Uwe Ittensohn

Festbierleichen


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mit einem Taschentuch das pulsierend aus der Wunde spritzende Blut zu stoppen.

      Fortan nahm Berger alles um sich herum nur noch wie in Trance wahr. Die ausgerauchte Zigarette, die dicht an seinem Kopf vorbei auf den Bauschutt geschnippt wurde. Den unbarmherzigen Griff an seinem Kragen, der ihm die Luft abschnürte. Die Kaltblütigkeit, mit der ihn der Fremde über den mit Steinbrocken und Schutt übersäten Fußboden vor die Haustür schleifte und ihn wie einen Kartoffelsack einfach auf dem Bauch liegen ließ. Berger hörte, wie er die alte Holztür ächzend ins Schloss drückte. Zum Abschluss packte er ihn im Genick und schob sein Gesicht ruckartig so dicht an den Türgriff, als wollte er ihm daran die Nase zertrümmern.

      »Schau her!«, herrschte er ihn an, steckte einen Dietrich ins Schloss und brach ihn ab.

      »So, jetzt kannst du es dir sparen, nach deinem dürren Buchhalterfinger zu suchen. Bis du einen gefunden hast, der die Tür aufkriegt, haben ihn längst die Ratten gefressen. Und überleg erst gar nicht, ins Krankenhaus zu laufen. Man fragt dort zu viel. Und von deinen Antworten würde ich irgendwann hören, und dann wärst du tot. Ein Druckverband, und in zwei Tagen ist alles gut. Sei keine Memme, denk dran, ich habe ein Auge auf dich!«

      In diesem Augenblick näherten sich Schritte. Ein einsamer Fußgänger kam auf sie zu. Eine unbestimmte Hoffnung keimte in Berger auf.

      »Komm, Briederchen, der letzte Wodka war zu viel fier diiech«, lallte Bergers Peiniger leutselig. Er stützte ihn. Dabei legte er wieder seine Schraubzwingenhand um dessen Kehle und drückte sich Bergers Gesicht fest an die Brust, sodass ihn niemand erkennen konnte und er außerstande war, um Hilfe zu rufen.

      Berger würgte. Die Schmerzen, dazu der scharfe Geruch nach Mentholtabak und das aufdringliche Rasierwasser forderten ihren Tribut.

      Der Fußgänger, dem ein knurrender Pitbull an einer Leine folgte, schüttelte nur den Kopf.

      Schweinsbraten

      Montag, 25. Juni 2019, 12.35 Uhr

      »Und des soi a Schweinsbron sei?«, sagte Quirin und stocherte lustlos in der zerfaserten Fleischscheibe vor sich.

      »Wow, der Herr ist wohl ein Feinschmecker? Das kannst du dir in der Mensa abschminken. Was erwartest du für drei Euro?«

      »An echt’n Schweinsbron hoid.«

      »Sei lieber froh, dass ich dich mit meinem Studentenausweis hier reingeschmuggelt habe. Jeden Tag ein durchgeweichtes belegtes Brötchen vom Supermarkt ist auch keine gastronomische Sensation und kostet fast genauso viel.«

      »Bei meina Muadda schmeckt’s jedenfois bessa«, beharrte Quirin.

      »Muttersöhnchen!«, sagte Irina und lächelte ihn dabei an. »Wenn du mir heute Abend noch mal brav dieses ganze Zeug mit Stammwürze und ober- und untergärigen Biersorten erklärst, lade ich dich mal zu mir nach Speyer ein. Dann koche ich dir einen echten Borschtsch, so wie ihn mir meine Mutter beigebracht hat. Das gibt’s eh nie bei uns, weil mein Mitbewohner ein Veggie ist.«

      Quirin horchte auf. »Mitbewohna?«

      »Ja, ich wohne bei ihm im Haus.«

      Er zögerte. »Du bischt? Also er is …?«, stammelte er unbeholfen.

      »Er ist ein prima Kerl, und wir verstehen uns gut.« Irina kostete Quirins fragenden und enttäuscht wirkenden Gesichtsausdruck aus.

      »Aber jetzt mal was ganz anderes«, wechselte sie das Thema. »Ist dir eigentlich bewusst, dass die eine Riesenmenge Bier nach Russland exportieren? Und nach China auch. Die haben sogar eine spezielle Abfüllanlage für diese komischen 0,95-Liter-Dosen.«

      Quirin nickte nur. Sein Mienenspiel verriet ihr, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte.

