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Für Gudrun,
die immer an mich und
den Roman geglaubt hat.
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
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eISBN 978-3-8271-8399-6
Hedi Hummel
Kraniche über Otterndorf
Ein Nordsee-Krimi
Prolog
Vor 20 Jahren
1,37 m war die Kiste lang und 90 cm breit. Sein Vater hatte sie mit einer durchgesägten alten Federkernmatratze aufgefüllt. Doch es blieb ein Rand von etwa 2 cm, der überstand. Die beiden Zentimeter waren schuld daran, dass Rob sich mehrmals in der Nacht den Kopf oder das Bein anstieß. Am schlimmsten aber war, dass die Kiste einfach nicht lang genug war, um sich darin gemütlich auszustrecken, und er immer irgendwie gekrümmt in seinem Bett lag.
Biegsam war er schon immer gewesen, und das musste er auch sein, um zurechtzukommen. Nicht nur in seinem Bett. Das Zusammenleben mit dem Vater barg so viele Klippen, die es zu umschiffen galt, wollte man einigermaßen ungeschoren durch den Tag kommen.
Da sah er auch schon den Schatten und gleich darauf das Gesicht seines Vaters draußen am Fenster auftauchen, und unwillkürlich duckte er sich. Das braune, halblange Haar nach hinten gekämmt – ein sicheres Zeichen, dass der Vater heute bereit war, sich mit der Welt zu konfrontieren, und entsprechend wachsam blickten seine Augen umher. Dabei blieben seine Lippen fest aufeinandergepresst, seine Züge verkniffen, und Rob ahnte nichts Gutes.
Fred Alsfeldt schwankte zwischen wehleidiger Milde, mit der er an manchen Tagen versuchte, sich Rob zum Verbündeten zu machen, und äußerster Härte, fast verzweifelter Wut, den Jungen aufziehen zu müssen, obwohl er gar nicht sein Sohn war, sondern das Kind seiner Frau, die er über alles geliebt hatte und die vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Er mochte ihren Jungen von Anfang an nicht, war manchmal sogar eifersüchtig auf ihn gewesen, weil er die Liebe seiner Frau teilen musste. Wie gerne hätte er ein eigenes Kind mit ihr gehabt. Doch dann kam der Tag, der alles veränderte. Marta wollte rasch nach Otterndorf fahren, um Medizin zu holen, weil Rob sich die Seele aus dem Leib hustete. Da er Fieber hatte, ließ sie den Jungen zu Hause. Gewiss war sie vor Sorge zu schnell gefahren, unvorsichtig gewesen. Der Unfall. Alles wegen Rob. Nichts machte mehr Sinn für Fred. Und doch hatte er genügend Pflichtgefühl, sodass er Rob nicht seinem Schicksal oder einem Heim überließ. Aber wenn dieser sich dann wieder so dumm anstellte oder nur ein falsches Wort sagte, dann hätte er am liebsten draufgeschlagen, und manchmal tat er das auch. Hatte Fred getrunken, ging es nicht ohne blaue Flecken für den Jungen ab, zog er ein paar Joints durch, gab es Schlupflöcher aus der Realität für sie beide. Aber da waren auch die seltenen Augenblicke, in denen ihn Robs Blick oder eine seiner Bewegungen an Marta erinnerte; dann war er zärtlich und gut zu ihm.
Äußerlich hatte Fred Halt gefunden in der Gemeinschaft „Sunrise“. Die Sekte gab sich weltoffen, proklamierte das einfache Leben und eine Rückbesinnung auf ein heidnisches Weltbild. Magische Orte wurden hier als Kraftplätze verehrt, und man unterstützte Fred darin, selbst ein Buch über bestimmte Kraftlinien zu schreiben. Zudem war ihm die Aufgabe zugeteilt worden, gleichaltrige Kinder aus der Gegend zu seinem Sohn einzuladen und sie ein wenig mit dem Gedankengut von Sunrise bekannt zu machen. Dies bereitete ihm sogar Spaß. Er las ihnen gerne Geschichten vor, oder sie durchforsteten gemeinsam die Natur. Diese Zeiten waren für Rob ein Geschenk, bedeuteten sie doch eine Art Waffenstillstand, weil Fred, den er auch wirklich für seinen Vater hielt, sich hier von seiner besten Seite zeigte.
