Anscheinend war es möglich, sonst hätten meine Eltern das Angebot nicht bekommen.
***
Mein Vater war ein Familienmensch. Er dachte ständig an seine Eltern, die in Bielitz geblieben waren, und als er in Bayern einen Bielitzer traf, der unsere Familie gut kannte, lud er ihn nach Hause ein. Er durfte sogar bei uns übernachten. Von diesem Mann haben meine Eltern viel erfahren. Er erzählte, was sich nach unserer Flucht alles in unserer Heimatstadt zugetragen hatte. Die Russen haben sich wie ein wildes Volk aufgeführt! Sie waren ständig betrunken und klauten alles, was sie mitnehmen konnten. Erst haben sie alle Häuser in der Stadt durchsucht und alle Deutschen, die sich in den Kellern und Dachböden versteckt hatten, auf die Straße gejagt. Dort war schon eine Menschenkolonne, der sie sich anschließen mussten und die unter Bewachung Richtung Bahnhof gelenkt wurde. Dort wurden sie in die Viehwagons gedrängt und nach Sibirien abtransportiert. Die dicht zusammengedrängten Menschen waren in Dunkelheit, ohne Wasser und Essen tagelang unterwegs. Die Schwachen, die die Fahrt ohne Wasser und Essen nicht überlebten, sind bei der Öffnung des Wagons tot herausgefallen.
In einem Keller hatte sich unter den erwachsenen Männern auch ein 15-jähriger Junge versteckt. Er wurde auch mitgenommen. Er hat die Fahrt nach Sibirien und die niedrigen Temperaturen dort überlebt. Nach vier Jahren Gefangenschaft ist er zu seiner Mutter in Bielitz zurückgekommen. Sein Vater war nicht mehr da, er war von den Russen erschossen worden. Der junge Mann war mein zukünftiger Schwager, Tonis Mann.
Die Russen haben nicht nur die Dachböden und Keller durchsucht, sondern auch die Gärten und die Gartenhäuschen. Sie haben die Mädchen, die dort versteckt wurden, gefunden und vergewaltigt, sogar eines, das sich in einer Tonne versteckt hatte, und dieses haben sie beinahe umgebracht. Die Russen waren betrunken mit den Gewehrkolben und mit Gebrüll in jede Wohnung eingedrungen! Mein Großvater hatte sich dabei so erschrocken, dass er am ganzen Körper zu zittern begann. Er hat bis zu seinem Tod nicht zu zittern aufgehört. Die russischen Soldaten haben alle Betagten aus der Stadt, auch meine Großeltern, in das Hotel „Präsident“ in Bielitz gebracht und in den Keller gesperrt. Sie haben wenig Wasser und kaum etwas zu essen bekommen und mussten auf dem nackten Betonboden schlafen. Sechs Monate lang hat meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, den zitternden Kopf ihres Mannes auf ihrem Schoß gehalten. Mein Großvater hat das Kriegsende nicht erlebt.
Nachdem der Krieg vorbei war, hat man die Menschen aus dem Keller freigelassen. Meine Großmutter hat Opa auf dem Friedhof gesucht, aber nicht gefunden. Er war mit anderen Verstorbenen dieser Zeit in einem gemeinsamen, namenlosen Grab beerdigt worden.
Die schrecklichen Nachrichten aus der Heimat haben meine Eltern erschüttert. Vater machte sich jetzt große Sorgen um seine Mutter, und meine Mutter sich um ihren Vater. Sie haben angefangen zu überlegen, ob sie in die Heimat zurückkehren sollten oder nicht. Das Schicksal der beiden Elternteile hatte meinen Eltern ab diesem Zeitpunkt keine Ruhe mehr gelassen und sie sprachen jeden Tag darüber. Nach reiflicher Überlegung entschlossen sie sich dazu, zurück nach Schlesien zu gehen, obwohl mein Vater schon eine gute Arbeit und auch ein Haus in Aussicht hatte.
Wir sind dann im Frühjahr mit einem großen Transport von Flüchtlingen in einem mit Stroh ausgelegten Güterzug nach Schlesien gefahren und in der Stadt Czechowice-Dziedzice angekommen. Der ganze Transport wurde unterwegs von einer amerikanischen Eskorte überwacht und alle Flüchtlinge wurden für den langen Weg mit UNRA-Paketen versorgt. Wir waren stundenlang mit dem Güterzug unterwegs und er hat selten angehalten. Während jedes Halts konnten die Menschen frische Luft schnappen und ihre Bedürfnisse erledigen. Nach einem Halt im Wald und Weiterfahrt des Zuges merkte eine junge Mutter in unserem Wagon, dass ihr Kind fehlte! Man sah sich im Wagon um, ob es sich versteckt hatte, aber es war nicht da. Es gab keine telefonische Verbindung mit dem Lokführer und man konnte niemanden benachrichtigen, somit ist das Kind auf der Strecke geblieben! Das Mädchen war in meinem Alter.
