Petra Mehnert

Die Messermacher


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einer Berührung zog sie sie wieder zurück.

      Nein! Sie konnte das nicht!

      Brüsk drehte sie sich um, rannte im Hinausstürmen ihren Bruder beinahe um und stürmte hinunter in die Werkstatt.

      „Papa! Tobias! Opa ist weg und mit Oma stimmt was nicht! Felix sagt, sie ist tot!“, kreischte Nora hysterisch und zog ihren Vater vom Stuhl hoch. Der kapierte zunächst gar nichts, ließ sich aber mit nach oben ziehen, gefolgt von seinem ratlos dreinblickenden Bruder. Felix hatte es inzwischen über sich gebracht und das Licht im Schlafzimmer seiner Großmutter eingeschaltet. Nach einem Blick in das bleiche Gesicht und die ausdruckslosen Augen war er sich sicher, dass seine arme, kranke Großmutter in dieser Nacht gestorben sein musste. Nacheinander betraten nun die anderen den kleinen Raum, der trotz der morgendlichen Kühle recht stickig war. Auch Jakob und Tobias brauchten ihre Mutter nicht anzufassen, um zu wissen, dass sie nicht mehr lebte. Nun hatte es der Krebs also doch schneller geschafft, die kranke Lunge dieser Frau zu zerstören, als es die Ärzte vorhergesagt hatten. Vielleicht war es besser so, nun würde ihre Mutter nicht mehr leiden müssen, und hatte hoffentlich friedlich einschlafen dürfen.

      „Sie ist wirklich tot, oder Papa?“, fragte Felix leise und sein Vater nickte nur. Er ging auf seine Mutter zu, schloss mit einer sanften Bewegung ihre Augen und legte die Hände gefaltet auf ihren Bauch. Dann nahm er seine Kinder in den Arm, während sein Bruder ihm von hinten die Hand auf die Schulter legte. Traurig schauten sie in das etwas verzerrte Gesicht der Frau, die zeit ihres Lebens für die Familie und die Firma da gewesen war. Was würde nun werden, ohne das eigentliche Familienoberhaupt? Denn dass Reno der Chef war, wurde nur nach außen hin so dargestellt, die wirkliche Chefin war Adele. Geschäftstüchtig, herrisch, aber auch fürsorglich war sie gewesen. Aufgeopfert hatte sie sich für ihre Familie und nun war sie tot.

      „Warum hat sie auch immer so viel gequalmt?“, entfuhr es nun Nora, denn irgendwie brauchte sie einen Schuldigen für den tragischen Tod ihrer Großmutter.

      „Es bekommen auch Menschen, die nie geraucht haben, Lungenkrebs. Es muss nicht unbedingt nur am Rauchen gelegen haben. Aber die wichtigere Frage ist doch nun: Wo ist Reno?“, fragte Jakob in die Runde und sah dabei nur in ratlose Gesichter.

      „Vielleicht hat ihn der Tod von Oma so erschüttert, dass er einfach erst mal allein sein musste, und er ist ohne Nachricht zu hinterlassen, aus dem Haus gestürmt“, mutmaßte Tobias und kramte dabei sein Handy aus der Tasche. „Vielleicht hat er sein neues Smartphone mitgenommen?“

      2

      Ich kauerte immer noch zitternd neben ihm, als es in seiner Hosentasche klingelte. Der laute Klingelton erschreckte mich so sehr, dass ich panisch aufsprang und dabei in seiner Blutlache ausrutschte. Ich konnte es nicht verhindern und knallte mit meinem ganzen Gewicht auf seinen Arm, der auf einem Stapel Bücher gelegen hatte. Es gab ein fürchterliches, knackendes Geräusch, als ich ihm den Arm brach. Das blöde Handy bimmelte immer noch mit diesem altmodischen Klingelton und mir wurde schlecht. Bevor ich mich aufrappeln konnte, übergab ich mich neben den Toten. Meine langen Haare, die ich heute noch nicht zusammengebunden hatte, hingen mir ins Gesicht und in die eklige Pfütze, ich strich sie nur angewidert zurück. Benommen und mit immer noch zitternden Fingern fischte ich nach dem Telefon und schaute auf das Display. „Anruf von Tobias“ stand da und ich warf es in hohem Bogen weg, als wäre es giftig. Leider machte das diesem modernen und anscheinend recht robusten Ding nichts aus, denn es klingelte munter weiter. Wütend warf ich ein Buch danach und als es nicht aufhören wollte, noch eins und noch eins … bis es endlich still war und ich mich wieder darauf konzentrieren konnte nachzudenken, was ich jetzt tun sollte! Ich musste den Leichnam irgendwie loswerden, aber wie, wann und wo? Wie lange es wohl dauern würde, bis der tote Körper steif wurde? Dann würde es sicher noch viel schwerer werden, ihn zu entsorgen. Ob ich ihn wohl schon mal irgendwie zusammenfalten sollte? Allein schon der Gedanke daran ließ mir die Knie weich werden und mein Magen rebellierte schon wieder. Wie sollte ich das nur alles durchstehen? Aber ich hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Keinem stand ich so nahe, dass ich ihm in einer solchen Situation vertrauen konnte. Wenn man es genau nahm, lag der einzige Mensch, mit dem ich befreundet war, nun tot vor mir! Ich war jetzt wirklich ganz alleine mit mir und meiner schrecklichen und sinnlosen Tat!

