Diana Kinnert

Die neue Einsamkeit


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diese via App fernsteuern und sich die Immobilie auf diese Weise schon mal selbst anschauen. Weder sie noch der Makler sind dabei anwesend. Zumindest nicht in den vier Wänden, um die es geht.

      Digitale Assistenten heißen all diese Gerätschaften, und sie verlassen zunehmend den industriellen Bereich. So langsam mischen sich die künstlichen Helferlein unters Volk – was auch den Begriff der Zwischenmenschlichkeit neu verankern dürfte.

      Zu einer viel abstrakteren Vereinzelung kommt es heute auf anderer Ebene. Und ich würde hier eher von einer Verlorenheit sprechen, von einer Überforderung im Überfluss. Denn was geschieht, wenn der Mensch vor der berühmten Qual der Wahl steht? Er ist gestresst, fühlt sich auf gewisse Weise alleingelassen. Psychologische Versuche haben gezeigt, dass sich der Mensch bei der Wahl von Produkten und Angeboten nur in einem bestimmten »Fenster« wohlfühlt. Stressforscher wie Mazda Adli nennen es das »umgedrehte U der Zufriedenheit«. Dargestellt auf x- und y-Achse zeichnet sich dabei eine Parabel ab. Sie macht deutlich: Mit der wachsenden Zahl der Möglichkeiten nimmt unsere Zufriedenheit ab.

      Die Ökonomen Elena Retuskaja und Robin Hogarth legten Probanden eine Auswahl von Geschenkschachteln vor: Mal fünf, mal zehn, mal fünfzehn, mal dreißig. Mit einer Wahlmöglichkeit von zehn fühlten sich die meisten am wohlsten, bei fünfzehn Schachteln nahm die Zufriedenheit bereits ab. Grund: Je größer die Menge ist, aus der wir auswählen können, desto mehr stresst uns das Risiko, nicht die beste Wahl treffen zu können.

      Nun sind fünfzehn, zwanzig oder auch dreißig Schachteln ein überschaubares Beispiel. Was jedoch passiert, wenn wir im Supermarkt vor 50 Joghurtsorten stehen, in der Stadt zwischen 70 Bars und im Reisebüro zwischen 100 All-Inclusive-Clubs wählen können? Und das alles ist noch klein-klein gedacht. Denn wie reagieren unsere Synapsen erst, wenn wir uns im Internet durch Hunderttausende Angebote klicken? Lampen, Hosen, Dichtungen, Glühlampen: Von A bis Z ist heutzutage alles in unendlicher Zahl zu haben, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr.

      Was, wenn wir uns danach im Dschungel der Apps umtun? Wenn wir uns heute unzählige Applikationen aufs Handy beamen können, die jahrzehntealte Einrichtungen, Instrumentarien und auch Rituale im Handumdrehen ersetzen: das Reisebüro, den Bahnschalter, den Bankbesuch, den Wetterbericht, den Taschenrechner, die Fotokamera, den Radiosender, die Straßenkarte, die Zeitung, das Spiel, den Pulsmesser. Ganze Welten stehen uns heute im Hosentaschenformat zu Verfügung, abrufbar in Millionenzahl, downzuloaden in nicht mehr bezifferbarer Menge.

      Und was geschieht ferner, wenn wir auf Diensten wie Tinder im Sekundentakt über nicht endende Bilderserien wischen können? Über Endlosgalerien aus Gesichtern und Kurzprofilen, die sogar die Auswahl an Menschen selbst ins Unüberschaubare potenziert haben?

      Wenn Psychologen schon ab fünfzehn Geschenkschachteln von einer zunehmenden Qual der Wahl sprechen – müsste im heutigen Infinitum der Möglichkeiten nicht längst von einer Pein der Beliebigkeit die Rede sein? Von einer Ohnmacht im Zeitalter des Übermaßes? Mithin von einer Überforderung und lostness, die längst auch zu einer ganz neuen und viel abstrakteren Erscheinungsform von Einsamkeit geführt hat?

      Denn einsam ist der Mensch nicht nur unter Menschen. Er wird es irgendwann auch unter einer Überdosis der Reize.

      Laut Beobachtungen von Fachleuten wie etwa dem Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff hat die digitale Überflutung bereits zu einer kollektiven Schädigung der Psyche geführt. In seiner Praxis erlebe er schon seit Mitte der neunziger Jahre, dass sich immer mehr Kinder nicht mehr altersgerecht entwickeln. Und diese Veränderung sei inzwischen auch bei den Erwachsenen angekommen.

      Die Menschen fühlen sich überfordert. Der Wechsel von der analogen in die digitale Welt hat das Leben extrem beschleunigt, mit Reizen und Informationen regelrecht überfrachtet. Das Gefühl, ständig unter Strom zu stehen, ist dabei zu einem unterschwelligen Dauerzustand geworden. Der Psychiater Winterhoff führt dies wesentlich auf die pausenlose und flächendeckende mediale Belieferung auf allen Kanälen zurück, die durch das Smartphone auf die Spitze getrieben wird.