      »Was ist? Du guckst, als wär dein Goldfisch eingegangen.«

      »Es is … Es is wega Dahoam. Wenn mia so a Abfüllanlag’n hätt’n, de des kannt, dann hätt’n mia bessare Chancen, unsa Bier im Ausland zum vermarkt’n. De hom do einfach ois. Neie Sudkessl, große Lagertanks, neie Abfüllanlag’n und a riesig’s Lager. Dahoam is ois oid und nimma wettbewerbsfähig.«

      »Wie? Ihr habt eine Brauerei?«, fragte Irina überrascht.

      »Ja, scho no, aba wenn des so weida geht … mei Onkel, da Jonny, macht se hie. Er versteht nix vom Bierbrau’n.«

      »Und was treibst du hier, wenn ihr zu Hause eine eigene Brauerei habt?«

      »Wega meim Großvater. Er wui, dass i mi umschaug, wias andere mach’n. Damit i dann füa unsa Brauerei wos leana ko.«

      Irina konnte förmlich beobachten, wie in den letzten Minuten sämtliche Farbe aus dem vitalen rotbäckigen Gesicht des Jungen gewichen war. Sie glaubte sogar zu erkennen, dass seine Augen wässrig wurden.

      »Und du meinst, du kannst eurer Brauerei helfen?«

      »Na«, sagte Quirin und vergrub sein Gesicht in den Händen.

      Irina legte behutsam einen Arm um seine Schultern.

      *

      Ernst Berger hatte Angst. Angst um seine Hand, in der sich eine heftige Entzündung, ausgehend vom kurzen Stumpf des kleinen Fingers, pulsierend ausbreitete. Angst um seine Familie und Angst um seine Existenz.

      Er war matt und hatte den ganzen Sonntag in einem ruhelosen Halbschlaf zugebracht. Fieberträume hatten sich mit Angstfantasien abgewechselt. Wie konnten er und seine Familie lebend aus der Sache rauskommen? Sollte er mit der Polizei Kontakt aufnehmen? Aber was dann? Seine Frau, seine Tochter, wie sollte er ihnen erklären, was er vor zwei Jahren in diesem Bordell in Speyer gesucht hatte? Und dieser Russe. Er wusste zu viel und war zu kaltblütig, um daran zu zweifeln, dass er seine Drohungen wahrmachen würde.

      Aber wie sollte er dessen Forderungen erfüllen? Er war Buchhalter. Ein paar Tausender verschwinden zu lassen, Rechnungen zu manipulieren, all das war kein Problem. Aber wie sollte er Dosen mit irgendwas befüllen, das ihm der Russe liefern wollte? Er hatte keine Ahnung von den Abläufen in der Anlage. Aber wieso war dieser Kerl ausgerechnet auf ihn gekommen? Warum nicht auf den Braumeister oder den Techniker, der die Abfüllanlage bediente? Sie wären weitaus geeigneter, um so etwas durchzuziehen.

      Bevor er eine Antwort finden konnte, fiel er wieder in fiebrige Träume von schwärenden Wunden und Handamputationen.

      Qualitätskontrolle

      Montag, 1. Juli 2019, 10.15 Uhr

      Karl Gabarek war ein kleiner, spindeldürrer Mann. Alles an ihm war durch einen jahrzehntelang praktizierten übermäßigen Tabakkonsum gezeichnet. Seine Haut war faltig und fahl, das Weiß seiner Augäpfel wirkte schmutzig und war von unzähligen rötlichen Äderchen durchzogen. Atem und Kleidung verströmten einen penetranten Geruch nach kaltem Rauch.

      Gerade deutete er mit einem von Zigarettenteer gelblich verfärbten Finger auf eine etwa drei Zentimeter lange Schabe, die eilig über den grauen Steingutboden der Restaurantküche krabbelte.

      Dem Eigentümer und Küchenchef des Pfalzhofes neben ihm entgleisten die Züge. Hitze stieg in den Kopf des Mannes und verwandelte ihn in einen roten Ballon. »Aber so was gab’s noch nie in meiner Küche«, setzte er zur Verteidigung an.

      Gabarek blieb ruhig. Aus Erfahrung wusste er, dass es in Momenten wie diesen gut war, Gelassenheit auszustrahlen und dem Betroffenen die Zeit zu geben, sich das herannahende Unheil auszumalen. Dies löste bei seinen Kunden weit mehr aus als die strengen Worte eines Beamten.

      »Sie müssen mir glauben, hier ist alles picobello. Wir halten uns penibel an den Reinigungsplan. Wir hatten noch nie Ungeziefer.«

      Gabarek nickte nur und legte mitfühlend die dürre Hand mit den gelben Fingern auf den Arm des beleibten Kochs. Interessant, wie das immer nach dem gleichen Schema ablief: die Überraschung, das Nicht-wahrhaben-Wollen, das Verhandeln und schließlich die Einigung. Ein vorhersehbares, kalkulierbares Ritual.

      »Ein Schabenbefall in einer gastronomischen