Petra Mehnert

Die Messermacher


Скачать книгу

hatte ich mich etwas beruhigt und war über meine plötzliche Nüchternheit selbst erstaunt. Nur noch rational denkend hatte ich im Internet nachgelesen, dass die Leichenstarre bei Raumlufttemperatur meist vom Kopf abwärts nach etwa ein bis zwei Stunden einsetzt. Bei Hitze geht das schneller, bei Kälte dementsprechend langsamer. In diesem Zimmer hatte es so um die zwanzig Grad. War das nun eine normale Zimmertemperatur? Ach was – das war ja auch egal, denn ich wollte Reno so schnell wie möglich „entsorgen“. Da die Starre nach sechs bis zwölf Stunden voll ausgeprägt war und sich zwischen vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden wieder löst, musste ich jetzt schnell handeln. Da der Prozess bei Menschen, die vor dem Tod noch sehr aktiv waren, schneller in Gang kommt, musste ich mich jetzt echt beeilen. Denn vor Renos Tod hatten wir ja einen heftigen Streit und haben miteinander gerungen – also los jetzt! Reiß dich zusammen und fang endlich an! Mit diesen Gedanken trat ich mir selbst in den Hintern und ging hinunter in den alten Gewölbekeller, wo ich eine große Gefriertruhe stehen hatte. Als Hobbyjäger braucht man so was ab und zu, wenn die Jagd erfolgreich war. Zum Glück hatte ich in diesem Jahr noch keine Zeit zum Jagen gefunden und somit war die Truhe leer. Wenn ich meinen (ehemaligen) Freund etwas zusammenfaltete, würde ich ihn sicher dort hineinlegen können. Es war wirklich von Vorteil, wenn man alleine lebte und keine Freunde hatte. Zumindest war das fürs Erste eine gute Lösung und verschaffte mir Zeit, darüber nachzudenken, wie ich die Leiche noch ganz wegschaffen konnte.

      Zunächst vergewisserte ich mich, dass niemand in der Nähe war. Ich ging nach draußen in meinen großen Garten und spähte die lange Auffahrt hinunter. Beruhigt sah ich, dass wirklich niemand zu sehen und auch kein Motorgeräusch von einem sich eventuell nähernden Fahrzeug zu vernehmen war. Mit dem Fahrrad kam in diese abgelegene Gegend sowieso nie jemand und zu Fuß eigentlich auch nicht, denn mein Haus stand weit außerhalb von Dresden. Heute, an diesem Montagvormittag hatte ich auch keinen Kundentermin und ohne vorherige Anmeldung kam keiner zu mir in die Werkstatt.

      Wieder zurück in meinem Schlafzimmer überkam mich jedoch beim Anblick meines toten Freundes plötzlich eine so tiefe Trauer, dass ich laut aufschluchzen musste und mich neben Reno auf die Knie fallen ließ. Hemmungslos heulte ich nun Rotz und Wasser und wiederholte immer den gleichen Satz:

      „Es tut mir so leid – ich wollte das nicht!“

      Als meine Beine langsam zu schmerzen begannen und ich feststellte, dass Renos Hals bereits steif war, geriet ich wieder in Panik und fing an, ihn durchs Zimmer zu schleifen und über die engen Holzstufen nach unten zu zerren. Da ich ihn in meinem Wahn einfach an den Füßen gepackt hatte, rumpelte sein Kopf auf jeder Stufe und machte dabei ein so scheußliches Geräusch, dass es mir schon wieder schlecht wurde. Auf die Blutspur, die er hinter sich herzog, achtete ich nur am Rande – mir war nur wichtig, ihn so schnell wie möglich in die Truhe zu packen und am liebsten nie wieder sehen zu müssen. Bereits im Erdgeschoss schwitzte ich wie ein Schwein, ich schlitterte fast um die Ecke und die Steintreppe hinunter, die zum Keller führte. Die holpernden Schleifgeräusche blendete ich einfach aus, sonst hätte ich mich wirklich nochmal übergeben. Die Sauerei mit der Blutspur reichte mir schon, mehr würde ich heute nicht mehr ertragen können. Unten angekommen, riss ich den Deckel der Truhe auf, hievte und zerrte den schweren Körper über den Rand und ließ ihn zunächst unkontrolliert hineinplumpsen. Natürlich ging der Deckel so nicht mehr zu und ich musste den armen Toten regelrecht zusammenfalten, damit ich die Gefriertruhe schließen und das Schnellfrostprogramm einstellen konnte. Dabei sah ich einen kleinen Leberfleck hinter Renos linkem Ohr, der mir bisher nie aufgefallen war. Komisch – ich dachte, jeden Zentimeter seines Körpers genauestens zu kennen. Na egal – das hatte jetzt sowieso keine Bedeutung mehr, oder?

      Nachdem das erledigt war, sank ich auf den kalten Steinboden und ließ meinen Tränen abermals freien Lauf. Bevor ich mich nicht gänzlich beruhigt hatte, konnte ich auch bei den Angerers nicht anrufen und mit Reno sprechen wollen. Das hatte ich auf jeden Fall vor, um zu erfahren, ob die Familie wusste, dass er verschwunden war.

