wir uns erschöpft und atemlos nieder und schauten zurück. Das Heulen der Flieger und das laute Stakkato der Maschinenkanonen hatte aufgehört, aber uns bot sich ein schreckliches Bild! Der Zug, in dem wir gerade noch gesessen hatten, stand in Flammen, die hoch in den Himmel loderten! Die Wagons waren durchschossen und brannten lichterloh. In diesem Moment wurde uns bewusst, wie knapp wir dem Tod entkommen waren! Unser Leben hatten wir der Aufmerksamkeit der Zugbesatzung zu verdanken. Der Lokführer hatte die schwarzen Punkte am Himmel richtig gedeutet und rechtzeitig den Zug angehalten, sonst hätten wir alle unser Leben verloren. Wir waren wie durch ein Wunder gerettet, keiner war verletzt, geschweige denn getötet worden. Der Wald um uns herum war voller Menschen. Bald bildete sich eine Kolonne und die Leute marschierten gemeinsam los. Wir schlossen uns an. Der Marsch durch den Wald hielt erst an, als wir eine asphaltierte Straße erreicht hatten. Hier wurde beraten, wohin und in welche Richtung es weitergehen sollte. Hinter uns lag der Wald und vor uns rechts und links zogen sich Getreidefelder die Straße entlang. Niemand wusste, wo wir uns genau befanden, geschweige denn, wohin die Straße führte. Die Menschen aus dem Zug hielten zusammen, sie bildeten erneut eine Kolonne und es ging nach links. Wir waren stundenlang zu Fuß unterwegs, es waren nur noch die Felder und Wiesen rechts und links zu sehen.
Als am Abend schließlich die Sonne unterging, fing es an zu nieseln, und ging in einen starken Regen über. Wir marschierten trotzdem die ganze Nacht weiter, wir hatten keine andere Alternative. Die Kolonne bewegte sich schweigend, resigniert und schleppend durch die dunkle Nacht. Jeder war durchnässt und sehnte sich nach einem warmen Bett. Mein Vater trug mich und meinen Bruder Karl abwechselnd auf seinen Schultern, dazu noch einen Rucksack und einen Koffer. Ich sah trotz der Dunkelheit, dass an beiden Seiten der Straße in regelmäßigen Abständen schmale, aber sehr hohe Bäume wuchsen. Die gaben uns aber keinen Schutz. Es war eine harte Nacht, die wir nie vergessen haben. Die gesamte Menschenkolonne schob sich schweigend und leise voran, ohne jegliche Hoffnung, bald auf eine Siedlung zu treffen. Es war noch ganz dunkel, als eine Frau meinem Vater plötzlich ein Fahrrad in die Hand drückte und gleich darauf verschwand. Dies passierte so schnell und überraschend, dass weder mein Vater noch meine Mutter wussten, woher die Frau gekommen und wohin sie verschwunden war.
An diese Nacht und die plötzliche Rettung in der Not erinnerte sich unser Vater noch viele Jahre später, als wir schon wieder in Schlesien lebten. Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, als unser Vater, der nachdenklich war und geschwiegen hatte, plötzlich leise sagte: „Es war Rettung in letzter Minute. Ich war schon so schwach, dass ich keine Kraft zum Weitergehen hatte, dann kam die Frau mit dem Fahrrad. Das war die Hilfe, um die ich Gott die ganze Nacht gebeten hatte. Er hat mich erhört.“ Wir wussten sofort, von welcher Nacht er sprach, aber keiner von uns sagte darauf ein Wort. Wir alle waren wieder mitten im Geschehen dieser Nacht und schwiegen. Wie es schien, waren die Kriegserinnerungen auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Unser Vater war nach dem sechsjährigen Krieg erst dreiundvierzig Jahre alt.
Als die schwere Nacht schließlich vorüber war und die Menschenkolonne in den Morgenstunden in einem Dorf ankam, breitete sich Erleichterung unter den erschöpften Menschen aus. Leider durften nicht alle bleiben. Der Bürgermeister ließ nur einige Familien mit Kindern im Ort, eben so viele, wie er auf die umliegenden Bauernhöfe verteilen konnte. Der Rest musste wieder aufbrechen. Wir durften bleiben und bekamen ein sehr kleines Zimmerchen bei einem Bauern namens Ziesel zugewiesen, der uns Flüchtlingen nicht wohlgesonnen war. Wir waren dermaßen erschöpft, dass wir den ganzen Tag und die folgende Nacht ohne etwas zu essen durchgeschlafen haben.
