kauerte noch immer auf dem Boden. Neben ihm kniete der andere der beiden Beamten.
André versuchte halbherzig, sich dem Griff des Uniformierten zu entwinden.
»Freundchen, du bleibst schön hier. Ich weiß ja nicht, was mit dir los ist, ob du getrunken oder gekifft hast oder einfach nur bescheuert bist, aber eines verspreche ich dir: Dieser Tag wird für dich in einer Zelle enden.«
André schwieg. Er war noch zu benommen, um die völlig chaotische Situation zu überblicken.