Wenn ich ein übergreifendes Thema finden sollte, dann wäre es, dass das berufliche Umfeld nicht mehr zu meiner veränderten Lebenssituation passt. Und wahrscheinlich auch schon länger nicht mehr gepasst hat, dies aber jetzt zunehmend sichtbar wird. Diese Dissonanz, diese Unzufriedenheit und gleichzeitige Angepasstheit halten wir mit der Zeit immer schwerer aus, wie meine Interviewpartner ausnahmslos bestätigen.
Privates Umfeld
In der Mitte des Lebens gibt es oft tiefgreifende private Veränderungen, die einen Richtungswechsel veranlassen können. Hier eine – sicher nicht vollständige – Auflistung:
Die Kinder ziehen aus, es entsteht Raum für neue Ideen und die bisherige Eltern-Aufgaben verlieren an Bedeutung.
Familienangehörige werden krank und brauchen Pflege.
Eigene Krankheit und längeres Fernbleiben von der Arbeitsstelle.
Eine Trennung oder gar der Tod des Partners.
Eine Erbschaft verringert den finanziellen Druck und eröffnet neue Möglichkeiten.
Eine deutlich geringere finanzielle Grundlast, zum Beispiel durch das Ausziehen der Kinder oder die abbezahlte Hypothek.
Ein neuer Partner eröffnet neue Perspektiven, ermöglicht Kontakte in anderen Branchen, oder unterstützt tatkräftig beim Aufbau des neuen kleinen Unternehmens – wie zum Beispiel bei Lars Schepp und Katharina Kupka, die wir später genauer kennenlernen werden.
Eine Begegnung mit besonderen Menschen – bei Petr Štajner war es der Nachbar am Zweitwohnsitz, bei Kari Honkaniemi der zukünftige Geschäftspartner Tom (siehe Kapitel 20 und 8).
Berufliches Umfeld
Die meisten meiner Gesprächspartner für dieses Buch sind nicht aufgrund bestimmter Personen (wie einer schwierigen Führungskraft) aus dem Unternehmen ausgeschieden. Weit häufiger war es eine zunehmende Unzufriedenheit mit der generellen Unternehmensausrichtung und Unternehmenskultur. Diese Unzufriedenheit strahlten sie dann selbst auch nach außen aus! Ein guter Freund von mir, Bereichsleiter in einem Technologiekonzern, wurde von seinem Vorstand darauf hingewiesen, dass man mehr Engagement und neue Ideen auf seiner Position sehen wolle. Vielleicht war es ja hilfreich gemeint, mein Freund aber machte sich spätestens jetzt Gedanken über seine weitere Karriere dort bzw. einen drastischen Richtungswechsel. Allein, wie er zugibt, fehlte ihm die Kraft und der richtige Grund für eine Veränderung, der Arschtritt also.
Manchmal gibt es aber auch ganz handfeste berufliche Gründe für den Absprung:
Eine (erneut) nicht erfolgte Beförderung oder Gehaltserhöhung.
Ein neuer Vorgesetzter, der eigene Vorstellungen oder gar sein eigenes Team mitbringt.
Ein toxisches Arbeitsumfeld, das geprägt ist von Mobbing oder extremer interner Konkurrenz.
Eine Restrukturierung, mit wenig Perspektive auf eine bessere berufliche Zukunft.
Eine Betriebs- oder Standortschließung.
Eine betriebsbedingte Kündigung.
Ein Abfindungsprogramm. Dieses ist oft ein sehr starkes Signal, da es zum einen die Botschaft »Wir brauchen euch nicht mehr (alle)« verbreitet, zum anderen von den Spurwechslern »auf dem Sprung« als günstiger Zeitpunkt und als finanzielle Starthilfe verstanden wird.
Viele Mittelmanager sind schlicht ausgelaugt, müde vom Rattenrennen und der Sandwichposition zwischen Firmenleitung und Mitarbeitern. Sie fühlen sich genauso zerdrückt, eingeklemmt und matschig, als wären sie die Eier in diesem Sandwich. Ein Sandwich, welches schon viel zu lange in der schlecht gelüfteten Theke liegt.