      Warum hatte das nur alles so kommen müssen? Wir waren doch bis vor kurzem noch so glücklich gewesen. Reno kam mindestens einmal im Monat unter einem geschäftlichen Vorwand zu mir in meine kleine Werkstatt. Früher hatten wir uns jeden Tag sehen können, als Reno noch hier im Osten wohnte und bei seinem Vater arbeitete. In der Berufsschule, in der Reno und mein Vater das Messermacher-Handwerk lernten, freundeten sich die beiden an und Reno kannte mich schon als Baby, denn mein Vater war erst achtzehn, als seine damalige Freundin mit mir schwanger war. Doch gleich nach meiner Geburt hatte sie uns verlassen und mein Vater musste mich alleine aufziehen. Reno spielte oft den Babysitter und wurde mit den Jahren mein bester Freund. Wann wir uns ineinander verliebt hatten, weiß ich nicht mehr. Es ist einfach passiert. Ich lernte das Messermacher-Handwerk auch bei meinem Vater, machte aber auch ein Praktikum bei Renos Firma. Reno arbeitete damals ja noch bei seinem alten Vater in der Firma mit, doch ich, Rüdiger Haupt, wusste schon sehr früh, dass ich mich selbstständig machen wollte. Dass ich was drauf hatte, bestätigten mir meine Lehrer immer wieder und als Messermacher braucht man ja auch nicht allzu viele teure Maschinen. So konnte ich meinen Traum nach der Schule rasch in die Tat umsetzen und Renos Firma verschaffte mir auch gleich ein paar lukrative Aufträge. Leider wollte Renos Alter die Firma einfach nicht in die Hände seines Sohnes geben und so überwarf sich der bereits Fünfzigjährige Reno mit seinem alten Vater und fing mit nur ein paar Werkzeugen und einer Holzkiste in einem kleinen Zimmer in Stuttgart ganz von vorne an. Ich flehte Reno an, doch hier zu bleiben und die Sache vollends auszusitzen. Sein Vater war ja schon über achtzig, aber mein sensibler Reno verkraftete es einfach nicht mehr, sich ständig von seinem immer seniler werdenden Vater in die Firmenangelegenheiten reinreden zu lassen und dessen Fehler ausbügeln zu müssen. Mit der Kundschaft ging der Alte auch mehr als ruppig um und so manchen hatte er schon zur Werkstatt hinausgejagt. So konnte man heutzutage nicht mit seinen wertvollen Kunden umgehen, aber sag das mal einem so alten Mann und deinem eigenen Chef! Eigentlich war klar, dass es irgendwann knallen würde und eines Tages ist der arme Reno dann einfach sang- und klanglos gegangen. Als sein Vater mal ein paar Tage im Urlaub war, was er höchst selten tat, packte Reno seine liebsten Werkzeuge und zog um nach Stuttgart. Seine Familie hat er erst zu sich geholt, als es mit seiner Firma einigermaßen lief. Ich war damals wirklich geschockt, denn Reno war mein einziger Freund und ich hatte tagelang geheult. Bei diesen Gedanken sammelte sich schon wieder Wasser in meinen Augen, denn nun war mein Geliebter tot! Und ich hatte ihn umgebracht!

      3

      „Wir haben hier eine Vermisstenanzeige!“, rief Hauptkommissarin Magdalena Müller-Harnisch durch die angelehnte Türe, die ihr Büro von dem ihres jungen blonden Assistenten Joska Kiss trennte. Wie üblich machte sie sich nicht die Mühe, aufzustehen und ihrem Angestellten gegenüberzutreten. Wusste sie doch, dass Joska sowieso zu ihr kommen würde, um weitere Instruktionen abzuholen. Heute jedoch war der junge Mann so vertieft in die Recherchearbeiten, die man ihm kurzfristig aufgebürdet hatte, dass er den Ruf seiner Chefin nicht gehört hatte. Erst nach einem lauten Kreischen seines Namens fuhr er erschrocken zusammen und stieß dabei seine Kaffeetasse um. Die schon längst kalt gewordene Brühe ergoss sich komplett über die Tastatur seines Computers.

      „Verdammte Scheiße!“, zischte der jüngste Assistent der Göppinger Kripo und versuchte verzweifelt, das Malheur mit seinem Ersatz-T-Shirt aufzuwischen. Dabei warf er auch noch sein Nutella-Glas um, das jetzt so früh am Morgen noch fast voll war. Bis zum Feierabend jedoch würde er es wie jeden Tag wohl wieder ausgelöffelt haben. Ohne diese Ration „Glücklichmacher“ lief bei ihm gar nichts! Während seiner kläglichen Säuberungsversuche legte sich plötzlich eine dunkelbraune Hand mit langen, rot lackierten Fingernägeln auf seinen hektisch wischenden Arm und er fuhr wie ertappt herum. In seiner Aufregung hatte er gar nicht registriert, dass diese wundervollen Hände gar nicht seiner Chefin gehörten, sondern ihrer gemeinsamen Sekretärin Lola Amati, einer rassigen achtundzwanzigjährigen Afrikanerin, deren halblange, dichte und krause Haarpracht stets wirr von ihrem Kopf abstand. Wenn sie nicht im Dienst war,