zog die Augenbraue hoch, nickte ihm anerkennend zu und schenkte ihm ein süffisantes Lächeln: „Okaaay, ich nehme die Herausforderung an!“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu und gab ihm die Hand: „Ich bin Elisabeth Lehmann, nennen Sie mich einfach Liz.“
„Hartmut Frank“, fast hätte er gesagt, nennen Sie mich Hardy, doch er schluckte es hinunter.
Es entstand eine Pause, und bevor sie sich weiter ausdehnte, nahm ihm Liz das Buch aus der Hand, das Hartmut immer noch aufgeschlagen festhielt, und las vor: „… und in den Nächten fällt die schwere Erde, aus allen Sternen in die Einsamkeit … wir alle fallen, diese Hand da fällt … und sieh dir andere an: es ist in allen.“
„So mag er fallen“, entgegnete Hartmut, nahm das Buch zurück und klappte es zu. Interesse blitzte auf in ihren Augen. Ein Mann, der Rilke mit Shakespeare parierte, der war ihr bisher noch nicht vorgekommen.
Aufgeregt stürzte Amelung zu ihnen ins Zimmer: „Hartmut, schnell ... wir haben gerade einen Anruf bekommen. Ein Mord ganz hier in der Nähe!“
*
Alle rannten nach draußen.
„Wer kennt sich hier aus?“, fragte Hartmut in die Runde.
„Ich natürlich“, entgegnete Libuše, „Marktstraße/Ecke Rathausplatz. Das ist nur ein paar Straßen weiter.“ Mit eiligen Schritten ging sie voraus, und die anderen folgten ihr.
„Stopp!“, rief Jochen Dressler, der noch am nüchternsten zu sein schien.
„Bitte geht wieder zur Wohnung zurück. Das gibt sonst ein Riesen-Chaos. Kommt um Himmels willen dem Tatort nicht zu nah! Keine Fotos! Und die Handys aus!“ Mit diesen Worten sprintete er vor und schirmte mit beiden Händen seine Freunde und den Rest der Partygesellschaft von der Marktstraße ab, in die sie gerade einbiegen wollten.
Sofort waren Kommissar Frank und seine Kollegen Helmut Amelung und Libuše Kipulla an seiner Seite.
„Keinen Schritt weiter“, rief Hartmut, „entweder ihr bleibt, wo ihr seid, oder ihr geht zurück.“
Unter Murren zogen sich einige tatsächlich zurück, aber die meisten blieben an der Ecke stehen. Genau wie die Schaulustigen, die sich trotz der späten Stunde mittlerweile eingefunden hatten. Auf der anderen Seite hatten die Polizisten der Streife bereits die Straße abgesperrt und ließen jetzt den Wagen der Spurensicherung durch.
Es war ein grässlicher Anblick. Inmitten einer Blutlache lag zusammengekrümmt ein Mann, übersät mit Wunden. Hemd und Jacke zerfetzt und blutgetränkt. Wie ein Wilder musste der Mörder auf ihn eingestochen haben, denn kein Körperteil war unverletzt.
Amelung sah seinen Chef an: „Da hat aber jemand gewütet!“
Hartmut nickte nur, hatte Mühe, sich nicht zu übergeben, da ihm auch der Alkohol zusetzte.
Claus Ritter von der Spurensicherung schaltete sich in ihr Gespräch ein: „Ich will ja den Kollegen von der Rechtsmedizin nicht vorgreifen. Aber wenn Sie mich fragen, sind das keine Messerstiche, es kommt mir eher vor, als sei ein Raubtier über ihn hergefallen.“
Er zeigte auf den Unterarm, der übersät war mit Kratz-, und beinahe war man versucht zu sagen, auch mit Bisswunden. Er schüttelte nachdenklich den Kopf: „Aber irgendetwas stimmt hier nicht …“
Libuše kam zu ihnen herüber, warf einen Blick auf die Leiche: „Sieht ja aus wie bei Hitchcocks ,Vögel‘!“
Alle starrten sie an.
„Hab ich was Komisches gesagt?“
„Ein Raubvogel“, sagten Ritter und Kommissar Frank wie aus einem Munde.
„Also ich plädiere eindeutig dafür“, bekräftigte Ritter das eben Gesagte und zeigte auf die Umgebung des Toten, „denn hier fehlt etwas Entscheidendes – die Fußspuren. Rund um die Leiche ist alles blutig, da müssten Spuren zu sehen sein. Da ist nichts. Nada.“
Das konnte ja heiter werden, Hartmut Frank sah schon wieder einen komplizierten Fall auf sich zukommen. Da wandte man sich doch am besten erst mal den Routineaufgaben zu, zumindest dabei bewegte man sich auf sicherem Boden.
