Amelung klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Heidi Lührens kam mit einem Tablett voller Tassen mit frisch gekochtem Kaffee ins Zimmer. „Hartmut“, rief sie erfreut, denn sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht, „was war denn los mit dir?“
„Hm“, man sah ihm an, dass ihm sein Schwächeanfall in der Nacht sehr unangenehm war, „ich weiß es auch nicht … wahrscheinlich der Alkohol, ich trinke sonst kaum was.“
„Na, wie dem auch sei“, sagte Heidi, „jetzt gibt’s erst mal Kaffee.“
„Ja, ja“, er versuchte die Erinnerung abzuschütteln, „lasst uns anfangen.“
Betretenes Schweigen. Irritiert schaute Hartmut in die Runde: „Was ist los?“
„Wir warten noch auf jemanden“, erklärte ihm Kollege Dressler, „wir haben es auch erst erfahren, es kommt noch jemand dazu. Sie sollte eigentlich erst am Montag hier sein, aber in Anbetracht der aktuellen Situation wurde sie wohl von unserem heutigen Treffen informiert“, erklärte Amelung.
Hartmut, der gerade einen Schluck Kaffee trinken wollte, setzte die Tasse wieder ab und stellte sie auf den Tisch: „Wie, es kommt noch jemand? Wer denn? Eine Frau? Und wieso wird sie über ein internes Treffen am Sonntag informiert, von wem denn?“
„Von mir“, sagte schuldbewusst Libuše, „es ist eine Bekannte von mir, die ich auf einem Lehrgang kennengelernt habe, und ich hatte ihr damals geraten, sich doch einmal bei uns zu bewerben. Sie ist Fallanalytikerin, besser gesagt eine Profilerin.“
„Wie bitte“, ereiferte sich Hartmut, „sind wir denn in einem Fernseh-Krimi? Seit wann brauchen wir einen Profiler?“
„Eine Profilerin“, die Betonung lag auf der letzten Silbe. Mit einem undefinierbaren Lächeln war Lisa Lehmann ins Zimmer getreten und betrachtete amüsiert Kommissar Frank, ging ein paar Schritte auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Ich glaube, wir wurden einander schon vorgestellt! Bleibt es beim Du?“
Hartmut sah sie mit offenem Mund an. Die mysteriöse Dame von der Party letzte Nacht, mit der er ganz unverschämt geflirtet hatte, weil er eigentlich angenommen hatte, sie nie wiederzusehen.
Libuše glaubte, die Situation etwas auflockern zu müssen: „Wahrscheinlich habt ihr Liz alle schon gestern bei mir kennengelernt oder sie zumindest einmal kurz gesehen.“
„Na, so jemanden kann man ja gar nicht übersehen“, murmelte Dressler, der eine Schwäche für schöne Frauen hatte.
Die Begrüßungsrunde begann, und schnell einigte man sich auch darauf, es bei allen beim ‚Du‘ zu belassen, da sich einige schon am Tag zuvor miteinander unterhalten hatten. Dennoch war das ein unübliches Vorgehen, und es hakte auch bei den meisten mit der Anrede. Und plötzlich war eine gewisse Zurückhaltung zwischen dem eingespielten Team und der Fremden zu spüren, von der man nicht wusste, ob sie sich eingliedern würde oder sich für das Allein-Seligmachende hielt.
*
Der Kranich, der sich als junges Weibchen entpuppte, hatte mittlerweile schon beachtliche Fortschritte gemacht. Am Anfang taumelte er immer wieder, wenn er versuchte, sich fortzubewegen. Da stellte Rob sich direkt vor ihn hin und breitete seine Arme aus. So weit, dass er Cara, wie er den Kranich nun nannte, am liebsten umarmt hätte, stattdessen wedelte er mit den Armen auf und ab und ahmte den Flügelschlag nach. Längst zutraulicher geworden, beobachtete Cara genau, was hier passierte, und versuchte dann vorsichtig, die Flügel zu benutzen.
Täglich übte Rob mit ihr. Und es war für ihn die schönste Zeit am Tag, auf die er sich immer besonders freute. Wenn Cara wieder etwas dazugelernt hatte, war Rob ganz stolz auf sie. Cara durfte bereits eigenmächtig ihren Verschlag verlassen, und wenn Rob in den Hof kam, wurde er freudig von dem Vogel begrüßt. Und wenn er die Arme hob, begann auch Cara mit den Flügeln zu schlagen. Die Wunde am Knie unterhalb der Schwingen im Gefieder war gut verheilt. Doch um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, musste Cara immer noch die Flügel bewegen. Sie konnte noch nicht richtig laufen und brachte lediglich ein lustiges Hopsen zustande. Rob hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel gelacht.