Die 4 Phasen einer Konzernkarriere
Es gibt einige innere Beweggründe für Spurwechsler, die alle mit dem erreichten Lebensalter, und damit der Zugehörigkeit zu einer bestimmen Generation (wie Baby Boomer, Generation X etc.) sowie der jeweiligen erreichten Phase im Berufsleben zu tun haben. Ich unterscheide dabei grob vier sich überlappende Phasen in einer typischen Konzernkarriere:
Phase 1: Einstieg
Die ersten ein bis drei Jahre dienen zur Orientierung und Einarbeitung. Der Mitarbeiter ist motiviert, lernbegierig, hat hohes Interesse an Weiterbildung und neuen Projekten. Fehler dürfen gemacht und durch hohen Einsatz ausgebügelt werden.
Phase 2: Aufstieg
Eine Phase der Professionalisierung und des Karrierewegs nach oben. Gespickt mit neuen Aufgaben, internen Wechseln, Führungsverantwortung und Gehaltssprüngen. Vielleicht ein Wechsel zu einer Tochtergesellschaft, einem Auslandsaufenthalt oder eine Berufung zum Direktor, Geschäftsführer oder Vorstand. Der Beruf steht im Lebensmittelpunkt, die Arbeit erfüllt und macht Spaß.
In der Regel ist diese Phase zeitgleich mit Familiengründung, Hausbau, anderen Aktivitäten. Es gibt wenig Zeit für sich selbst, man ist immer erreichbar und auch entsprechend gefragt. Die Arbeit ist eine Quelle für Herausforderung und Bestätigung. Diese Phase kann 10 bis 20 Jahre dauern. Sie ist abhängig von den noch zu erreichenden Zielen: Wer kurz vor dem Sprung in die Vorstandebene ist, hat eine andere Motivation als ein Teamleiter, der ohne Aussicht auf Veränderung die letzten 6 Jahre die gleiche Aufgabe hatte.
Phase 3: Konsolidierung
Jetzt gibt es keinen weiteren hierarchischen Aufstieg mehr und auch kaum mehr entsprechende Ambitionen. Man ist gefragt aufgrund der Erfahrung, des Netzwerks und der erreichten Position. Die inneren Werte verschieben sich, Beziehungen zu pflegen und Unterstützung zu bieten werden wichtiger als Status und materielle Themen. Eventuell parallel mit einer neuen privaten Lebensphase, zum Beispiel mit neuem Partner oder einem Ferienhaus, das gekauft wurde.
Phase 4: Ausstieg
In dieser letzten Phase werden Nachfolger eingearbeitet, das »Feld geordnet«. Stärkere Konzentration auf Hobbys, Familie, auch neue Aufgaben außerhalb der Firma. Bei entsprechender Position Mandate in Verwaltungs- und Aufsichtsräten. Zunehmend auch ehrenamtliche Tätigkeiten.
Es scheint mir, dass gerade in der späten Aufstiegsphase und der Konsolidierung der Anteil der Spurwechsler am höchsten ist. Motivation und Leistungsbereitschaft sind hoch, aber die Aussicht auf »weitere 12 Jahre den gleichen Stiefel zu machen« deprimiert und demotiviert. Die Betroffenen fühlen sich zunehmend dissoziiert in ihrer Tätigkeit und dem beruflichen Umfeld. Typische Aussagen sind:
»Ich lebe im falschen Film!«
»War das schon alles?«
»Was mache ich mit dem Rest meines Lebens?«
»Ich will etwas Sinnvolles tun und etwas bewegen!«
»Noch kann ich etwas Neues anfangen – wann, wenn nicht jetzt?«
Die Prioritäten ändern sich in jeder Phase. Wenn dann noch oben beschriebene Themen wie Krankheit oder ein Abfindungsangebot dazukommen, wird die Gelegenheit zum Komplett-Umstieg gerne beim Schopf gepackt. Fast alle meiner Gesprächspartner hatten einen solchen kleinen Schubser, der letztendlich den Ausschlag gab. Denn richtig zufrieden in der alten Rolle waren die meisten schon lange nicht mehr.
Leben im falschen Film
In Helmut Dietls Fernsehserie Der ganz normale Wahnsinn spielt Towje Kleiner in der Hauptrolle den Journalisten Maximilian Glanz, der seit Jahren an seinem Buch mit dem Titel Woran