      7

      Währenddessen gingen die Ermittlungen im Falle der Familie Angerer ihren gewohnten Gang. Nachdem die Herren Kiss und Clemens mit der Ärztin gesprochen und sich von der natürlichen Todesursache hatten überzeugen können, saßen sie nun im Wohnzimmer der Angerers beisammen. Der junge Kommissar führte die Befragung durch, was Nora etwas erstaunte, denn in ihren Augen war der ältere der Chef. Zunächst wollte Herr Kiss wissen, was Reno Angerer für ein Mensch war. Ohne direkt angesprochen zu werden, ergriff Nora sofort das Wort. Sie wollte ihren geliebten Großvater in einem guten Licht erscheinen lassen.

      „Mein Opa ist der ruhigste, freundlichste und hilfsbereiteste Mensch, den ich kenne“, fing sie an und bei ihren Worten musste Joska grinsen. Dieses Mädchen musste ihren Opa wirklich sehr gerne haben. Das erlebte man heutzutage nicht mehr so oft, dass sich die Generationen so gut verstanden. Er freute sich für die Familie, dass es hier offenbar so harmonisch zuging. Dennoch fragte er in die Runde:

      „Sehen Sie das auch so?“

      Nach einem kurzen Seitenblick auf ihre Brüder, der den Polizisten jedoch entging, weil sie gerade auf die Kuckucksuhr geschaut hatten, deren Vogel beim Zwölfuhrschlagen herausgekommen war, antwortete Marianne bedächtig:

      „Ja, meine Nichte hat da vollkommen Recht. Mein Vater ist ein rundum glücklicher Mensch und sehr harmoniebedürftig. Mit ihm kann man gar nicht streiten, und dass er jetzt einfach so weg ist, kann ich mir nur damit erklären, dass er einen Schock bekommen hat, als er Adele tot aufgefunden hat. So muss es gewesen sein, etwas anderes kann ich mir gar nicht vorstellen! Ihr etwa?“, fragte sie mit eindringlichem Blick ihre Brüder, als wolle sie ihnen nachdrücklich raten, nur ja nichts anderes zu sagen. Diesen Blick hatten die Beamten nun aber doch registriert – Nora ebenso und sie hoffte inständig, dass der junge Kommissar nicht auf die Idee kam, sie getrennt voneinander zu befragen. Doch genau das ordnete er nun an, weil er glaubte, so etwas mehr über diesen Reno erfahren zu können. Irgendwas stimmte hier nicht und er wollte sichergehen, alles versucht zu haben, um dahinter zu kommen. Würde er das nicht tun, wäre seine Chefin erstens stinksauer auf ihn und zweitens auch unzufrieden mit seiner kriminalistischen Arbeit, denn sie hielt große Stücke auf ihn. Joska wollte sie auf keinen Fall enttäuschen. Außerdem wollte er diesem Clemens zeigen, dass er sehr wohl in der Lage war, eine Befragung korrekt und ergebnisorientiert durchzuführen.

      Also wurde das Wohnzimmer zum Vernehmungszimmer umfunktioniert und der Rest der Familie begab sich entweder zur Ablenkung in die Werkstatt oder in die Küche, denn trotz der ganzen Aufregung hatten sie jetzt um die Mittagszeit doch Hunger bekommen. Auf Mariannes freundliche Nachfrage, ob sie auch Maultaschen mit Ei mitessen wollten, lehnten die Beamten jedoch ab. Sie mussten diese Befragung schnell hinter sich bringen, da ihre Chefin sie zur nachmittäglichen Besprechung wieder sehen wollte. Also wurde Jakob als Erster gebeten, im Wohnzimmer zu bleiben. Unbehaglich rutschte der Sechsundfünfzigjährige, der zwar schon ziemlich ergraut, aber immer noch mit dichtem, welligem Haar gesegnet war, in seinem Sessel hin und her. Es war das erste Mal, dass er polizeilich vernommen wurde und somit war er sehr nervös. Wie viel sollte er von den Problemen in der Familie erzählen, ohne ein schlechtes Licht auf Adele oder Reno zu werfen? Er würde erstmal abwarten, welche Fragen sie ihm stellen würden. Doch gleich die Erste brachte ihn schon in Bedrängnis.

      „Wie gut verstanden sich Ihre Eltern?“, wollte Herr Kiss wissen und Herr Clemens zückte seinen Notizblock, um mitzuschreiben.

      „Sie haben gemeinsam unsere Firma aufgebaut, nachdem mein Vater sich mit fünfzig Jahren von seinem Vater und Firmeninhaber losgesagt hat, um nochmal alleine von vorne anzufangen. Meine Mutter kam dann erst später mit uns Kindern nach Stuttgart. Vorher haben wir im Osten gelebt, in der Nähe von Görlitz“, erklärte Jakob und hoffte, damit die Frage hinlänglich beantwortet zu haben. Doch Herr Kiss war nicht zufrieden.

      „Das erklärt aber noch lange nicht, ob die Ehe Ihrer Eltern nun gut war oder nicht“.

      „Nun ja – was soll ich dazu sagen?“, fing Jakob an und knetete dabei unruhig seine Finger. „Sie haben sich respektiert, und wie meine Schwester bereits erwähnte, mit Reno konnte man nicht streiten. Er hat immer versucht, es allen recht zu machen.“

      „Bedeutet das, dass Ihre Mutter