Petra Mehnert

Die Messermacher


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hatte es nur dazu kommen können?

      Warum hatte er sich schon wieder so von seiner Frau drangsalieren lassen? Er hatte es kaum noch ertragen können. Dabei wusste er gar nicht mehr, was sie gesagt oder getan hatte, um ihn derart in Rage zu versetzen, dass er … was?

      Was hatte er gemacht? Hatte er überhaupt etwas getan?

      Er konnte sich nicht mehr genau daran erinnern – nur noch, dass ihre Atmung plötzlich ausgesetzt hatte! Dass es noch dunkel war, das wusste er noch. Der Vollmond hatte den Garten erhellt, das hatte er unbewusst wahrgenommen, als Adele mitten in der Nacht nach ihm gerufen … nein … geschrien hatte und er aus seinem Fernsehsessel aufgefahren war, in dem er wohl eingeschlafen sein musste. Was hatte sie gewollt? Musste sie zur Toilette oder hatte sie nur schlecht geträumt, so wie fast jede Nacht und bei Vollmond am schlimmsten? Auch das wusste er nicht mehr.

      Wütend schleuderte er seinen Stock ins Wasser, nicht merkend, dass der Hund von nebenan schon die ganze Zeit dieses für ihn so interessante Spielzeug nicht aus den Augen gelassen hatte. Kaum schlug das Holzstückchen auf dem Wasser auf, war der Hund auch schon hinterhergesprungen und paddelte nun darauf zu. Es war ein mittelgroßer schwarz-weiß gepunkteter Rüde mit einem schwarzen Ohr und athletischer Figur. Mühelos schwamm das anmutige Tier zu seiner Beute, schnappte sie und brachte sie zum Werfer zurück.

      „Amigo!“, rief eine weißhaarige Frau neben ihm. „Aus!

      Lass den Herrn in Ruhe!“ Mit diesen Worten nahm sie ihrem hübschen Hund das Stöckchen aus dem Maul und reichte es dem ebenfalls weißhaarigen Mann mit der kleinen Nase und den kleinen, traurigen braunen Augen, der es gedankenverloren entgegennahm.

      Was sollte er mit dem Ding? Er hatte es doch loswerden wollen. Warum gab die Frau es ihm zurück? Missmutig schaute er auf und blickte in zwei ungewöhnliche Augen! Eines war hellbraun und das andere eher grün und die Haare der etwas älteren Frau waren wirklich schneeweiß. Sie war braun gebrannt und sah trotz ihres Alters noch sehr attraktiv aus.

      „Entschuldigen Sie, gnädige Frau. Ich wollte Ihren Hund nicht aufscheuchen. Tut mir leid.“ Damit wollte er sich schon wieder abwenden, doch die Frau sagte beschwichtigend:

      „Sie können doch nichts dafür, dass mein Amigo hinter allem herrennt, was vor ihm wegläuft oder –fliegt. Seinen Jagdtrieb krieg ich einfach nicht aus ihm raus! Wer weiß, welche Rassen sich in ihm vereinigt haben?“, lachte sie und wuschelte ihrem Mischling dabei den Kopf. Sofort begann dieser, wie aufgezogen um sie herum zu hüpfen. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn loszuwerden und so warf Reno den Stock nochmals in Richtung See, diesmal aber so weit, wie er nur konnte. Das sollte diesen verrückten Hund eine kurze Weile beschäftigen. Die wollte er nutzen, um sich vorzustellen, denn seine gute Erziehung war stärker, als der Wunsch, endlich allein zu sein und mit seinem Schicksal zu hadern.

      „Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist … Re … äh … Renato … Delfi. Ja … Renato Delfi“, sagte er nach seiner Stotterei nochmals bekräftigend. Warum er nicht seinen richtigen Namen gesagt hatte, wusste er nicht genau. Irgendwie erschien es ihm in seiner momentanen Lage besser so. Vielleicht suchte die Polizei bereits nach ihm? Als Vermissten oder sogar schon als Mörder seiner Frau? Wer konnte das wissen? Doch sofort gab er sich selbst die Antwort: Seine Familie würde es wissen – sicher war die Polizei und der Arzt und wahrscheinlich auch schon der Bestatter in seinem Haus gewesen. Oder waren die nicht so schnell? Immerhin war es erst kurz vor elf Uhr. Über diese Grübeleien hatte er den Namen gar nicht mitbekommen, mit dem sich sein Gegenüber gerade vorgestellt hatte.

      „Entschuldigen Sie bitte, wie war Ihr Name? Ich habe ihn nicht richtig verstanden“, versuchte er sich rauszureden, doch die Dame war sehr feinfühlig. Längst hatte sie gemerkt, dass dieser feine Herr mit seinen Gedanken ganz woanders war. Sie wiederholte nur kurz ihren Namen und so erfuhr er nun doch noch, dass sie Helene Maiers hieß und hier auf diesem Campingplatz ihren einzigen Wohnsitz hatte.