Am nächsten Morgen wollte mich meine Mutter nach draußen an die frische Luft schicken, doch ich wollte nicht gehen. Ich fürchtete mich vor dem Bauern. Meine Mutter nahm mich aber an der Hand und führte mich durch den langen, dunklen Flur hinaus. Ich blieb vor lauter Angst vor dem Haus stehen. Ich spürte den bösen Mann hinter der Tür, an der wir eben vorbeigegangen waren, und schaute ängstlich meiner Mutter nach, die zurückging und die Tür hinter sich schloss. In diesem Moment kam der Bauer mit einem Beil in der Hand aus der Küche heraus und ging wütend auf mich los. Der Schreck verlieh mir Flügel und ich rannte um das Haus herum. Meine Mutter stand am offenen Fenster, als hätte sie es geahnt, und hob mich schnell nach oben und ins Innere. Da stand der große Mann auch schon schwer atmend vor dem Fenster und blaffte meine Mutter an: „Ihr! Dahergelaufene Polen!“ Meine Mutter schrie wütend zurück: „Und Sie sind für mich der Teufel!“ Bis dahin hatte ich meine Mutter noch nie so aus der Haut fahren sehen. Mein Herz pochte wie verrückt, ebenso wie ihres. Der Bauer verschwand, weil er begriffen hatte, dass wir keine Polen waren, und ließ uns dann in Ruhe. Seine Frau, die nie gekämmt war, lud meine Mutter sogar einmal zum Essen zu sich in die Küche ein. Es gab damals Knödel aus gekochten Kartoffeln, die sogenannten „Fingerchen“, die sie nicht in Wasser gekocht, sondern in Schweinfett gebräunt hatte. Ich durfte mitessen. Das war für mich etwas Herrliches und es schmeckte hervorragend. Später erfuhr ich, dass man das Gericht Schupfnudeln nennt.
Und noch eine Episode aus der Zeit bei dem Bauern ist mir in Erinnerung geblieben. Der Bauer hatte einen Sohn in meinem Alter. Er hatte krumme Beinchen und ein großes Bäuchlein. Meine Mutter erklärte mir, dass der kleine Luis die englische Krankheit hat. Der Bub, der kleiner als ich war, rannte einmal unerwartet auf mich zu und biss mich in meinen Bauch. Ich schrie und die blauen Spuren seiner Zähne konnte ich lange Zeit sehen. Es waren dunkle Blutergüsse.
***
In diesem Dorf, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnere, erlebten wir schließlich auch das Ende des Krieges. Mein Vater hatte zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Er reparierte im Dorf und in der Umgebung Feldmaschinen, Traktoren und sogar Uhren. Dafür entlohnte man ihn mit Lebensmitteln.
Am 09. Mai 1945, nach der Friedensproklamation, fuhr der Bürgermeister unseres Dorfes mit dem Auto und einer weißen Fahne an die Dorfgrenze und übergab das Dorf den Amerikanern.
Damit hat er vernünftigerweise ein unnötiges Blutvergießen vermieden, und nach der Übergabe kamen die Amerikaner ins Dorf. Ihre riesigen, schweren Panzer schoben sich sehr langsam vor unsere Augen. Wir Kinder standen vor dem Haus und schauten erstaunt und mit großer Neugier zu. Die Panzer waren so breit, dass sie die ganze Straße in Anspruch nahmen. Die Soldaten waren nicht zu sehen, sondern nur ihre Schuhe – wahrscheinlich steckten sie die schmerzenden Beine in die Klappe oben. Sie haben uns aber gesehen und warfen uns Kaugummi zu. Das war etwas, was wir auch noch nicht kannten.
Am 01. Juni 1945 haben die Amerikaner ein Fest für alle Dorfkinder veranstaltet. Sie bauten auf dem Flugplatz am Rande des Dorfes viele Zelte auf und in jedem gab es etwas für die Kinder. Es wurden Orangen, Schokolade, Kekse und Kaugummi verteilt und die Mutter bezahlte die Präsente mit einer Bonuskarte, die sie vom Bürgermeister für jedes Kind bekommen hatte. Die Überraschung und Freude der Kinder war groß und die Stimmung auf dem überfüllten Flugplatz war heiter, die Menschen haben gejubelt und sich gefreut, dass der Krieg endlich vorbei war, und die Jugendlichen durften noch eine zusätzliche Attraktion erleben. Die amerikanischen Soldaten, unter denen auch Farbige waren, haben die Buben in ihren Jeeps um den Flugplatz herum gefahren, dabei gesungen und Spaß gemacht. Ich staunte sehr, als ich erfahren habe, dass es auch Menschen gibt, die eine dunkle Hautfarbe haben. Es war für mich ein einmaliges Erlebnis, die Farbigen zum ersten Mal zu sehen, und auf meine Frage, wer sie sind, hörte ich, dass es Neger seien. Heute bezeichnet man sie als Afroamerikaner.
Nach der Friedensproklamation fand unser Vater gleich eine Beschäftigung bei der Firma Stehle in Memmingen. Wir wohnten vorerst direkt bei der Fabrik in einer Baracke, in der während des Krieges die Zwangsarbeiter untergebracht waren. Nach einiger Zeit wurde uns eine große Wohnung in einem Zweifamilienhaus zugeteilt. Diese war voll möbliert und sah so aus, als hätten die Leute, die hier gewohnt hatten, das Haus gestern erst verlassen –
vielleicht waren sie Juden gewesen.
Eines Tages, meine Geschwister waren schon in der Schule und Vater in der Arbeit, ist eine Frau zu uns nach Hause gekommen. Sie war eine Beamtin aus dem Rathaus und hat ein großes Buch mit Bildern von Häusern mitgebracht, das sie auf den Küchentisch legte. Die Frau machte meinen Eltern ein Angebot. Sie konnten ein Haus aus dem Buch aussuchen, der Staat würde dieses bauen und die Eltern würden es dann mit der Miete abzahlen können. Ich hörte neugierig zu. Meine Eltern waren über das