deshalb so gut, weil sie ihren Vater jahrelang nicht gesehen hatte, bevor der Mord passierte. Sie hatte sich immer nur vorgestellt, er lebt da in Otterndorf mit seiner Schwester Bea, hat bestimmt tausend Geliebte und braucht uns ja offensichtlich überhaupt nicht. Nach der Trennung der Eltern hielt sie zu ihrer Mutter und lebte auch bei ihr. Zu ihrem Vater hatte sie ein zwiespältiges Verhältnis und ihn nur selten auf sein Drängen hin getroffen. Sie gab ihm die Schuld am Unglück ihrer Mutter. Doch im tiefsten Inneren hatte sie sich immer nach ihm gesehnt und ihn schmerzlich vermisst. Nie hatte sie sich ganz gefühlt. Aber dieser Schmerz war dick in Watte verpackt, sodass sie ihn zwar wahrnahm, aber nicht darunter litt, als betreffe er sie gar nicht. Doch sein Tod hatte die Wunde wieder aufgerissen und sie tief erschüttert. Und sofort setzte das schlechte Gewissen ein, ihm nie mehr eine wirkliche Chance gegeben zu haben. Ihre Mutter war fassungslos, dass sie überhaupt mit dem Gedanken spielte, in das Haus ziehen zu wollen, das er der Tochter vererbt hatte. Und zunächst konnte Britta es sich auch nicht vorstellen. Doch als sie das Wohnhaus nach so vielen Jahren wieder betrat – zum Glück in Begleitung ihrer Tante Bea –, spürte sie, dass sie hierhergehörte, dass sie sich konfrontieren wollte und musste. Zudem liebte sie Otterndorf, genauso wie Cuxhaven, eigentlich die gesamte Nordseeregion.
Sie war auf dem Weg nach Hause und konnte sich nicht von den Bildern lösen, die nach den Schilderungen des grausamen Mordes in ihrem Kopf entstanden waren.
Das Piepen ihres Handys erinnerte sie daran, dass sie die Sprachnachricht immer noch nicht abgehört hatte. Eine Angestellte der Volkshochschule teilte ihr mit, dass sich auf die Annonce der VHS hin noch drei weitere Leute gemeldet hatten.
„Was“, rief Britta aus. Damit hatte sie nicht mehr gerechnet. Denn die Ballett-Szenen, die sie sich ausgemalt hatte, waren ohne zusätzliche Mitwirkende kaum zu realisieren.
Sofort sprach sie wiederum eine Nachricht auf den AB der VHS: „Danke für die tolle Neuigkeit! Wenn Sie so nett wären, teilen Sie den Interessenten doch auch die neue Adresse mit, die ich angegeben habe. Zudem haben wir uns einstimmig entschieden, die Proben auf abends zu verlegen, das können sich die Leute eher einrichten. Ich hoffe, das ist für Sie okay? Der nächste Treffpunkt wäre dann Dienstag um 19 Uhr. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich freu mich sehr.“
Die Euphorie kehrte zurück. Der Dämpfer, den ihr ihre Mitstreiter gerade verpasst hatten, löste sich in Luft auf. Mit drei weiteren Leuten werden wir es schaffen. Und plötzlich strahlte sie übers ganze Gesicht, und ihr Schritt beschleunigte sich von ganz allein. Sie wollte nichts als nach Hause und ihre Choreografie neu ausarbeiten. Dennoch hatte sie das seltsame Gefühl, als verfolge sie jemand, sie drehte sich mehrmals um, aber sie sah niemanden.
*
Kommissar Frank und seine Kollegin Libuše standen ratlos in der Marktstraße in Otterndorf. Keine Spur mehr von dem gelben Papier weit und breit.
Libuše fragte vorsichtig: „Und du bist dir ganz sicher, dass da Papier-Schnipsel gelegen haben?“ Es klang ungläubig.
Hartmut nickte: „Keine Papier-Schnipsel, so eine Art Papier-Stern. Auch wenn ich etwas getrunken hatte, glaub mir, er lag dort!“
Libuše rief noch einmal die Spurensicherung an. Und Hartmut inspizierte die hohen grauen Papierkörbe in der Nähe, und zwar richtig. Er leerte die Behälter aufs Trottoir und kramte hemdsärmelig im Müll herum.
„Pah, was stinkt das“, machte Hartmut doch seinem Unmut Luft. Denn am Wochenende sammelte sich eine riesige Menge Unrat an. Aber – beim zweiten Papierkorb hatte er Glück. Da war es! Er fischte ein gelbes Papierknäuel heraus. „Ich hab’s!“
Schon war Libuše zur Stelle. „Na, das hat ja keine so richtige Form mehr“, meinte sie skeptisch.