„Cara, süße Cara. Sieh mal, was würdest du denn von mir denken, wenn ich so herumliefe“, dabei hüpfte Rob durch den Hof und stellte sich dabei extra ungeschickt an.
Der Kranich legte den Kopf ein bisschen schief, und Rob hatte das Gefühl, als würde er schmunzeln. Und dann versuchte Cara wieder ein kleines Stück zu fliegen.
„Das war schon viel besser als gestern“, lobte Rob, „du willst doch keine Außenseiterin werden, wenn du erst zu deinen gefiederten Gefährten zurückkehrst.“
Als er hörte, was er da gesagt hatte, musste Rob schlucken, und er wurde traurig. Cara sah ihn forschend an und stupste ihn mit ihrem Schnabel.
„Du verstehst mich so gut“, er streckte seine Hand aus, und Cara machte noch einen Hopser zu ihm hin und knabberte an seinen Fingern. Da traute Rob sich zögernd, ihr ganz sacht das Gefieder zu streicheln.
„So, und jetzt wird nach Nahrung gesucht. Denn du wirst dich ja irgendwann wieder selbst versorgen müssen“, riss Rob sich los, kniete sich hin und scharrte auf dem Boden herum.
Cara reckte ihren langen Hals nach vorne, betrachtete ihn genau und spielte dann mit. Als sie plötzlich ein Maiskorn fand, das Rob vorher dort versteckt hatte, schien sie zu begreifen, dass das ein sehr nützliches Spiel war.
Und endlich kam der Tag, als Cara ihm entgegenflog, als er einmal mit dem Motorrad in den Hof einfuhr. Rob war so froh, und es gab nichts auf der Welt, was er sich mehr wünschte, als dass Cara wieder ganz gesund werden würde. Von nun an begleitete der Kranich Rob bei seinen Fahrten. Er flog dann neben ihm her oder einfach ein Stück voraus. Und Rob drosselte die Geschwindigkeit oder neckte den Vogel, indem er ihm davonsauste. Und man konnte wahrlich von gemeinsamen Ausflügen sprechen, und wenn es das gab, auch von gemeinsamem Glück. Doch Rob wusste: Nun war der Tag nicht mehr fern, an dem er Abschied nehmen musste und Cara zu den anderen Kranichen zurückkehren würde.
*
„Okay“, sagte Hartmut Frank, „tragen wir doch erst einmal zusammen, was wir schon haben.“
Heute holte er nicht seine gefürchtete Schiefertafel und ein Stück Kreide hervor, denn auch bei Kommissar Frank hatte die Computertechnik Einzug gehalten und er hantierte am PC. Und alsbald erschienen an der kalkweißen Wand der Name und ein Foto des Opfers Holger Kling, und Hartmut kommentierte: „54 Jahre alt, lebt von seinem ererbten Grundbesitz, den er an Windparkbetreiber verpachtete, seit zwei Jahren geschieden. Die Ehefrau lebt drüben in Brunsbüttel und ist offenbar neu liiert. Kling galt als unauffälliger, regelmäßiger Besucher des Lokals ‚Goldener Anker‘, ein früherer Schulkamerad des Wirtes dort.“
„Jochen“, er wandte sich Dressler zu, „sprichst du mit seiner Frau? Es dürfte interessant sein, ob sie die Verpachtung der Gebiete guthieß. Dann könnte sich Helmut mal in der Umgebung seines Hofes umhören, was Kling so für ein Zeitgenosse war.“
Beide Kollegen nickten.
„Nun zu Ihnen, besser gesagt zu dir, Liz“, fast hätte er gestottert, „wir haben ja nun wenig konkrete Anhaltspunkte. Unser Mörder hat weder Fingerabdrücke noch Fußspuren hinterlassen. Die Spurensicherung vermutet sogar eher Tod durch einen Raubvogel. Ich weiß ja nun nicht …“
Amelung beendete den Satz für ihn: „… ob hier überhaupt ein echtes Betätigungsfeld für eine Profilerin sein wird. Oder wird jetzt überlegt, ob der Vogel psychisch gestört war?“
„Jetzt schießt du aber scharf“, verschaffte sich Heidi Gehör, „ihr wisst doch noch gar nichts, vielleicht ist es ja doch ein normaler Mörder. Nun gebt der neuen Kollegin doch mal eine Chance!“
„Danke, Heidi. Das ist total nett von dir!“ Im Gegensatz zu ihren Cuxhavener Kollegen hatte Liz keine Schwierigkeiten mit dem ‚Du‘, „aber ich komme schon klar. Und zudem … glaube ich nicht so recht an diese Raubtier-
Theorie. Tiere töten eher, um sich oder ihre Brut zu verteidigen