***
In der Heimat angekommen, merkte ich sofort, dass plötzlich alles anders als in Bayern war. Schon mit dem Wetter fing es an. Es war kalt, es hat geregnet und gleichzeitig geschneit, während wir in Bayern schon viele sonnige Tage erlebt hatten und der Frühling in der Luft gelegen hatte. Die nächste Enttäuschung war die Tatsache, dass es in unserer Heimatstadt schwer war, Lebensmittel zu bekommen, und das stimmte uns nicht gerade froh. Zum Mittagessen haben wir ständig das Gleiche bekommen, entweder waren es Karotten mit Kartoffeln oder Kartoffeln mit Sauerkraut, und fast bis 1950 hat sich kaum etwas daran geändert. Pflanzenöl zum Beispiel war eine Rarität. Erst als unsere Mutter 1950 in der nahe gelegenen Raffinerie eine Stelle in der Buchhaltung und zusätzlich zu ihrem Lohn einen Liter Sonnenblumenöl bekam, wurde das Essen schmackhafter. In Bayern dagegen hatte meine Mutter unmittelbar nach dem Krieg schon eine volle Einkauftasche mit Gemüse nach Hause gebracht, sogar Orangen hatte sie irgendwo bekommen. Einmal lief ich ihr entgegen, als ich sie vom Einkaufen zurückkommen sah, da zeigte sie mir eine volle Tasche mit Rosenkohl. Ich kannte das Gemüse damals nicht und staunte, dass das Kraut so kleine Köpfe hatte. Sie sagte mir, sie hätte es bei den Zwergen gekauft, deswegen hätte es diese Größe. Ich war so irritiert, dass die Mutter dann lachend zugab, dass das ein Witz war.
Der einzige Trost für uns Kinder war damals die Tatsache, dass wir eine Wohnung in demselben Haus bekommen haben, aus dem wir 1944 vor der russischen Front geflüchtet sind. Das während der Flucht Erlebte, die Bilder aus dem Krieg haben wir lange im Gedächtnis getragen und nicht vergessen können. Meine älteste Schwester Toni war nach unserer Rückkehr in die Heimat erst fünfzehn Jahre alt, aber was sie gesehen hatte, hat sie noch mit einundzwanzig Jahren nicht vergessen und manchmal auch gezeichnet.
Meine Schwester Toni war sehr ehrgeizig, sie hat mit dreizehn Jahren die englische Sprache schon verstanden. So konnte sie dem Bauern, bei dem wir damals in Bayern das kleine Zimmer gehabt hatten, bei der Forderung der Amerikaner nach Wein und Eiern behilflich sein. Diese waren nach der Ankunft im Dorf von einem Bauern zum anderen gegangen und hatten diese Produkte verlangt. Sie kamen mit einem Gewehr an der Brust, um den Leuten Angst zu machen, aber der Bauer verstand sie nicht. Später sind sie dann alleine in den Stall gegangen und haben die Eier roh getrunken.
Nach unserer Rückkehr nach Bielitz wollte meine Schwester unbedingt, dass ich Englisch lerne. Sie hatte mit siebzehn Jahren schon im Büro des Vaters als Zeichnerin gearbeitet. Jede Woche drückte sie mir fünf Zloty in die Hand und ich musste die Englischlehrerin in der Stadt aufsuchen. Ich bin aber nicht sprachbegabt, für mich war Englisch wie ein Gesang. Der Traum meiner Schwester war, dass wir uns auf Englisch unterhalten können, wenn wir erwachsen sind.
Im Jahre 1948 bot man auf dem Schloss in Bielitz einen Malkurs an und meine Schwester meldete sich dafür an. Sie wollte unbedingt daran teilnehmen. Der Professor, ein älterer Herr, kam aus Krakau und war Jude. Beim ersten Zusammenkommen der Teilnehmer wollte er die Interessierten erstmal testen. Er stellte verschiedene Gegenstände auf das Pult und jeder konnte sich einen aussuchen, den er malen würde. Da ein freies Thema auch erlaubt war, zeichnete meine Schwester ein schlafendes Kind. Sie zeichnete nur den Kopf mit lockigem Haar und die Hände. Als der Professor hinter Toni stand und das Kind betrachtete, sagte er leise, aber voller Wut: „Das Kind hat germanische Gesichtszüge!“ Die arme Toni war so tief getroffen, dass sie aufstand und schweigend den Saal verließ. Sie ist nie wieder zu dem Malkurs gegangen.
Tonis Zeichnung
Meine Schwester Toni im Alter von 60 Jahren, München 1991
Die Flüchtlinge. Ein Werk von Toni,das sie im Alter von 65 Jahren angefertigt hat.
***