„Doch, siehst du das nicht“, ereiferte sich Hartmut, „es erinnert an eine Bastelfigur aus dem Kindergarten.“ Er zupfte an den Ecken des Papiers und zog es leicht auseinander, und allmählich schälte sich die ursprüngliche Form wieder heraus.
Libuše machte große Augen und lachte dann: „Das ist kein Bastelknäuel – sondern eine Origami-Figur. Meine Nichte hat da solche Bögen zu Hause mit Faltanleitung.“
Auf Hartmuts fragenden Blick erläuterte sie: „Japanische Faltkunst eben, und das scheint mir ein Kranich zu sein!“
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Britta hatte es sich auf ihrem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und träumte sich zurück zu dem Abend vor ein paar Wochen, als sie mit ihrer Tante Beatrice in Hamburg im Ballett gewesen war.
„Ach herrje, wo hast du mich denn hingeschleppt?“, beschwerte sich Beatrice Peters. Sie saßen im Minerva-Theater – natürlich auf den besten Plätzen, denn Tante Bea hatte ihren großzügigen Tag gehabt, als ihre Nichte sie bat, doch einmal wieder mit ihr in die Oper oder ins Ballett zu gehen. Aber weiter hatte sie sich um nichts gekümmert, lediglich bezahlt, eine ihrer leichtesten Übungen.
„Das ist Kunst, Bea“, erklärte Britta nachsichtig.
„Das ist verstaubter Kram aus der Mottenkiste“, war ihr sarkastischer Kommentar.
Britta prustete los, sollte sie jemals etwas Künstlerisches zuwege bringen, so würde sie es ihrer Tante zur Begutachtung vorlegen, denn was unter ihren Augen Gnade fand, das musste schon etwas Besonderes sein.
Sie saßen in Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“, Britta hatte Lust gehabt auf etwas Konventionelles, aber dass es so bieder inszeniert sein würde, dass hatte auch sie nicht geahnt. Die Musik war natürlich traumhaft, und sie merkte, dass sie den Tänzern auf der Bühne in ihrer Fantasie die rüschigen Kleider auszog und sie mit gewagten Kostümen ausstaffierte und dass sie ihre Bewegungen, ihre Tanzschritte, ihre Gebärden umwandelte in ein viel aufregenderes Ballett. Und da war es geschehen, in ihren Gedanken gingen die Tänze auf der Bühne eine atemberaubende Liaison ein mit der Ausschreibung der Otterndorfer Kranichhaus-Gesellschaft, die originelle Beiträge zu ihrem ehrwürdigen Barockhaus suchte. Und sie sah Kraniche vor sich, sich umtanzen, miteinander streiten, sich umwerben und verlieben.
„Bea, du bist einfach toll!“, teilte sie der Tante mit, als sie in der Pause auf den Barhockern im Foyer saßen und mit einem Sekt anstießen.
„Wie komm ich denn zu der Ehre?“, fragte Bea ehrlich interessiert, denn sie war eine Frau, bei der man mit Komplimenten gar nichts erreichte und die allem auf den Grund gehen musste.
„Deine Kritik hat mich zu einer ganz anderen Choreografie-Idee verleitet“, sie prostete ihr zu, „und die werde ich versuchen, in Otterndorf mit Laiendarstellern umzusetzen.“
„Da hast du dir ja was vorgenommen“, spottete sie, „wie willst du denn ausgerechnet in Otterndorf grazile Balletteusen finden … ich hätte nie gedacht, dass ich mich heute noch amüsieren würde. Es hat schon seinen Grund, warum ich aus dem Dorf weggezogen bin.“
Britta schlug scherzhaft mit dem Programmheft nach ihrer Tante: „Schlange!“
Sofort verfinsterte sich Beas Gesicht, und Britta merkte zu spät, was sie gemacht hatte.
„Tut mir leid“, sie guckte betreten auf ihr Glas, „ich wollte dich nicht an Erika erinnern.“ Beas große Liebe, die sie für die Urlauberin Rita Sieversen verlassen hatte und mit ihr nach Berlin gezogen war.
„Schon gut“, versuchte Beatrice die Vorstellung wegzuschieben, „es sagte eben niemand so liebevoll ‚Schlange‘ zu mir wie Erika. Aber na ja, was vorbei ist, ist vorbei. Wie sagst du immer so schön, auf zu neuen Ufern – aber es gibt hier wahrlich mehr neue Ufer als Flüsse, doch überall schmeckt das Wasser schal und banal.“
„Also, Tante Beatrice“, Britta betonte das Wort Tante, „bitte keine Details! Es wird schon wieder eine kommen, die dir das Herz stiehlt.“
*
Hartmut Frank lieferte das erbeutete Stück Papier bei der Spurensicherung ab und konnte endlich Feierabend machen. Für alle Fälle hatte er in seinem Handy ein Foto davon gespeichert.
Endlich zu Hause, parkte er seinen Wagen in der Garage. Er wohnte in einem der schönen, zurückgesetzten