Uwe Ittensohn

Festbierleichen


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      Montag, 17. Juni 2019, 6.40 Uhr

      Irina fröstelte. Obwohl man für heute warmes Frühsommerwetter vorausgesagt hatte, war die Nacht frisch gewesen. Zudem verunsicherte sie das Neue, das ihr in den nächsten zwei Monaten bevorstand. Nach einer erholsamen Pfingstwoche, die sie zum Ausschlafen nach dem Prüfungsstress an der Uni genutzt hatte, sollte heute ihr Praktikum beginnen. Nach langem Abwägen hatte sie sich für eine Tätigkeit bei der Brauerei Eichbaum in Mannheim entschieden. Eigentlich war alles nach ihrem Geschmack. Ein mittelständisches Unternehmen mit knapp 400 Beschäftigten, in dem es noch familiär zuging und das dennoch zukunftsorientiert arbeitete. In den letzten Jahren hatte man es geschafft, sich – an vielen großen Brauereien vorbei – erfolgreich die ausländischen Märkte zu erschließen. Der springende Punkt bei der Sache war, dass man im Moment ausgerechnet nach Russland expandierte und sich im Vorstellungsgespräch ganz entzückt über ihre muttersprachlichen Russischkenntnisse gezeigt hatte. Sie würde sich also nützlich machen können und nicht, wie sie es oft von anderen Praktikanten in ihrem Jahrgang hörte, in der Ecke sitzen und Imagebroschüren oder Arbeitsanweisungen lesen müssen. Dazu war sie viel zu umtriebig und praktisch veranlagt.

      Nervös ging sie vor der breiten Einfahrt, die noch mit einem riesigen Schiebetor verschlossen war, auf und ab. Bei jeder Runde warf sie einen flüchtigen Blick auf das Pförtnerhäuschen, das, hätte es nicht die grüne Dachverblendung in der Unternehmensfarbe und mit dem Logo des stilisierten Eichbaums gehabt, auch gut an der russischen Grenze hätte stehen können. Die Dame darin schien nicht daran zu denken, das Tor zu öffnen. Kein Wunder, schließlich war Irina auch eine gute Viertelstunde vor dem vereinbarten Termin hier aufgeschlagen.

      Aus dem Augenwinkel nahm sie einen jungen Mann wahr. Unschlüssig schlurfte er auf dem Gehweg der Käfertaler Straße entlang, verweilte an jedem der Eingänge und Tore des weitläufigen Werksgeländes und glich sie mit einem Papier ab, das er in Händen hielt.

      Als er näher kam, musterte er Irina unsicher. »Kean Sie do dazua?«, fragte er mit kehliger Stimme.

      Irina starrte ihn fragend an. Sie hatte rein gar nichts von dem Kauderwelsch verstanden.

      »Exkjuse mi, du ju wörk hier?«, versuchte es der junge Mann erneut.

      Wieder musste sie grinsen. Deutsch konnte er nicht und Englisch offensichtlich auch nicht. Aus welchem Kral war wohl dieser komische Vogel geflohen?

      »Wot’s so funny? Wei du ju laf ät mi?«

      »Sorry, I’m Irina from Russia.«

      Der junge Mann schien nun völlig aus dem Konzept gebracht. »Sorry, ei dont schpiek Russian. Ei äm from Bavaria.«

      Irina konnte sich nun nicht mehr zurückhalten und prustete los. »Dann red doch Deutsch, du komischer Vogel!« Dabei streckte sie ihm freundlich die Hand entgegen.

      Der junge Mann errötete und reichte ihr nun seinerseits die Hand. »I hob ma hoid denkt, oiso … i bin da Quirl.«

      »Quirl? Was ist das denn? Arbeitest du nebenberuflich als Mixer?«

      »Na, so song meine Freind hoid zu mia.«

      Irina schüttelte den Kopf. »Wo kommst du denn her? Wer nennt denn seinen Freund Mixer?«

      »Quirl«, verbesserte er. »I bin aus Neiploching.«

      »Neiwas? Leider ist mir diese Metropole noch nicht untergekommen.«

      Er schaute nur betroffen. Irgendwie tat er Irina mit seinen großen braunen Augen, die sie nun anschauten, als gehörten sie einem treuen Hund, leid.

      »Sorry. Ich war wohl …«, begann sie.

      Er winkte ab. »Basst scho.«

      »Und was wolltest du mich fragen?«

      »I woit bloß wissn, wo’s do nei geht?«

      »Nei geht’s hier, wenn die Dame da drin die Güte hat, uns zu öffnen.« Irina wies zum Pförtnerhäuschen.

      »Du bist aba fei koa Brauerin.« Er musterte Irina abschätzig.

