bin da Quirl«, waren seine ersten Worte gewesen. Schon hatte er in Andrés Augen verloren. Er mochte es nicht, wenn ihn Fremde beim ersten Kontakt gleich duzten. Für eine solche Vertraulichkeit bedurfte es einer längeren Phase der Annäherung und der gegenseitigen Zuneigung. Im Übrigen stand es dem Jüngeren nicht zu, diesen ersten Schritt einfach so zu machen.
Als Quirin ihm dann noch erzählt hatte, dass er im Herbst ein Studium an der Uni in München beginnen wolle, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Deshalb hatte Irina vor ein paar Tagen auf den Seiten der Ludwig-Maximilians-Universität herumgesurft. André war sich sicher, dass auch sie beabsichtigte, ihren Studienort zu wechseln. Schon in ein paar Wochen würde sie das Mietverhältnis zu ihm aufkündigen und ihn verlassen, um Quirin nach München zu begleiten. Und dann war da noch das Telefonat von heute Morgen. Sie war ungewohnt albern, kicherte, ständig hörte er nur dieses »Quirl, Quirl, Quirl«, wie sie ihn scherzhaft nannte. Dann diese blöden Scherze auf Andrés Kosten. Wie hatte sie ihn doch gleich tituliert: »Mein alter Mann-vor-Ort«. Wie vertraut sie mit ihm umging. Dieses dämliche »Pfiat di, Bussi« zum Abschied ging ihm nicht aus dem Kopf.
All dies hatte André in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Er fühlte sich hintergangen, zurückgelassen und nicht ernst genommen. Und das nach allem, was sie schon gemeinsam erlebt hatten. Die negativen Emotionen legten sich wie eine schwere, nasse Decke über ihn und zwangen ihm trotz des warmen Wetters eine innere Kälte auf. Er verlor sich in trüben Gedanken, seine Glieder waren bleiern, jegliche Aktivität und aller Tatendrang waren aus ihm gewichen.
»Mach schon, der Zug wird nicht auf uns warten«, flötete sie von unten zu ihm in sein Zimmer. Noch immer stand er unschlüssig vorm Kleiderschrank. Er wollte etwas anziehen, was ihn jugendlich und elegant zugleich erscheinen ließ. Ihn übermannte die Peinlichkeit, sich eingestehen zu müssen, dass er mit diesem vor Kraft und Elan nur so strotzenden Naturburschen konkurrieren wollte.
*
Kurz darauf standen sie auf dem Bahnsteig des Speyerer Hauptbahnhofs.
Auch das noch. Er hatte sich mit der Abfahrtszeit auf der Bahn-App vertan und nicht berücksichtigt, dass am Samstag die Züge in einer sparsameren Taktung fuhren als unter der Woche. Nun mussten sie sich hier 20 Minuten um die Ohren schlagen und herumtrödeln, bis der Zug Richtung Mannheim endlich abfuhr. Die Überraschung für sie – nämlich eine eigens für sie beide organisierte Privatführung durch die Ausstellung im Gebäude des Kunstvereins auf der Mannheimer Augustaanlage – würden sie wohl versäumen. Der Zorn darüber, dass er es verpatzt hatte, kroch wie ein bösartiger Lindwurm durch seinen Magen.
*
»Mach schon, alter Mann!«, feuerte sie ihn an, als sie die Mitte der Augustaanlage erreicht hatten. Im Zug hatte er ihr von der geplanten Führung erzählt. Sie hatte sich tatsächlich gefreut und ihn ermuntert, ein Taxi zu nehmen, um es doch noch zu schaffen. Aber es war wie verhext. Wo rechts, wenn man aus dem Bahnhof trat, sonst gut 20 Taxis in mehreren Reihen standen, war heute kein einziges gewesen. Also waren sie losgelaufen. Sie hatte ihn angetrieben, und er war wie ein Hündchen hinter ihr her gelaufen. Er war mit den eleganten Lederschuhen nicht schnell genug, um mit ihr Schritt zu halten.
Als sie beim Kunstverein ankamen, der fast am Ende der etwa einen Kilometer langen Augustaanlage lag, war er verschwitzt und völlig ausgepumpt. Ihr Privatführer war längst gegangen, und ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf eigene Faust durch die Ausstellungsräume zu schlendern.
Während Irina unbefangen von Bild zu Bild schlenderte und es sich nicht nehmen ließ, André gegenüber, jedes einzelne Exponat zu kommentieren, war er in sich gekehrt und schwieg.
