Geschichte wohlgemerkt, der wir im Moment ihres Entstehens schon nicht mehr hinterherkommen. Das ist im Prinzip nichts Neues. Neu aber sind die tatsächlichen Geschwindigkeiten und Massen, mit denen gerade jenes neue »Wissen« produziert und auch ausgetauscht wird.
Früher sagte man noch: Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Es klingt heute geradezu possenhaft. Längst müssten wir sagen: Nichts ist älter als die News von vor zwei Minuten, der Tweet der letzten Sekunde. In den USA kam es schon vor Jahren zu einer Formulierung, mit der man der Informationsflut beikommen wollte: Breaking News. Neueste Nachrichten, die hindurchbrechen durch die, die gerade noch aktuell gewesen sind. Und auch dies ist längst kalter Kaffee.
Inmitten dieses Wirbelwinds sind heute auch Lexika allseits und online mit einem Fingerwisch abrufbar, generieren und schreiben sich durch die User selbst fort. Es existieren Datenbanken, Mediatheken, Streams und Podcasts, im Netz steigen Webinars und Coachings, es tummeln sich dort Udemys und ganze Plattfomen, um die Zahl der weltweiten Online-Kurse überhaupt noch irgendwie zu bündeln.
Kurz: Das Wissen zischt nur noch so durch die Weltgeschichte, es multipliziert sich mit sich selbst, und dabei hat sich auch seine Lesart maßgeblich verändert. Vor allem der auf Effizienz und Profit gedrillte Begriff der Datenmenge ist zur himmlischen Größe angeschwollen, und immer wieder stehen wir kurz davor, das Zeitalter der KI, der Künstlichen Intelligenz, zu verkünden. Big Data macht es möglich, und in Bälde werden Quantencomputer es sehr wahrscheinlich Wirklichkeit werden lassen.
Sicher müsste man die Kategorien erst einmal definieren und scharf voneinander trennen: Wissen und Bildung, Nachrichten, Informationen, Daten. Was ist genau gemeint? Beginnt Bildung bei Sokrates, hört Wissen bei der jüngsten Veröffentlichung zur T-Zellen-Forschung auf? Muss einer Kant gelesen haben, um schlau zu sein? Oder ist er heute schlauer, weil er sich mit den neuesten Technologien in Sachen Klimaschutz auskennt?
Fest steht in jedem Fall, dass jene romantischen Zeiten vorbei sind, in denen wir einen Wissensfundus als etwas halbwegs Konstantes begreifen und im besten Fall mit möglichst vielen teilen konnten. Die Idee eines umfassenden Wissens- und Bildungskanons hat sich schlicht überholt. Das Problem: Vor allem aktuelles Wissen hat sich selbst schon wieder tausendmal upgedatet, während wir noch begriffsstutzig an seinem jüngsten Kapitel kauen. Und was sich abstrakt anhören mag, schlägt sich im Alltag längst konkret nieder.
Davon sind auch Entscheidungsträger nicht ausgenommen. Im Gespräch mit einem Abgeordneten fiel die Frage nach Entscheidungsvorbereitung. Er sagte: »Ich kann gar nicht mehr alles lesen, was ich lesen müsste, um auch nur halbwegs richtig liegen zu können.«
In diesem ganzen Sturm aus altem und neuem Wissen, in dieser Flut aus verfügbaren Bildungsbruchstücken, abrufbaren und ständig neu hinzukommenden Informationshäppchen geschieht nun etwas Wesentliches: Die Schnittmengen an geteiltem Wissen (wie auch immer wir es definieren) werden notgedrungen immer kleiner. Ein »Kanon« ist von einer Person längst nicht mehr zu bewältigen. Es müssen stattdessen, wie der Journalist Ulf Poschardt in Mündig schreibt, »Nutzungs- und Bewältigungsstrukturen konstruiert werden«, die die neuen Wissensmengen sichtbarer, lesbarer und überhaupt erst begreifbar machen.
Fast liest es sich wie eine Illusion. Denn viele haben längst aufgegeben, sich noch ein Quantum an Wissen anzueignen, das einst als umfassend oder gar flächendeckend gelten konnte. Es fehlt die Zeit, die Übersicht. Es fehlt das Gefühl der Machbarkeit.
Die klassischen Medien – Zeitungen, Magazine, Radio, Fernsehen – sind darum längst mehr zu (Vor-)Sortierern und Ratgebern geworden, als sich noch in ihrer alten Rolle als Aufklärer und Säulen der Meinungsbildung behaupten zu können. Im Zeitalter der metastasierten Wissensverbreitung und des Informationsbeschusses testen sie mehr, geben Tipps und müssen schnelle Überblicke verschaffen, anstatt Hintergründe zu durchleuchten, Zusammenhänge aufzuzeigen oder gar so etwas Verrücktes zu tun wie zu denken und zu philosophieren (im alten Griechenland war das noch demokratisch gelebter Straßenalltag).
