Petra Mehnert

Die Messermacher


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spukte nun noch in seinem Kopf umher? Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren und allmählich wurde ihm immer klarer, wer ihn da mit der Macht ihrer Gedanken rief: Nora! Das arme Kind musste ja total verstört sein! Wie hatte er nur so egoistisch sein können? Womöglich hatten sie oder ihr Bruder die tote Adele gefunden. Oh mein Gott, meine armen Enkel! Das konnte er nie mehr gutmachen! Was würden sie nur von ihm denken, dass er sie so im Stich gelassen hatte? Dass sie in ihm den Mörder seiner Frau sehen könnten, darauf verschwendete er keinen einzigen Gedanken. Er musste sich melden, und zwar sofort! Aber wie anfangen? Was sagen und wie erklären, warum er einfach abgehauen war? Er brauchte zuerst einen Kaffee! Doch er hatte noch gar nichts eingekauft. Ob er wohl seine neue Bekannte, diese Helene danach fragen sollte? Oder doch zuerst anrufen, um seine Lieben zu Hause nicht noch länger im Ungewissen zu lassen?

      Als er sich jedoch dazu durchgerungen hatte, um wieder in Schwung zu kommen, einen Kaffee zu trinken, erledigte sich die Sache von selbst. Denn Helene bog mit ihrem Hollandrad und ihrem Hund an der Seite gerade um die nächste Ecke und war verschwunden. Also doch kein Kaffee, sondern gleich der Anruf. Doch daraus wurde auch nichts, denn der Akku seines uralten Handys war leer. Sein neues Smartphone hatte er jemand anderem gegeben, aber warum eigentlich? Auch das konnte er sich momentan überhaupt nicht erklären. Sein Gedächtnis spielte ihm in dieser Sache wirklich einen üblen Streich!

      Nun hatte er zwei Möglichkeiten: Entweder Handy aufladen und warten (aber hatte er das Ladegerät denn in seiner blinden Flucht mitgenommen?) oder irgendwo von einem öffentlichen Fernsprecher aus anrufen? Vielleicht wurde ja schon nach ihm gefahndet und es wäre sicherer, nicht mit dem Handy zu telefonieren? Da fiel ihm ein, dass seine Familie ja noch gar nicht wusste, dass er das Smartphone nicht mehr hatte. Seine Familie rief ihn so gut wie nie auf diesem neuen Gerät an, weil er es sowieso nicht zuverlässig dabei hatte. Deshalb hatte er gar nicht weiter darüber nachgedacht, als er seinem Bekannten sein Telefon gegeben hatte. Wenn er an ihn dachte, wurde ihm sofort wieder schlecht. Was hatte er sich bei der ganzen Aktion eigentlich gedacht? Seine Veranlagung hatte ihn in die unmöglichste Situation gebracht, in die man überhaupt kommen konnte – wie sollte er aus diesem Schlamassel jemals wieder rauskommen?

      Doch bei dem Gedanken an seine sicher total verängstigten Enkelkinder gab sich Reno dann doch einen Ruck und trat den langen Weg ins Dorf zu Fuß an. So hatte er Zeit, sich genau zu überlegen, was er sagen wollte. Die Sonne stand jetzt im Juni zur Mittagszeit strahlend am Himmel und schnell wurde dem gebeugt dahinschlurfenden Mann heiß. Als er nachts aufgebrochen war, war es noch empfindlich kalt gewesen und er hatte ein Sweatshirt angezogen. Das war ihm jetzt deutlich zu warm, aber er hatte kein T-Shirt oder ein kurzärmliges Hemd dabei. Wenn er genauer darüber nachdachte – er hatte überhaupt nichts dabei. Keine Klamotten zum Wechseln, keine Zahnbürste, weder Rasierzeug noch Handtuch. Mechanisch griff er in seine Hosentasche und atmete hörbar auf – wenigstens seinen immer gut gefüllten Geldbeutel mit allen wichtigen Kreditkarten hatte er mitgenommen. Welch ein Glück, dass er daran gedacht hatte. Der Griff zur Geldbörse war anscheinend tief in ihm verwurzelt, denn sogar zum Gassi gehen mit dem Hund hatte er stets seine Börse dabei. Man konnte ja nie wissen …

      Diese Angewohnheit verhalf ihm nun dazu, sich in dem kleinen Ort mit dem Nötigsten zu versorgen. Wie auch in seinem Heimatort Ottenbach gab es hier einen kleinen Tante-Emma-Laden, der auch etwas Kleidung da hatte. In Ottenbach hatten sie sogar einen kleinen Stoffladen, wo man auch ein paar Kleidungsstücke kaufen konnte. Dass momentan allerdings kein Metzger im Ort war und angeblich auch die neue Ärztin wieder aufhören wollte, war nicht so gut für die Gemeinde.

      „Lenk dich nicht dauernd mit anderen Gedanken ab, Reno!“, schimpfte sich der alte Mann leise murmelnd selbst, während er an der Kasse wartete. Nur eine Frau war noch vor ihm und erst jetzt registrierte er die weißen Haare. In diesem Moment drehte sich die Frau um und strahlte ihn an.