      Der Mensch lenkt sich durch diesen Dauerbeschuss am Ende von sich selbst ab, sagen Psychologen. Die Einheit von Körper, Seele und Geist wird gestört. Ursache und Symptom gleichermaßen: Denken und Fühlen klaffen auseinander, die sinnliche Verarbeitung der Umwelt scheitert zunehmend. Des Weiteren: Lernprozesse sind nicht mehr mit haptischen, körperlichen und sinnlichen Erfahrungen verknüpft, vermeintliche Belohnungen dafür ohne jede Anstrengung, ohne Kompromiss und Reflektion zu haben.

      Zu was mag das führen? Schwindet da womöglich sogar die innigste Form der Zweisamkeit? Findet der Mensch nicht mehr zu sich selbst, wie man so schön sagt?

      Nun, dass er sich zumindest von seiner Umwelt systematisch und massenhaft abschottet, müssen Studien gar nicht erst zeigen. Die Indizien dafür sind überall zu sehen: Auf den Straßen, in den U-Bahnen, an den Flughäfen. EarPods sind zur Grundausstattung geworden wie die Unterhose und zugleich zum ostentativen Schmuckstück der kollektiven Abgrenzung. Kabellose Abkapslungs-Gadgets, die es deutlicher kaum sagen könnten: Lass mich in Ruhe. Kontakt unerwünscht. Hier bin ich, ihr seid dort.

      Wie würde ein Edward Hopper diesen Menschen heute wohl malen? Vielleicht würde er ihn zerstückeln. In Bits, in Atome. Vielleicht würde er ihn inzwischen auch einfach weglassen. Eine letzte Steigerung der Vereinzelung. Das Verschwinden.

      Allemal klar ist, dass wir unser generelles Verständnis von Einsamkeit radikal updaten müssen. Denn so schnell wie wohl nie zuvor modifizieren die technologischen Innovationen gerade unseren Alltag und greifen in grundlegende Parameter unseres Lebens ein. Dabei treffen auch unsere Emotionen auf völlig neue Koordinatensysteme, und es stellt sich die Frage, ob sie schnell genug mitkommen. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht das.

      Lange war das zugängliche Weltwissen äußerst überschaubar. Laut Schätzungen brauchte es von 1400 bis 1900 gut und gern 500 Jahre, bis sich die Menge an menschlichem Wissen gerade einmal verdoppelte. Dichter und Denker, Philosophen und Gelehrte konnten guten Gewissens behaupten, so ziemlich alle wichtigen Werke zu kennen und sich mit den grundlegenden Theorien in den jeweils aktuellen Wissensgebieten befasst zu haben. Was nicht heißt, dass alle Menschen gleich viel wussten. Lange hatten die Gelehrten ihr Wissen geflissentlich für sich behalten, und vor Luther taten Priester und Mönche einen Teufel, das hehre Wissen aus den Büchern mit der Allgemeinheit zu teilen.

      Bis ins 20. Jahrhundert wuchs das Wissen, befördert durch den Buchdruck, schließlich stetig weiter an, war inzwischen für mehr Menschen zugänglich und nun bereits deutlich schneller. Das dem Menschen zur Verfügung stehende Gedankengut verdoppelte sich abermals: Von 1900 bis 1950 nunmehr allerdings in 50, von 1950 bis 1970 in nur noch 20 Jahren. Bis in die neunziger Jahre kamen aus vielen Bereichen immer mehr Mengen an Wissen hinzu, allerdings noch immer auf überschaubare Weise. Bildungsbürger kauften Bücher, besuchten Vorlesungen und Bibliotheken. Es gab Gebildete und weniger Gebildete, wie schon immer, aber doch lebte jeder mit dem beruhigenden Gefühl, dass es eine Art Grundausstattung an Wissen gab, mit der man halbwegs anständig durchs Leben kam. Um sich aktuell zu informieren, las man Zeitungen und Magazine, schaute abends die Nachrichten.

      Noch 1999 veröffentlichte der Hamburger Literaturprofessor Dietrich Schwanitz das Buch Bildung. Alles, was man wissen muss. Ein gut verdaulich dargebotener Rundgang durch Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst und Musik, nach dem sich der Leser wissend genug fühlen durfte, um Historie und Gegenwart einzuordnen, Zusammenhänge zu verstehen und die Zukunft denkend mitzugestalten. Dieses Wissen bildete eine solide Grundlage, zudem existierte der sogenannte Bildungskanon: jener Wissensfundus, den eine Kultur für wichtig erachtet, damit eine Gesellschaft gemeinsam funktioniert. Das geht schon in der Schule los: Mit Lesen, Mathe und einer ersten Portion Sachkunde in verschiedenen Gebieten.

      So weit, so gut. Doch nun ging die Post ab.

      Mit Beginn des 21. Jahrhunderts verdoppelte sich die Menge an Wissen abermals, inzwischen in nur noch drei Jahren, wie das McKinsey Global Institute ermittelte. Doch es geschah dabei nun noch etwas: Die qualitative Vorstellung von Wissen wurde zunehmend durch die quantitativen Konzepte der Nachrichten, Informationen und Daten ersetzt. Und diese Nachrichten, Informationen und Daten vervielfachten sich immer schneller. Und sie tun dies bis heute, inzwischen in viralem