unsere Mutter von einer Frau, die damals noch unsere Nachbarin im Haus gewesen war, dass nur wenige Stunden, nachdem wir unsere Wohnung verlassen hatten, die Gestapo vor unserer Wohnungstür gestanden hatte! Wenn sie uns in der Wohnung angetroffen hätten, hätten wir unsere Mutter bestimmt verloren oder wir alle wären in Auschwitz gelandet.
Der Zug, mit dem wir in letzter Minute aus Bielitz weggefahren waren, hatte erst in der Tschechei angehalten, und zwar in einer großen uns unbekannten Stadt – mitten in einem Luftangriff! Die Alarmsirenen heulten, die Menschen rannten aus dem Zug, den sie verlassen mussten. Die Straßen waren voller Menschen, die mit Handgepäck, Koffern und Rucksäcken beladen waren und eilig in verschiedene Richtungen liefen. Und über den Köpfen der Menschenmasse hörte ich eine sehr laute, schrille Stimme! Sie forderte über das Chaos hinweg Mütter mit Kindern, Kranke und Alte auf, in den zugeteilten Schutzräumen Zuflucht zu suchen. Ich war dermaßen erschrocken, dass ich mich krampfhaft an die Hand meiner Mutter klammerte und sie fragte, woher die Stimme kam, die so laut und erschreckend auf mich wirkte. Die Mutter zeigte mir einen Lautsprecher, der an einem Straßenmast befestigt war, und eilte mit mir weiter. In dieser fremden Stadt erlebte ich das erste Mal das Chaos des Krieges und Panik. An diesem und den folgenden Tagen saßen wir stundenlang in verschiedenen Luftschutzräumen oder Kellern und übernachteten im Sitzen mit unserem Gepäck in der Hand ständig woanders, wobei das Chaos, der Lärm und die Geschosse draußen weitertobten.
Einmal übernachteten wir mit vielen fremden Menschen, die erschöpft und zusammengedrängt neben uns lagen, auf dem Boden eines Restaurants. Das Licht brannte die ganze Nacht, die Leute redeten laut und eine kranke Frau schrie, an Schlaf war gar nicht zu denken. Das Herz raste, der Schreck saß tief und schnürte uns die Kehle zu. Dann verbrachten wir jede Nacht in einem anderen Keller, weil die Mutter auf der Suche nach einer Bleibe war, aber immer noch nichts für uns finden konnte. Nach ein paar Tagen wurde es plötzlich still und die Leute trauten sich langsam, aus dem Keller hinauszugehen. Unsere Mutter machte sich auch auf den Weg, in der Hoffnung, dass wir ein eigenes Dach über dem Kopf finden würden. Kaum aber waren wir auf der Straße, fing die Sirene erneut zu heulen an und wir mussten schnellstens wieder untertauchen. Nun saßen wir wieder im Keller eines privaten Hauses und hörten, wie sich die Flugzeuge näherten und wieder davonflogen. Die ganze Zeit über haben wir gebetet, dass wir in dem Keller verschont bleiben und dieser nicht von einer Bombe getroffen wird. Der Lärm der heranfliegenden Flugzeuge war schrecklich laut! Kaum war es still, wollten wir wieder heraus, und kaum dass wir den Keller verlassen hatten, heulte schon wieder die schrille Alarmsirene auf, die ich kaum noch ertragen konnte. Eine furchtbare Angst schnürte mir die Kehle erneut zu. Die erste Begegnung mit dem Chaos des Krieges und die unerträgliche Angst, die ich in der fremdem Stadt erlebte, waren für mich wie der Weltuntergang.
Irgendwann sind wir dann doch aus der Hölle entkommen und bei Tante Hedi, in Graz, der Schwester meines Vaters, gelandet. Bei ihr konnten wir jedoch auch nicht bleiben und so zogen wir mit vielen anderen Flüchtlingen im Kriegsgewirr weiter, während die Russen schon auf dem Weg nach Berlin waren.
Wir Flüchtlinge wurden in kurzen Abständen auf Lastwagen von Dorf zu Dorf immer weiter nach Westen evakuiert. Die örtlichen Schulen waren vorlaufiges Zuhause. In einer Unterkunft angekommen, bemühte sich unsere Mutter, eine Ecke des Klassenraumes für uns zu bekommen und breitete dort unseren Teppich aus, das einzige Stück Heimat, das uns geblieben war. Die Ecke auf dem Boden bot für eine kurze Zeit Schutz, bis zur nächsten Evakuierung. Nachts rückten wir in unseren Kleidern dicht zusammen und mussten uns mit den vielen fremden Menschen in dem großen Raum abfinden.
Meistens wurden wir in den Schulen auch versorgt. Nach jeder Ankunft in einem neuen Ort folgte ich gleich dem Geruch des Essens, der in der Luft hing. Die provisorische Küche fand ich meistens im Keller, in dem schon eine lange Schlange Menschen stand. Dort teilte man uns aus einem großen Kessel eine heiße Suppe aus. Jeder musste ein eigenes Geschirr mitbringen. Ich erinnere mich auch an die herrlichen Semmelknödel, die es einmal gab.