Und bei ihren Streifzügen durch die Natur entdeckten sie, dass es zumindest eines gab, was Vater und Sohn verband – ihre Liebe zu den Kranichen. Gelten Kraniche in der Mythologie als glücksverheißend, so bescherten sie auch den beiden immerhin ein paar glückliche Momente und … Arbeit. Der Vater stellte mit einigem Geschick Uhrengehäuse her mit einem tanzenden Kranich auf dem Klappdeckel. Sie verkauften sich gut bei den Touristen in Otterndorf, in Cuxhaven bis hinauf nach Hamburg und versorgten sie mehr schlecht als recht.
Sie lebten auf einem kleinen Hof, einsam gelegen ein Stück hinter Lüdingworth. Ein Vogel-Rastplatz befand sich ganz in der Nähe ihres Hauses. Und irgendwann entdeckten sie auch eine Brutstätte, nahe am Moor.
„Komm, wir gehen die Kraniche beobachten“, sagte der Vater zu Rob. Das klang wider Erwarten nach einem ruhigen Nachmittag, und Rob entspannte sich.
Sie kamen gerade zur rechten Zeit und versteckten sich hinter einem Sandhügel. Eine Gruppe von Kranichen hatte sich auf der Lichtung niedergelassen und stakste auf der Suche nach Nahrung durch das Gras. Immer wieder war Rob hingerissen von der Schönheit der Vögel. Der wohlgeformte Kopf mit roter Haube, der fein gebogene Hals, das weiße, schwarz auslaufende Gefieder, die schmalen langen Beine.
Rob und sein Vater beobachteten einen Kranich, der einem anderen ständig folgte, ihn werbend umtänzelte, mit gespreizten Flügeln vor und wieder zurück hüpfte. Graziös neigte er den Kopf nach unten, als wolle er sich verbeugen, reckte ihn dann wieder selbstbewusst in die Höhe. Sein Gegenüber flüchtete spielerisch, lief mit weiten Schritten davon, der andere hinterher, beide hüpften aufeinander zu, und kurz berührte sich der Flaum ihrer Hälse. Dann umkreisten sie einander wieder, schwangen sich flügelflatternd in die Höhe und stießen mit weit geöffneten Schnäbeln ihre Schreie aus, reckten dabei den Kopf nach hinten, wölbten die Brust nach vorne, beinahe elegant, überaus zärtlich, fast majestätisch.
Rob schob sich durch das hohe Gras nach vorne und schlich dann langsam auf die Vögel zu. So nah war er ihnen noch nie gekommen. Grob griff da eine Hand nach ihm, die Hand seines Vaters. Vorbei war die gute Stimmung, das Gefühl von Gemeinsamkeit.
„Bist du verrückt!“, herrschte der ihn an, „immer willst du etwas Besonderes sein. Lass sie gefälligst in Ruhe!“ Und schallend klatschte eine Ohrfeige auf seine Wange.
Aufgeschreckt stoben die Kraniche auseinander und flogen davon. Der Vater drehte sich um und stapfte zum Haus zurück. Rob blieb im Gras liegen und unterdrückte die Tränen. In solchen Augenblicken hasste er seinen Vater abgrundtief.
Schließlich stand er auf, schüttelte Sand und Blätter von der Kleidung, aber ein Blatt hatte sich an seiner Weste wie festgesaugt. Er riss daran herum und als er es beim dritten Anlauf endlich erwischt hatte und das Blatt auf den Boden segelte, überkam ihn ein solcher Wutanfall, dass er wild und völlig außer Kontrolle auf dem Blatt herumtrampelte und es tief in den Boden hineintrat.
Da flog ein Kranich erneut den Rastplatz an und landete sanft auf der Rasenfläche. Erschrocken hielt Rob inne, erwachte wie aus einem bösen Traum, hatte nur noch Augen für den Vogel. Robs Gesichtszüge entspannten sich, und er konnte gar nicht begreifen, wozu er sich gerade hatte hinreißen lassen. Staunend beobachtete er den Kranich, der plötzlich den Kopf hob und zu ihm herübersah.
„Er sieht mich an“, erschrak Rob und lächelte ihm zu.
Er hatte das Gefühl, als herrsche ein stummes Einverständnis zwischen dem Vogel und ihm. Da erhob sich der Kranich und flog davon. Und Rob ging vorsichtig zu dem Rastplatz hinüber, stellte sich genau in die Mitte, winkelte ein Bein an, wie es der Kranich eben getan hatte. Zunächst schwankte er und musste sein Gleichgewicht suchen, aber er gab nicht auf und probierte es immer wieder. Und