Sie begannen mit den Befragungen. Libuše sprach mit den umstehenden Passanten, Amelung vernahm die Nachbarn, die immer noch am Fenster standen. Die anderen würde man am nächsten Tag vernehmen. Hartmut Frank und Jochen Dressler nahmen sich die Kneipe vor, die sich eine Straße weiter befand und deren Wirt die Polizei verständigt hatte. Kaum öffneten sie die Tür des gediegenen Lokals, als sie auch schon die raue eindringliche Stimme Bonnie Tylers in die 80er-Jahre zurückversetzte: „Total Eclipse of the Heart“, der Song passte ja wirklich zu dieser Nacht …
Der Wirt kam den beiden Beamten entgegen. Hartmut stellte sich und seinen Kollegen vor, und alle schüttelten sich die Hand.
„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte er, korrigierte sich auf ihr Kopfschütteln hin, und nachdem er sie etwas genauer in Augenschein genommen hatte: „Vielleicht ein Wasser oder besser einen Kaffee?“
Dressler grinste schief, weil er sofort registrierte, worauf der Wirt anspielte. Kommissar Frank ignorierte die Frage völlig.
„Sie haben den Toten gefunden und die Polizei alarmiert?“, fragte er.
Der Wirt zog die Stirn in Falten, nickte traurig und sah auf einmal um Jahre älter aus. „Kurz nachdem Holger gegangen war, bin ich erst noch im Keller gewesen und hab eine Flasche grauen Burgunder geholt. Da hörte ich den Schrei …“
Er war vor Entsetzen verstummt, nahm sich aber zusammen: „Vorne am Marktplatz haben wir ihn gefunden. Da lag Holger, blutverschmiert, auch auf dem Trottoir war alles voller Blut. Er sah fürchterlich aus. Ich bin natürlich gleich zu ihm hin, hab seinen Namen gerufen … den Puls gefühlt hab ich nicht mehr“, sagte er beinahe schuldbewusst, „man sah ja, dass er tot war. Ansonsten hab ich auch nichts angefasst.“ Mit dieser Aussage nahm er die nächste Frage vorweg.
„Wie spät war das etwa?“, wollte Dressler wissen.
„Kurz vor zwölf ist es gewesen, als er ging. Er faselte immer wieder, er wolle eigentlich noch heute ins Bett, aber gleich sei es schon wieder morgen“, er musste lächeln, „er hatte schon einiges intus.“
„Ist dieser Holger ein häufiger Gast von Ihnen? Kennen Sie ihn näher?“, hakte Hartmut nach.
„Aber klar. Holger Kling, er hat … hatte mein Alter, 54, wir haben zusammen die Schulbank gedrückt und kennen uns ganz gut, waren zwar nicht befreundet, aber in letzter Zeit war er häufig im ‚Goldenen Anker‘!“
„War Herr Kling immer alleine hier, oder kam er auch mal mit Freunden oder einer Freundin?“
„Er war immer allein“, kam es wie aus der Pistole geschossen, „ich glaube, er war recht einsam nach seiner Scheidung, das dürfte so zwei Jahre her sein, seitdem kam er eigentlich ziemlich regelmäßig, meistens mittwochs und samstags.“
„Hatte das einen bestimmten Grund?“
„Nein, er wollte einfach in Ruhe sein Bier trinken, so zwei bis drei am Abend. Und manchmal haben wir eben ein bisschen gequatscht. Über dies und das, selten was Persönliches.“
„Hatte Herr Kling denn Kinder? Und machte er in letzter Zeit einen anderen Eindruck als sonst, besonders heute Abend?“
„Also von Kindern weiß ich nichts, das Thema Ehefrau war tabu, insofern kam auch kein Nachwuchs zur Sprache. Ansonsten kaum Stimmungsschwankungen, meistens war er ganz umgänglich, manchmal ein bisschen melancholisch.“
„Was hat er denn gearbeitet?“, meldete sich Dressler wieder zu Wort.
„Früher war er Beamter, aber dann erbte er viel Land bei Kehdingbruch, und das ließ er sich … na ja … das ließ er sich vergolden.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Ich hab keine Ahnung, was einem Grundeigentümer so eine