An einem verschneiten und ruhigen Sonntag, es muss schon in Bayern und im Winter 1944/45 gewesen sein, stand ich vor einem kleinem Haus gegenüber der Schule, in der wir gerade untergebracht waren, und beobachtete die Gegend. Vor der Dorfkirche spielten die Jugendlichen mit Schneebällen, die Buben und Mädchen bewarfen sich gegenseitig, lachten und hatten dabei viel Spaß. Die Kirchenglocke läutete die nächste Messe. Dann sah ich einen Mann, der aus dem kleinen Haus kam und etwas am Zaun machte. Als er mich erblickte, kam er langsam auf mich zu und fragte mich, warum ich vor seinem Haus stehe. Ich zierte mich, fragte ihn dann jedoch ganz verlegen, ob er Hühner auf seinem Hof hat. Als er bejahte, bot ich ihm an, für jedes Ei eine Zigarette zu bringen. Nachdenklich schaute mich der Mann an und verlangte dann nach meiner blauen Zipfelmütze. Zögerlich gab ich ihm diese und er bat mich, an Ort und Stelle zu warten. Er entfernte sich schweigend und verschwand hinter dem Haus. Die Kälte war erträglich und ich wartete geduldig. Als er dann zurückkam, reichte er mir die mit Eiern gefüllte Zipfelmütze. Während unserer ganzen Flucht nach Bayern hatten wir keine Eier gegessen, und voller Stolz brachte ich sie jetzt zu meiner Mutter. Sie war sehr überrascht, als ich sie ihr reichte, und ich sagte schnell, dass sie mir die Zigaretten für den Mann geben sollte, der so großzügig gewesen war. Die Mutter zählte die Eier und gab mir zehn Zigaretten. Ich eilte zu dem Mann zurück, um die Eier zu bezahlen. Ich hatte die Worte meines Vaters bei unserem Abschied in Bielitz nicht vergessen, nämlich dass Zigaretten im Krieg ein gutes Zahlungsmittel sind.
Eines Tages stand erneut ein Lastwagen vor unserer Unterkunft und wir wurden weiter nach Westen verlegt. Unsere Mutter hatte es während dieser Kriegszeit mit uns vier Kindern und dreizehn Gepäckstücken auf der Flucht sehr schwer. Sie hat uns und das Gepäck oft nachgezählt, und trotzdem beklagte sie sich nie, immer strahlte sie eine Ruhe aus, die uns ein Sicherheitsgefühl gab. Was unsere Eltern während des Krieges alles erlebten und mitmachen mussten, wurde uns Kindern erst Jahre später wirklich klar.
Die schrillende Sirene, die heulenden Flieger, Geschosse und Granatenexplosionen, die dunklen, überfüllten und stinkenden Luftschutzräume – das waren unsere täglichen Begleiter. Diese Erinnerungen sind es, die wir nie vergessen haben. Diese Erlebnisse haben unser ganzes Leben geprägt und beeinflusst. Wir waren zu früh gereifte Kinder. Überall, wo wir in dem Kriegsgewirr auf dem Weg nach Westen untergebracht waren, mussten wir auf dem Boden schlafen. Unser Teppich von zu Hause, der schön dick war und uns nachts Wärme spendete, war für uns in dieser Zeit eine echte Wohltat. Dank des Teppichs, den die 13-jährige Toni und der 10-jährige Fritz tragen mussten, sind wir alle trotz der Mangelernährung nie krank geworden.
Meine Eltern haben sich während der Kriegszeit nie aus den Augen verloren. Der Kontaktpunkt war Tante Hedi. Ich erinnere mich, wie unsere Mutter nach jeder Evakuierung eine Postkarte an sie geschrieben hat. Mein Vater, der sich auch ständig woanders aufhalten musste, hat seiner Schwester ebenfalls seine Adresse mitgeteilt. Meine Tante hat dann sofort dem anderen die aktuelle Adresse per Postkarte mitgeteilt und dank ihrer Unterstützung konnte uns unser Vater immer finden. Bewundernswert war die Post in diesen unruhigen Zeiten. Es ist nie eine Postkarte verloren gegangen und jeder wusste, wo sich der andere befand.
Das deutsche Geld auf dem Sparbuch war im Krieg noch gültig, aber unsere Mutter konnte unterwegs nicht immer Brot kaufen. Wir haben aber nie nach Essen verlangt. Die stete Angst, die uns jeden Tag begleitete, hat uns die Kehle zusammengeschnürt.
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Kurz vor Kriegsende in Bayern angekommen, waren wir einmal stundenlang mit einem Zug unterwegs. Vater saß mit uns in dem überfüllten Abteil. Es war still im Wagon. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien durch das Fenster des Wagons direkt auf mich, meine beiden Brüder schliefen wie immer wieder fest auf ihren Rucksäcken und der Zug fuhr durch eine schöne, ländliche Landschaft, die mich froh stimmte.
Das monotone Klappern des Zuges auf den Schienen wollte mich gerade in den Schlaf wiegen, als der Zug plötzlich mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. In unserem Wagon brach Panik aus. Die Leute griffen schnell nach ihrem Handgepäck und ihren Koffern und rannten aus dem Zug. Meine Brüder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, wir eilten auch aus dem Zug und folgten den Menschen Richtung Wald, der am Horizont zu sehen war. Da hörten wir schon das tiefe Brummen der Propellermaschinen und kurz darauf