Petra Mehnert

Die Messermacher


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seinen knapp zweitausendfünfhundert Einwohnern der Alltag ganz normal weiterging, stand in der Messerwerkstatt Angerer die Zeit still. Nachdem Jakob die Polizei verständigt hatte, brachte es niemand fertig, zur alltäglichen Arbeit zurückzukehren. Tobias wollte unbedingt noch eine Weile bei seiner toten Mutter sitzen, während sein Bruder seine Kinder tröstete und nebenbei versuchte, seine verschlafene Schwester zu erreichen. Inzwischen war es kurz nach neun und sie müsste eigentlich schon auf sein. Marianne besaß aber nur ein Handy und das schaltete sie meist erst ein, wenn sie um zehn Uhr in die Werkstatt kam. Dennoch war es Jakob den Versuch wert gewesen, sie wegen der schrecklichen Vorkommnisse an diesem Morgen so schnell wie möglich zu informieren. Hätte er es nicht versucht, hätte sich seine Schwester sicherlich beschwert, ob sie es nicht wert sei, dass man sie informierte. So war sie nun selbst schuld, dass sie von alldem, was geschehen war und in der nächsten Stunde noch passieren sollte, nichts mitbekam. Vielleicht war es auch gut so, denn Marianne konnte ziemlich hysterisch werden und darauf konnte die Familie nun ganz sicher verzichten. Vor allem in letzter Zeit war sie oft mürrisch und ungeduldig, was sonst eigentlich gar nicht ihre Art war.

      „Wann kommt denn nun endlich ein Arzt?“, ereiferte sich Nora nach einer halben Stunde angespannten Wartens.

      „Welchen Arzt die wohl bestellt haben? Hoffentlich nicht die neue Ärztin, die seit ein paar Monaten die Praxis unseres geschätzten Doktors hier in Ottenbach übernommen hat. Die kann ich nämlich gar nicht leiden!“

      „Aber Nora, so was sagt man doch nicht“, maßregelte sie ihr Vater. „Sie hat es auch nicht leicht und gibt sicher ihr Bestes, um die Patienten ihres Vorgängers gut zu versorgen“, versuchte Jakob die neue Ärztin in Schutz zu nehmen. Er war bisher nur einmal kurz mit Felix bei ihr gewesen, um ihn vor dem Ausbildungsantritt untersuchen zu lassen. Zugegeben – besonders sympathisch war sie nicht, aber sie hatte Felix gewissenhaft untersucht und ihm dann auch gleich sein Attest ausgestellt. Dass sie ihrem Sohn wegen seiner gelegentlichen Knieschmerzen, die sicherlich vom Wachstum her kamen, gleich eine Akupunktur-Therapie verpassen wollte, verbuchte er unter der Rubrik: geschäftstüchtig. Natürlich hatten weder er noch sein Sohn zugestimmt und sie war dann auch nicht weiter darauf eingegangen. Außerdem hatte Jakob im Ort munkeln hören, dass sie die Praxis demnächst schon wieder aufgeben wollte, weil sie sich angeblich nicht rechnete. Woran sie ganz sicher auch selbst Schuld hatte, denn nur wenige waren nach dem Weggang ihres beliebten Vorgängers zu ihr gekommen.

      „Wenn diese Tante kommt, bin ich weg!“, meinte dann auch Felix und erntete von seinem Vater ein genervtes Kopfschütteln. Tobias kam dann einige Minuten später ebenfalls herunter ins Wohnzimmer, wo die anderen in Gedanken versunken oder unruhig herumsaßen. Nora kaute zum ersten Mal seit langem wieder auf den Fingernägeln, obwohl ihre Hände von der Arbeit schmutzig waren. Felix hatte seinen iPod herausgeholt, obwohl sein Vater eigentlich verboten hatte, dass er ihn mit in die Arbeit brachte. Doch heute achtete Jakob gar nicht darauf, er war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Nicht nur der Tod seiner Mutter erschütterte ihn, viel mehr Sorgen machte er sich momentan um seinen Vater.

      Wo war Reno?

      Wo war er nur hin und hatte sogar den Hund mitgenommen? War er nach Adeles Tod so geschockt gewesen, dass er in Panik einfach davongelaufen war? Bei dieser Überlegung sprang er plötzlich auf und rief:

      „Ist Renos Auto überhaupt weg?“ Niemand war bisher auf den Gedanken gekommen, nachzusehen. Nora erbot sich sofort, einen Blick in die Garage zu werfen und rannte mit ihren langen rotblonden Haaren, die wie ein Schal hinter ihr her wehten, aus dem Haus. Sobald klar gewesen war, dass sie heute nicht mehr arbeiten würden, hatte sie sofort ihren Zopf aufgeflochten. Während der Arbeit war es Pflicht, die Haare wenigstens zusammenzubinden … Betriebssicherheit!

      Wenig später kam sie keuchend zurück und schrie noch von der Haustüre her:

      „Opas Auto ist da, aber sein Motorrad ist weg!“

      „WAS?“, schrien alle fast gleichzeitig. „Aber wo ist dann der Hund?“, fragten sich die entsetzt dreinblickenden Angerers. Auf gar keinen Fall konnte man einen so großen Schäferhund auf einem Motorrad mitnehmen!