      Sie lachte laut auf. »Wieso? Sieht man mir das an?«

      »Na, äh, des hoaßt, äh …«, stammelte er mit geröteten Wangen.

      Irina bedauerte sogleich, ihn derart gefoppt zu haben. So unbeholfen, wie er war. Er wirkte überfordert. Wahrscheinlich war er in seinem Leben noch nicht oft in eine fremde Stadt gekommen. Die Situation erinnerte sie daran, wie sie vor vier Jahren zum ersten Mal in Mannheim vor der Uni stand und niemanden hatte, der sie ein wenig eingeführt hätte.

      »Mir hat jemand gestern am Telefon erklärt, dass ich mich hier an dieser Pforte melden muss. Der Praktikumsbetreuer wird mich hier abholen. Bei dir ist es bestimmt ähnlich. Und nein, ich bin keine Brauerin. Ich studiere hier an der Uni Betriebswirtschaftslehre und mache bei Eichbaum ein zweimonatiges Praktikum in internationalem Marketing.«

      Die Züge des Jungen entspannten sich. Dankbar nickte er. »Und i wui heia im Heabscht mei Studium zum Diplom-Braumoasta an da TU in Minga, also München moan i, ofanga.«

      Irina entging nicht der Stolz, mit dem er die Worte »Diplom-Braumeister« aussprach.

      »I hob scho a Lehr zum Brauer und Mälzer g’macht und mecht ma des ez amoi oschaun, wia de do braun.«

      Allmählich gewöhnte sich Irina an den merkwürdigen Dialekteinschlag und verstand schon weitgehend, was er sagte.

      Da ertönte plötzlich ein Signal, und das mächtige Eisentor schob sich zur Seite. Der junge Mann hastete als Erster durch und eilte zum Pförtnerhäuschen. Irina lief ihm hinterher und musterte ihn. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er eine Trachtenweste trug. Unwillkürlich musste sie an ihr Dirndl denken, das sie vorletzten Samstag, als sie für den Brezelköniginnen-Contest aufgetreten war, getragen hatte. Fesch war er, wie er da mit seinem kräftigen Körper und knackigen Hintern vor ihr herlief.

      Felco

      Samstag, 23. Juni 2019, 0.55 Uhr

      Ernst Berger war ein schreckhafter Mann. Linkisch schaute er alle 50 Meter über die Schulter, ob ihm jemand folgte. Zu dieser Tageszeit wäre er nie auf die Idee gekommen, sich in diesem Stadtteil zu bewegen. Dabei war der Mannheimer Jungbusch nicht mehr das, was er noch vor zehn Jahren gewesen war. Ursprünglich waren die schönen alten Häuser hier im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts für reiche Reeder und Kapitäne erbaut worden. Nach dem Niedergang der Rheinschifffahrt in den 70er-Jahren waren sie zunehmend heruntergekommen. Amüsierlokale, Prostitution und Drogenhandel hatten sich hier breitgemacht – zum sozialen Brennpunkt war der Jungbusch geworden. Doch nun siedelte sich allmählich eine neue Bevölkerungsgruppe hier an. Die Studenten der Uni und der zahlreichen anderen hier beheimateten Hochschulen – wie der unweit von hier gelegenen Pop-Akademie – machten sich mit ihren Wohngemeinschaften in den oft großzügig geschnittenen Altbauwohnungen breit. Ihnen folgte ein bunter Mix aus Szenekneipen und kleinen Läden. Der Stadtteil war im Aufwind und wurde bei der jungen urbanen Gesellschaft immer beliebter. »Gentrifizierung« nannte man das neuerdings.

      Dennoch gab es nachts noch genügend finstere Gestalten, die die Gegend für Berger, den ängstlichen Buchhalter bei der Brauerei Eichbaum, zur No-go-Area machten. Er hatte am Rand der Hafenstraße geparkt und marschierte schnellen Schrittes durch die um diese Tageszeit noch trister wirkende Böckstraße mit ihrem verfallenen Mühlengebäude gleich am Straßenanfang. Er hatte sich bewusst für diese ruhige Straße entschieden und nicht die belebtere Jungbuschstraße mit der legendären Onkel-Otto-Bar und den anderen um diese Zeit stark frequentierten Kneipen genommen. Er wollte nicht, dass man ihn hier sah.

      Vor einem Haus türmten sich alte Matratzen und ein Sessel mit aufgeplatztem Polster. Wilder Müll aus den Wohnungen der vier- bis fünfstöckigen Gründerzeithäuser, einfach am Straßenrand entsorgt, war hier keine Seltenheit. Vor ihm huschte eine fette Ratte über die Straße und verschwand in einem offenen Kellerfenster. Er beschleunigte sein Tempo und bog um die Ecke in die Beilstraße. Hinter sich hörte er unregelmäßige Schritte.