Diana Kinnert

Die neue Einsamkeit


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sogar uns selbst gegenüber. Wer hingegen Zeuge der Einsamkeit wird, schaut ungern hin. Wer sie riecht, macht lieber einen Bogen drum herum. Denn an der Einsamkeit ist etwas faul. Sie stinkt. Und wenn man ihr etwas Positives abgewinnen will, dann müssen schon metaphorische Schwergewichte bemüht werden, um sie aufzuwerten. Dann muss das betroffene Subjekt schon zum einsamen Wolf, zum Lonely Cowboy oder gleich zum Lone Rider werden, um seine abstoßende Aura abzustreifen. Doch freilich sind dies lediglich romantische, irreführende und oft verharmlosende Verklärungen des Begriffs. Denn an wahrer Einsamkeit ist nichts Schönes, nichts Gutes. Sie ist dunkel und kalt.

      Und dabei doch immer wieder zu finden. Zum Beispiel in den Megalopolen Indiens, wo sich beobachten lässt, wie rücksichtslos mit dem Phänomen – oder sollten wir sagen: mit der Krankheit? – umgegangen werden kann. Soziale Isolation, Armut und gesellschaftliches Klassendenken haben hier zu einer besonders brutalen Konfiguration der Einsamkeit geführt. Abermillionen Menschen flitzen über die Straßen von Mumbai, Kolkata, Neu-Delhi, in endlosen Schlangen stehen sie vor den Tempeln, quetschen sich in die Züge und drängeln sich noch auf ihren Dächern. Mitten in diesem Chaos der Großstädte leben Abertausende Bettler und Verwahrloste, die einsam ums Überleben kämpfen. Unantastbar, als seien sie nicht nur allein, sondern regelrecht unsichtbar.

      Der so von der Gemeinschaft Isolierte wird nicht mehr als einsame Seele wahrgenommen. Wenn er überhaupt noch wahrgenommen wird, dann als Schmutz, als Aussätziger.

      Wie drastisch wir die Einsamkeit jedoch auch immer beurteilen und aburteilen – in der Regel fällt das Verdikt unschön aus. Und das gilt nicht nur für die einzelne Person, sondern wird schnell auf die Gesamtheit aller Einsamen übertragen. Das Urteil fällt dann pauschal aus und kann sich sogar auf eine ganze Epoche beziehen. Und so stand es also bald da, das Individuum einer sich so gern als modern begreifenden Gesellschaft: Haltlos in der Sinnkrise, orientierungslos in der sich formenden Konsumgesellschaft, fassungslos in einem sich langsam auflösenden Wertesystem.

      Spätestens mit David Riesmans 1950 erschienenem Buch The Lonely Crowd, das sechs Jahre später unter dem Titel Die einsame Masse auch hierzulande erschien und für große Aufmerksamkeit sorgte, wird der Gesellschaft dabei endgültig auch die Verbundenheit gegenüber alten Traditionen aberkannt. Der Mensch wird zu Treibgut, das in den modernen Massengesellschaften schwimmt, ausgestattet nicht mehr mit einem mehrheitlich erlernten Sinn fürs Gemeinwesen, sondern vielmehr mit einem »inner gyroscope«, wie Riesman es nennt. Einem persönlichen inneren Kreiselkompass, mit dem jeder für sich durch die Fluten steuert.

      Ein höchst interessanter Gedanke. Vor allem, weil er bereits 1950 formuliert wurde – siebzig Jahre vor unserer fragmentierten Zeit, in der fast jeder ein Smartphone besitzt, in der Internet, Mails und Messenger-Dienste direkte persönliche Kontakte massiv ins Digitale verschoben haben. Nicht umsonst ist darum auch der Begriff der Fragmentierung längst passé. Wenn es um die Vereinzelung des Menschen im dritten Millennium geht, ist inzwischen von einem weiteren Stadium die Rede: der Atomisierung.

      Und was die Bewertung von Einsamkeit angeht, geschieht hier nun etwas absolut Überraschendes. Denn der Ausgestoßene, Isolierte, Einsame oder Vereinzelte – wie man ihn letztlich auch nennen mag – streift hier auf einmal sein beflecktes Etikett ab. Der moderne Einzelgänger erlebt sozusagen eine positive Überschreibung. Denn so sehr das vereinzelte Wesen im menschlichen Zusammenleben lange eher verschmäht wurde, so sehr nehmen wir es heute auf einmal als Ideal wahr.

      Ein Paradigmenwechsel, dessen Bedeutung wir uns noch gar nicht in Gänze bewusst sind. Dabei findet genau hier nicht nur ein Sinneswandel, sondern auch eine Umbewertung des Einsamkeitsbegriffs von außerordentlicher Tragweite statt. Im Eiltempo der kapitalistischen Aufrüstung haben wir den Charakterzug der Einsamkeit umprogrammiert. Bis der moderne Mensch endlich auf ganz neue Weise brilliert: Nicht mehr glücklich in der Gemeinschaft, sondern erfolgreich in seiner eigenen Singularität.

      Dies ist ein so wesentlicher wie bemerkenswerter und vielleicht auch bedenklicher Schritt. Und neben den kaum absehbaren Nebenwirkungen birgt er vor allem die Notwendigkeit, auch das Phänomen der Vereinsamung völlig anders zu betrachten.