      „Vielleicht ist Moritz mal wieder ausgebüchst und Opa sucht ihn mit dem Motorrad“, warf Nora in den Raum, doch ihr Vater schüttelte sofort den Kopf.

      „Das ergibt doch keinen Sinn, Nora. Moritz läuft nicht mehr so weit weg und im Sommer gibt es keine läufigen Hündinnen, oder? Sind die nicht nur im Frühjahr und im Herbst läufig, sodass sie unserem armen Rüden den Kopf verdrehen können?“

      „Keine Ahnung. Vielleicht hat sich eine damit verspätet“, meinte Nora und setzte nach einem Augenverdrehen ihres Bruders noch hinzu: „Könnte doch sein, oder nicht?“

      „Ich weiß das wirklich nicht – aber wie gesagt, mit dem Motorrad nach ihm zu suchen, ist doch idiotisch. Reno kennt die Freundinnen seines Hundes und sucht ihn immer zu Fuß. Da steckt irgendwas anderes dahinter!“, sagte Jakob mit Überzeugung, obwohl er momentan keine Idee hatte, wo sein Vater abgeblieben sein könnte. Während die ganze Familie nun weiter vor sich hin grübelte, nur ein paar Mal durch geschäftliche Telefonate unterbrochen, die allerdings äußerst knapp gehalten wurden, was sonst gar nicht ihre Art war, knallte plötzlich kurz vor zehn Uhr die Haustüre und Marianne kam hereingestürmt. Ohne guten Morgen zu sagen, fragte sie außer Atem:

      „Was ist denn passiert, dass ihr mich gleich fünf Mal versucht habt, anzurufen. Ich hab mein Handy grad erst eingeschaltet, als ich aus dem Auto gestiegen bin“. Marianne wohnte in einem hübschen kleinen Loft in Salach, natürlich ebenfalls mit Blick auf den Hohenstaufen und sie kam jeden Tag mit ihrem schwarzen Porsche 911 Carrera in die Arbeit.

      „Setzt dich erst mal hin, Marianne“, sagte Jakob behutsam und seine sonst so resolute Schwester ließ sich beim Blick in die traurigen Augen ihrer Familienmitglieder folgsam zum weißen Ledersofa geleiten. Erst als sie saß, erzählte Jakob ihr die ganze Geschichte. Doch bevor sich Marianne dazu äußern konnte, klingelte es laut an der Türe. Wie seltsam sich das anhörte, wenn der Hund nicht augenblicklich zu bellen anfing.

      „Das wird die Ärztin sein“, meinte Tobias und ging hinaus, um diese zum Haus zu begleiten, denn auf einem Schild vorne an der Türe stand neben einem abgebildeten Hund:

      Ich brauche 2 Sekunden bis zur Türe und du?

      Deshalb traute sich auch niemand, alleine durch den Garten zu gehen. Nur diejenigen, die bereits Bekanntschaft mit dem liebevollen alten Schäferhund gemacht hatten, kamen an die Haustüre, um zu klingeln.

      Wie befürchtet, brachte Tobias eine mürrisch dreinblickende Frau Doktor Zeitler mit, die sich auch sofort beschwerte, dass sie ihre Praxis hätte verlassen müssen, ihre Patienten nun warten müssten und sie eigentlich für so was gar nicht zuständig sei.

      „Wo ist denn nun die Tote?“, fragte sie genervt und ließ sich im Hinaufgehen die Krankheitsgeschichte von Adele Angerer kurz schildern. Sie untersuchte Adele dann auch nur flüchtig und stellte ohne Umschweife den Totenschein mit einer natürlichen Todesursache aus. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es anders sein könnte.

      Kaum war Frau Dr. Zeitler damit fertig, klingelte es erneut an der Türe. Diesmal erbot sich Nora, nach draußen zu gehen. Wie immer rannte sie durch den Garten, denn normales Laufen war ihr zu langsam. Doch als sie von weitem zwei Männer vor dem Zaun stehen sah, verlangsamte sie ihr Tempo – warum, wusste sie auch nicht. Vielleicht, weil der eine von ihnen so verdammt hübsch war und der andere so streng dreinblickte? Ob das Kunden waren oder etwa ein paar von den Zeugen Jehovas? Was wirklich sehr bedauerlich gewesen wäre, denn für diesen Schwachsinn einen so gutaussehenden jungen Mann zu missbrauchen, wäre geradezu eine Verschwendung gewesen. Doch zu ihrer Freude stellten sich die beiden als Mitarbeiter der Göppinger Kripo vor und Nora atmete erleichtert aus. Amüsiert lächelte der jüngere Polizist und sagte verschmitzt:

      „Kommt nicht oft vor, dass die Leute so erfreut sind, die Vertreter des Gesetzes zu sehen“.

      „Nun ja …“, stammelte Nora. „Immerhin ist mein Opa weg und Sie werden uns hoffentlich helfen, ihn zu finden, nicht wahr?“, fragte sie hoffnungsvoll, denn das war im Moment ihre größte Sorge.