      „Ich lasse Sie nun in Ruhe, damit Sie weiterhin Ihren Gedanken nachhängen können. Ich sehe doch, dass Sie nicht ganz bei der Sache sind, und will Sie nicht länger stören. Und mein Amigo auch nicht“, fügte sie hinzu und packte ihren pudelnassen Hund am Halsband, kaum dass er die Pfoten ans Ufer gestellt, sich ausgiebig geschüttelt hatte und das Stöckchen dem netten Herrn in die Hand drücken konnte.

      „Entschuldigung …“, hob Reno an, doch Frau Maiers schüttelte nur lächelnd den Kopf.

      „Entschuldigung ist wohl Ihr zweiter Vorname, was? Machen Sie sich keine Gedanken. Hier kommen viele Leute her, um mit sich alleine zu sein und ihre Ruhe zu haben. Das bin ich gewohnt. Ich liebe ja auch meine Einsamkeit hier. Melden Sie sich doch einfach, wenn Sie etwas brauchen, ja?“, fragte sie freundlich und ihr Lächeln zauberte doch tatsächlich ein kleines, schiefes Grinsen in Renos Gesicht.

      „In Ordnung, Frau Maiers. Ich komme ganz bestimmt auf Ihr Angebot zurück“, murmelte Reno immer noch etwas zerknirscht, doch sein Gegenüber lächelte und streckte ihm ihre sonnenverwöhnte Hand entgegen.

      „Ich bin die Helene. Hier duzen sich alle.“

      „Reno … ato. Entschuldigen Sie … schon wieder … aber meine Freunde nennen mich Reno, deshalb verplappere ich mich andauernd“, stammelte er und wurde rot wie ein kleiner Schuljunge, während er das Holzstück unbeholfen in seinen Händen hin und her wandern ließ. Der Hund ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen, so als wolle er den Zeitpunkt des Wurfes auf keinen Fall verpassen.

      „Kein Problem … Reno. Wenn ich Sie auch so nennen darf?“, fragte Helene und auch ihre Wangen zeigten eine leichte Röte, die man wegen ihrer braungebrannten Haut aber kaum wahrnahm.

      „Selbstverständlich können Sie … äh … kannst du mich Reno nennen. Wenn hier alle per Du sind …“, sagte Reno, war jedoch mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders. Immer wieder schweifte er ab, was man ihm wohl erneut ansah, denn Helene winkte ihm lächelnd zu, während sie ihren Hund am Halsband schnappte und mit ihm in ihren kleinen Bungalow ging. Widerwillig ließ sich Amigo mitziehen, denn eigentlich wollte er viel lieber mit seinem neuen Freund Stöckchenwerfen spielen. Das Holzstück hatte Reno inzwischen, ohne es bemerkt zu haben, fallen gelassen und so kostete es Helene einige Mühe, ihren Hund davon zu überzeugen, dass das Stöckchen nicht mehr für ihn bestimmt war.

      Gebeugten Hauptes ging der Vierundsiebzigjährige nun zurück zu seinem gemieteten Häuschen. Mit seinem schlurfenden Gang sah er um Jahre älter aus. Gerade so, als müsse er alle Last der Welt alleine tragen. Helene schaute nochmals kurz zu ihm herüber und fragte sich, was diesen eigentlich noch recht attraktiven Mann wohl so bedrückte. Kopfschüttelnd ließ sie sich in ihren Liegestuhl fallen, schnappte sich einen dicken Wälzer und begann zu lesen. Schnell war sie in der Geschichte versunken und hatte fürs Erste ihren neuen Nachbarn vergessen. Ihr Hund aber nicht. Er lag zwar ganz artig neben seiner Herrin, ließ Reno dabei aber nicht aus den Augen. Wann würde dieser wohl wieder mit ihm spielen?

      Ans Spielen dachte Reno jedoch überhaupt nicht mehr, vielmehr rang er mit sich, ob er seine Familie nun endlich anrufen sollte. Er musste ihnen sagen, warum er abgehauen war, sonst kamen sie womöglich noch dazu, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Er war einfach auf und davon, als er Adele nachts tot in ihrem Bett liegen sah. So banal war das! Jeder Mensch reagierte unterschiedlich und völlig unberechenbar in so einer Situation, oder nicht? Jeder verarbeitete seine Trauer anders, dafür gab es keine Richtlinien und keine Regeln. Er musste allen nur erklären, dass er einen Schock bekommen und auch immer noch hatte und darum konnte er auch heute nicht mehr zurückfahren. In seinem Zustand nochmal ins Auto zu steigen wäre sehr fahrlässig. Andererseits … wäre es nicht das Beste, wenn er durch einen Autounfall ebenfalls ums Leben käme? Wie konnte er ohne Adele weiterleben und vor allem mit seiner Schuld? Entweder hatte er sie umgebracht oder sie hatte sich über ihn so aufgeregt, dass sie gestorben war. So oder so hatte er sie auf dem Gewissen! Nur verurteilt werden konnte er nur für Ersteres und das musste man ihm erst mal nachweisen. Er würde zu Hause anrufen und einfach fragen, was inzwischen geschehen war. Vielleicht kam der Arzt ja zu dem Schluss, dass es eine natürliche Todesursache war und er war dann aus dem Schneider? Falls nicht, konnte er immer noch untertauchen. Doch wo sollte er hin? Zu Rüdiger konnte und wollte er nicht mehr