Nicht umsonst ist das Infotainment zum weitverbreiteten Modus der Wissensvermittlung geworden: Informationen, Nachrichten und Wissen so leicht und flott, so bekömmlich und unterhaltsam präsentieren, dass der Zuschauer, Hörer oder Leser überhaupt noch die Bereitschaft entwickelt, bei der Stange zu bleiben. Dabei ist vom Zuschauer, Hörer oder Leser kaum mehr die Rede. Die Rezipienten sind zu Medienkonsumenten geworden, die durchs Zeitgeschehen streunen wie über einen rammelvollen Marktplatz. Obendrein haben sie sich längst selbst zu öffentlichen Stimmen befördert. Auf Homepages, in Foren, Kommentaren und sozialen Medien ist heute so ziemlich jeder Publizist.
Um sich in dieser Gemengelage noch ein Gesamtbild zu verschaffen und sich darüber hinaus zu orientieren, sind heute ein enormer Lern- und Lesewille sowie die Kunst des Selektierens gefragt; dies neben dem Zwang, sich gleichzeitig immer stärker spezialisieren zu müssen, um vor allem im Beruf auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Ärzte, Piloten, Ingenieure, Architekten, Stadtplaner, aber auch Unternehmer, Manager und Politiker, sie alle können ein Lied davon singen. Oft haben sie mehr damit zu tun, dem aktuellen Stand neuer Entwicklungen und Technologien hinterherzuhecheln als damit, ihren eigentlichen Beruf auszuüben. Zu eng sind die Welten in vielen Bereichen inzwischen miteinander verflochten. Im Großen und Ganzen ergibt sich ein heiteres Szenario: Mal skeptischer, mal euphorischer und mal besinnungsloser steht der Mensch aus Fleisch und Blut dem expandierenden, vorrangig aus Bits und Bytes geformten Informationsinput gegenüber – in den seltensten Fällen allerdings noch wirklich wissend.
Eine repräsentative Studie des Marktforschungsinstituts YouGov hat gezeigt, dass kaum jemand hierzulande neue digitale Technologien wie Big Data, Blockchain oder Immersive Media erklären kann, weder oberflächlich noch tiefgreifend. Auch Technologien, die immerhin vom Namen her geläufig waren, konnten 34 Prozent der Studienteilnehmer gar nicht und 44 Prozent nur noch oberflächlich erklären. Im Durchschnitt wussten nur noch 19 Prozent Bescheid. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Wissenslücken deutlich überwiegen, fehlendes Wissen und Skepsis zudem eng zusammenhängen. Nach dem Motto: Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit.
Insgesamt müssten wir im Vergleich zu früher aber wohl weniger von Wissenslücken sprechen, auch nicht so sehr von einer zunehmenden Bildungsschere, sondern von einer Zerfaserung ganz anderer Art. Denn die Menschen tummeln sich mehr und mehr auf einzelnen Wissensinseln, leben in ihren eigenen dynamischen Bildungsblasen. Das eine Weltwissen gibt es nicht mehr. Es ist kaum mehr katalogisierbar, nicht mehr quantifizierbar und schon gar nicht mehr greifbar. Wir selbst sind quasi zu Computern geworden: zu einzelnen Abrufstellen, die an jenen Servern hängen, in deren Datenmeeren sich der Krake unermüdlich klont.
Immerhin: Wissen gibt es heute auf Abruf. Wir googeln es einfach. Gut oder schlecht? Um eine Bewertung in diesem Sinne geht es mir hier nicht. Wohl aber um eine Fragestellung, die inzwischen womöglich mehr Tragweite besitzt. Denn wie kommen wir alle in Zukunft miteinander klar, wenn uns eine Basis gemeinsamen Wissens abhandenkommt? Wenn der eine dies weiß, der andere das? Wenn der Nächste dies gelesen, der Übernächste etwas ganz anderes vernommen, gelernt und verinnerlicht hat? Wenn die Schere die Gesellschaft längst nicht mehr nur in Gebildete und Ungebildete zerschneidet, sondern uns die digitale Zäsur auch hier in tausend Parzellen zerlegt?
Und auch Lesarten und Deutungen, das neumoderne Framing von Information, klaffen auseinander. Dass Flüchtlingsaktivisten und Rechtspopulisten dieselben News vollkommen verschieden lesen, ist nicht mehr nur ein Informationsfehler. Donald Trump machte es vor. Die absolute Sprechunfähigkeit zwischen gesellschaftlichen Lagern. Und das ist die Grundvoraussetzung für Spaltung. Und dafür, gespalten zu bleiben.
Die Idee eines von vielen geteilten Wissens, das Konzept eines von ebenfalls möglichst vielen akzeptierten Bildungskanons war lange die Basis für eine funktionierende Gesellschaft. Bei aller Gegensätzlichkeit, bei aller Meinungsvielfalt, bei allen möglichen Bildungsniveaus und Wissensständen: Es gab doch immer den einen großen Pool, in dem alle herumschwammen.
Dieser Pool aber versickert gerade. In unzähligen kleinen Flüssen, Rinnsalen und Tröpfchen fließt er davon.
Ob noch von einer Einsamkeit oder Vereinsamung zu sprechen ist, wenn immer mehr Menschen in ihren Wissensclouds dahindriften, dürfte eine Frage des subjektiven Empfindens