      Warum wir Einsamkeit völlig neu begreifen müssen

      Wie schön. Schon vor einigen Jahren hat das Zukunftsinstitut die Individualisierung der Welt ausgerufen. Einen Megatrend, der sich überall ausbreitet und zu einer beispiellosen Ausdifferenzierung von Lebenskonzepten, Karrieren, Marktnischen und Welterklärungsmodellen geführt hat. Immer mehr gewinnt der Mensch die Freiheit zu wählen, auszuwählen. Er kann entscheiden, wo er lebt, wie er lebt, kann entscheiden zwischen unzähligen und ständig neu hinzukommenden Berufen. Wie er seine Sexualität auslebt, wie er sich kleidet und sich präsentiert, auch hier bieten sich heute immer mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Der Freiraum, den der Einzelne inzwischen für sich beansprucht, ist weiter und größer geworden, und er fordert immer mehr Platz. Normgebende Institutionen wie Politik oder Kirche, so schreibt das Zukunftsinstitut, verlieren an Autorität. Die Antwort auf die Frage, welche Lebensweise die gute, die richtige ist, wurde derweil immer mehr in die Verantwortung des Einzelnen gelegt. Der Medienphilosoph Norbert Bolz formuliert es so: »Sinn wird zunehmend zur Privatsache.« Kollektiver Zwang weicht dem Privileg der Freiheit. Oder anders: der Zumutung der Freiheit.

      Und die Individualisierung bricht sich auf vielen Ebenen Bahn. In der Ökonomie schreitet die Ausdifferenzierung der Märkte immer weiter voran, werden die Produkte am Ende der Ketten zunehmend personalisierter. Auf sozialer Ebene kann ein jeder heute über sein Leben bestimmen wie nie zuvor in der Geschichte, steht damit aber auch der Aufgabe gegenüber, wählen und sich über diesen Prozess Gedanken machen zu müssen. Die Freiheit zur Wahl geht einher mit dem Zwang zur Entscheidung.

      In der überindividualisierten Gesellschaft begreift sich jeder inzwischen selbst als Handlungszentrum. Das moderne Individuum löst sich von festen sozialen Klammern, denkt nicht mehr in Klassen, Schichten, Geschlechterrollen. Vielmehr entwirft es seinen eigenen Lebenslauf, entwickelt eigene Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften. Es destilliert seine ureigenen Geschmäcker, formt seine eigene Sprache. Der Mensch wird zum Designer seiner eigenen sozialen Realität. Die Biographie wird zur Multigraphie.

      Und damit sind wir nun endlich ganz im Hier und Heute gelandet. Und dürfen vergnügt feststellen: Der Mainstream ist in tausend Subkulturen zerfasert – und diese tausend Subkulturen sind gerade dabei, zum Mainstream zu werden.

      Reichlich obsolet scheint es darum, auch noch immer in alten Kategorien und Schubladen der Einsamkeit zu denken. Viel sinnvoller ist es, den Zustand der Vereinzelung im Licht der neuen Zeiten zu betrachten. Die Einsamkeit – die im Laufe der Geschichte oft genug zu verschiedensten Lesarten führte – offenbart sich alsdann völlig neu. Wir begreifen sie anders, bewerten sie anders. Und können ihr auch dann erst effektiv begegnen.

      Anders: Jede Einsamkeit ist ein Produkt ihrer Zeit.

      Vertraute Versionen und Betrachtungsweisen sind darum hinfällig. Vor allem in Zeiten der rasenden Digitalisierung wirken altbekannte Einsamkeitsmuster wie Auslaufmodelle ihrer selbst. Ein Johann Wolfgang von Goethe ist längst zum Gestrigen geworden, die Theorie einer »Lonely Crowd« nur noch eine Fußnote in den Geschichtsbüchern.

      Denn was ist geschehen? Besonders in den letzten zwei Jahrzehnten? Genauer noch im letzten Jahrzehnt, mit dessen Errungenschaften inzwischen sogar unsere Gefühle durch den digitalen Durchlauferhitzer gejagt werden?

      Was geschieht im Zuge dessen wohl auch mit der Einsamkeit, wenn es in Japan inzwischen gängig geworden ist, beim Candlelight-Dinner einer sprechenden Puppe gegenüberzusitzen? Wenn, wie im Spiegel berichtet, die Cobots unaufhaltsam auf dem Vormarsch sind?

      In Zeiten von Corona macht die Automatisierung gerade noch mal ordentliche Schritte nach vorn. Autonom navigierende Roboter desinfizieren neuerdings im großen Stil Kliniken, die dänische Firma Blue Ocean Robotics kommt mit der Auslieferung kaum hinterher. GoBe, UVD und PTR Robots heißen die Maschinen, darunter auch jene modernen Putzkolonnen, die Menschen in Form mannshoher, blau leuchtender Röhren ablösen und imstande sind, Krankheitserreger in einem Zimmer binnen zehn Minuten zu 99,9 Prozent zu vernichten. Serviceroboter statt Verkäufer bedienen derweil in den ersten Elektronikmärkten, auch