»Oh Mann! Du wirkst so dynamisch wie eine Schildkröte. Soll ich dir die Namen der Bilder vortanzen, dass du reagierst, oder geht es dir nicht gut?«
»Nein, alles okay, ich ärgere mich nur, dass das mit der Führung nicht geklappt hat.«
»Typisch, wenn was nicht nach Plan geht, bist du gleich eingeschnappt. Wir können uns doch die Ausstellung auch so ansehen, und in diesem Katalog hier kann man das, was der Führer gesagt hätte, einfach nachlesen. Hör endlich auf zu schmollen. Das mag ich gar nicht an dir.«
Sie hatte ja recht. Er war ein sturer Pedant, der es nicht ertrug, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen ablief. Wahrscheinlich hätte sie jetzt lieber den lustigen Quirin an ihrer Seite – besser als einen Grübler wie ihn.
*
45 Minuten später standen sie wieder vor dem Flachbau des Kunstvereins. Ihren Besuch hatten sie zunehmend schweigend hinter sich gebracht. Mehrfach hatte sie versucht, ihn aufzumuntern.
Aber er hatte sich beharrlich dem Missmut hingegeben.
»Und nun?«, fragte sie genervt. »Ich hab Hunger wie ein Bär.«
»Wir können ja essen gehen«, erwiderte er kleinlaut.
»Wie wär’s mit dem Dolceamaro am Wasserturm?«, antwortete sie schnell. So als fürchtete sie, er würde sein Angebot zurückziehen.
»Wenn du willst«, gab er einsilbig zurück.
»Schau, und einen fahrbaren Untersatz haben wir auch gleich hier.« Dabei deutete sie auf zwei jener Elektroroller, die neuerdings das Stadtbild Mannheims an jeder Ecke zierten.
»Was willst du damit? Du weißt doch gar nicht, wem die gehören.«
Irina stöhnte nur. »Mann, bist du wieder retro. Liest du keine Zeitung? Kaum nimmt man dich in eine größere Stadt mit, bist du hilflos wie ein Kleinkind.«
Das saß. Sonst hätte André sich über Irinas Spitzzüngigkeit insgeheim amüsiert, heute tat sie ihm weh.
»Entschuldigung, dass ich mich nicht für Kinderspielzeug interessiere. Ich bin bereits etwas aus dem Rolleralter rausgewachsen.«
»Roller«, sagte sie kopfschüttelnd. »Schon mal was von E-Scootern gehört?«
»Nein, brauch ich auch nicht. Mein Fahrrad reicht mir.«
»Aha, und wo ist dein Fahrrad?«
»Was soll die blöde Frage?«
Ohne auf seine mürrische Erwiderung einzugehen, zückte sie ihr Smartphone und machte sich daran zu schaffen.
»Voilà, du hast eine Einladung für 15 Minuten kostenloses Rollerfahren!«
»Rollerfahren? Hier? Jetzt? Ich? Du spinnst wohl.«
»Alter Mann, sei kein Saurier, gib schon dein Smartphone her!«
Dabei riss sie ihm sein Handy aus der Hand und begann, darauf herumzuwischen.
»Was tust du da?«
»Na, die E-Scooter-App herunterladen.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit diesem Kinderding fahre?«
»Komm schon, tu’s für mich. Mit Quirin bin ich diese Woche auch schon gefahren.«
»Das passt ja auch zu diesem Jüngling.«
»Und was passt zu dir? Wäre dir ein Rollator lieber?«
Das saß schon wieder tief. André spürte, dass seine Wangen glühten.
»Na dann, wenn dieser Naturbursche das hinkriegt, werde ich es wohl auch schaffen.«
Für einen Augenblick wusste André nicht, wen er mehr mit dieser spontanen Äußerung überraschte – Irina oder sich selbst?
»Wow, du machst es wirklich?« Sie strahlte und hauchte ihm einen kameradschaftlichen Kuss auf die Backe.
»Aber nur, weil du mich so charmant darum gebeten hast«, sagte er und grinste schief.
Irina installierte die App, registrierte ihn mit seiner Kreditkartennummer, die er ihr ohne Widerrede diktierte, und scannte den QR-Code auf dem Lenker des Rollers mit seinem Smartphone ein. Nun konnte es losgehen.
Jetzt nur nicht zögern, dir nur keine Blöße geben, dachte André, nahm den Scooter und klappte den Ständer ein.