      „Reno! Auch hier zum Einkaufen?“, fragte sie, ohne nachzudenken, denn dass er etwas eingekauft hatte, sah sie ja an den vielen Dingen in seinem Korb. Reno jedoch war zu höflich, um so einer dummen Frage große Bedeutung beizumessen und so sagte er nur:

      „Wenn ich gewusst hätte, dass du auch einkaufen musst, hätten wir ja auch mit dem Auto gemeinsam fahren können.“

      „Nein, nein. Ich fahre, zumindest bei diesem herrlichen Wetter, sehr gerne mit dem Rad. Du bist zu Fuß hier, nehme ich an?“, fragte sie freundlich, während sie ihre Sachen einpackte und dann zu der Verkäuferin sagte, sie solle alles bitte aufschreiben. Renos fragenden Blick und den leicht genervten Blick der Verkäuferin ignorierte sie einfach. Mit Blick auf ihren draußen wie verrückt herumhüpfenden Hund verkündete sie:

      „Ich muss los – Amigo hasst es, wenn er draußen warten muss. Man sieht sich …“, und schon war sie weg.

      „Wird Zeit, dass die mal wieder einen Roman verkauft“, murmelte die Verkäuferin mehr zu sich selbst, doch Reno hatte sie genau verstanden. Seine Augen waren zwar nicht mehr ganz so gut, aber seine Ohren schon. Schriftstellerin war sie also, folgerte er aus den Worten der Dame, die nun eifrig seine Waren aus dem Korb zog und alles eintippte. Amüsiert beobachtete er sie, denn es war eine uralte Kasse, ein riesiges schwarzes Ungetüm mit hohen Tasten und einer Kurbel an der Seite. Den Betrag, den er zu bezahlen hatte, konnte er an vier nach oben gehüpften weißen Tasten mit schwarzen Zahlen ablesen. Solche Kassen waren zu seiner Jugendzeit höchst modern gewesen. Es freute den alten Mann, dass es doch noch ein paar solche urige Dinger gab, die sogar noch einwandfrei funktionierten. Beim Klingeln der Kasse sprang die Schublade auf und dieser Ton versetzte Reno wieder in seine Schulzeit. Schon wieder wollte er sich von anderen Gedanken ablenken lassen, doch die Kassiererin holte ihn in die Gegenwart zurück.

      „Haben Sie es nicht kleiner? Auf einen Zweihunderter kann ich nicht rausgeben! Wenn ich ehrlich bin, hab ich so einen noch nie gesehen“, gestand sie kleinlaut. Anscheinend schämte sie sich, das zugeben zu müssen.

      Reno schaute bestürzt in seinen prall gefüllten Geldbeutel und musste feststellen, dass er außer Zweihundertern und sogar einem Fünfhunderter nichts Kleineres dabei hatte. Bedauernd schüttelte er den Kopf.

      „Was machen wir denn nun? Kann man bei Ihnen auch mit Karte bezahlen?“, fragte er hoffnungsvoll, obwohl er nirgends ein Eingabegerät sehen konnte.

      „Nein, das haben wir auch nicht. Also entweder legen Sie die Sachen wieder zurück oder ich lege Sie Ihnen beiseite, Sie gehen zum nächsten Bankautomaten und kommen dann mit kleineren Scheinen zurück.“

      „Wo ist denn der nächste Automat? Ich bin nämlich nicht von hier“, fragte Reno schnell, denn hinter ihm wurden zwei alte Damen langsam ungeduldig. Ja, die Rentner – die hatten nie Zeit!

      „Gleich um die Ecke ist unsere kleine Sparkasse. Da gibt es auch einen Automaten. Soll ich die Sachen also zurücklegen?“, fragte die Verkäuferin nun ebenfalls etwas gereizt.

      „Ja bitte. Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen und entschuldigen Sie nochmals die Unannehmlichkeiten“, sagte er auch mit Blick auf die wartenden Frauen. Wie erwartet erlagen alle drei Damen seinem Charme und sie beteuerten, das wäre doch nicht so schlimm. Mit einem freundlichen Gruß verließ Reno das Lädchen, um draußen sofort wieder den Kopf hängen zu lassen und schwer seufzend den Bankautomaten anzusteuern. Da hatte man nun über tausend Euro in der Tasche und konnte erst nichts damit anfangen! Wo gab`s denn so was? Doch beim Automaten tat sich ihm die nächste Hürde auf, denn er hatte zwar seine Karte dabei, aber die Pin-Nummer vergessen! Er brauchte sie so gut wie nie, da er sein Geld meist am Schalter seiner Hausbank in Ottenbach abholte und dann immer bar bezahlte. Obwohl er kein waschechter Schwabe war, sah er es trotzdem nicht ein, für jede Zahlung mit der Bankkarte Gebühren zahlen zu müssen. Das hatte er nun davon – hier kam er nicht an Geld heran. Doch plötzlich musste er laut lachen und mit Schwung stieß er die Türe zum Schalterraum auf.

      „So schwungvoll heute schon, der Herr?“, fragte eine hübsche junge Dame freundlich. „Was kann ich für Sie tun?“

      „Ich wollte nur schnell einen Fünfhunderter kleinmachen. Können Sie mir den bitte in Fünfer, Zehner, Zwanziger und Fünfziger wechseln?“, fragte Reno hoffnungsfroh und knallte mit einem entwaffnenden Lächeln den lila Schein auf die Theke.

      „Sie