Hedi Hummel

Kraniche über Otterndorf


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ein gemachter Mann.“

      „Und“, wollte Jochen Dressler wissen, „war er ein gemachter Mann?“

      „Allerdings! Obwohl da unten ja schon eine große Windkraftanlage existiert, ließ er auf seinem Acker- und Weideland noch mal neun Windräder errichten.“

      Dressler überschlug die Summe der Einnahmen und nickte anerkennend: „Nicht schlecht, aber dann steht ja dort ein Windrad am anderen?“

      Der Kneipenwirt zuckte mit den Achseln: „Ich glaube, das war ihm egal. Aber irgendwie hat es ihm kein Glück gebracht. Denn in dieser Zeit ging seine Ehe in die Brüche.“

      „Steht das vielleicht im Zusammenhang miteinander?“, schaltete sich Kommissar Frank ein.

      „Da bin ich überfragt“, musste der Wirt zugeben.

      „Okay, darüber reden wir dann mit seiner Ex-Frau. Und hier im Lokal – hat er sich da vielleicht mit jemandem angefreundet oder öfter mal unterhalten?“

      „Das lässt sich doch gar nicht vermeiden. Wenn man den ganzen Abend an der Bar sitzt, mit Pieter hat er mal geredet und mit Claussen glaub ich auch, die waren aber beide heute nicht hier.“

      Hartmut und Dressler befragten die vier Gäste, die noch im Lokal waren, aber das brachte rein gar nichts. Dressler wurde von einem Kollegen nach draußen geholt, und auch Kommissar Frank verließ die Gastwirtschaft. Er blieb für einen Augenblick alleine in der Marktstraße stehen, trat dann einige Schritte vom Tatort zurück und ließ alles noch einmal auf sich wirken.

      Er stellte sich die Straße vor, wie sie wohl üblicherweise gegen Mitternacht aussah, und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen darauf. Dann öffnete er die Augen abrupt, um alle Veränderungen in sich aufzunehmen. Wie bei diesen Bilderrätseln in Zeitschriften ‚Original und Fälschung‘, wo es nur winzige Details gab, die im zweiten Bild anders waren, musterte er minutiös jeden Straßenabschnitt.

      Natürlich war da jetzt mittlerweile mit Kreide die Stelle markiert, wo der Tote gelegen hatte. Das Lokal „Goldener Anker“ war nach wie vor erleuchtet, an den umliegenden Häusern fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Er sah hinüber zur Absperrung, forschte im Gesicht eines jeden Schaulustigen, die sich immer noch nicht hatten vertreiben lassen, nach einer Gefühlsregung, die sich von purer Sensationsgier unterschied, verfolgte den Einsatz seiner Kollegen von der Spurensicherung. Da fiel ihm ein kantig zusammengeknülltes Stück Papier auf dem Trottoir ins Auge. Wenn er den Tatort quasi wie ein Gemälde betrachtete, so kam ihm das Papierknäuel wie die Signatur des Malers am rechten unteren Bildrand vor. Während er hinüberging, streifte er sich seine Handschuhe über und wollte das Fundstück in eine Plastiktüte stecken. Da meinte er das Geräusch von Vogelschwingen in der Luft zu hören. Das konnte doch gar nicht sein, es musste sich um eine Sinnestäuschung handeln. Er hob den Blick und schaute hinüber zum Kranichhaus genau ins Auge des Wächters auf dem Dach, das ihn abschätzig, fast drohend musterte. Du hast alles gesehen, dachte Hartmut, da wurde ihm schwindlig, und er musste sich übergeben.

      *

      Der Schatten des Flügels zog Kreise über der Lichtung des kleinen Waldstücks, in dem Rob Zuflucht suchte. Überdimensional bewegte er sich am Firmament, und selbst wenn Rob seine Augen schloss, nahm er in gleichmäßigen Abständen dunkle Balken wahr. Sssst … ssst … ssst … ssst … ssst … dieses Geräusch drang tief in sein Bewusstsein und trat nur für kurze Zeit in den Hintergrund, wenn er völlig in seine Gedanken versunken war. Er lag im Gras und sah nach oben, und kein Vogel schwirrte da über ihn hin. Sondern die riesigen Arme des Windrads. Ssst … ssst … ssst … ssst … ssst … ssst ... hell – dunkel – hell – dunkel – Sonne – Rauschen – Surren.

      Doch wie oft trugen ihn seine Gedanken mit sich fort, drehten sich in den Himmel hinein und breiteten sich dort aus, wurden zu einem Körper, zu echten Flügeln, zu staksigen Beinen, einem Schnabel und erhoben sich als Kraniche in die Luft … und folgten dort den Linien, den heiligen Linien, die über das ganze Land verteilt waren, es in gute und gefährliche Bezirke aufteilten. Die Linien, über die sein Vater ein Buch geschrieben hatte, das Rob wie seinen Augapfel hütete und aus dem er ihm und den anderen Kindern an guten Tagen vorgelesen hatte. Bruchstücke davon würde er stets in seinem Innern bewahren, wo er auch sein würde, was immer auch geschah … und es würde etwas geschehen, er spürte es in seinem Blut, in seinem Herzen, und er hatte Angst vor dieser Ahnung, Angst vor dem Kommenden, Angst vor sich selbst.

      Ssst … ssst … ssst … von oben, ein Surren und Trompeten von vorn, da kamen sie … Flügel an Flügel … krarr … krruh … krarr … krruh … wie in Wellen wurden die Rufe zu ihm herübergetragen … ein Schwarm von Kranichen am Horizont … ein wundervoller Anblick … Rob blinzelte in die Sonne, beschattete seine Augen mit der einen Hand – es war ein gewaltiges Schauspiel … um Robs Mundwinkel trat ein milder, weicher Ausdruck. Vergessen waren alle Befürchtungen, denn wenn Kraniche in seiner Nähe waren, so fühlte er sich leicht und beschwingt und in Sicherheit. Er lag im Gras und lächelte.

      Da hörte er ein dumpfes Geräusch und gleich darauf ein schrilles Krächzen. Er sah nach oben, musste mit der Hand die Sonne abschirmen, bevor er etwas erkennen konnte. War da nicht ein Vogel in der Luft, ganz oben in der Nähe des Windrades? Oder hatte er sich getäuscht? Da, was war das – er sah etwas Dunkles vom Himmel fallen. Vielleicht einer der Kraniche, die eben vorbeigezogen waren?

      Rob sprang auf. Nie kam er der Windkraftanlage näher als bis zu dieser Waldlichtung. Nun überwand er seinen Widerwillen und stapfte durch das hohe Gras, zwängte sich durch einige Büsche hindurch, bis er vor dem mächtigen, tonnenschweren Stahlkörper des Windrades stand. Der untere Teil war in mattgrüner Tarnfarbe angelegt, die dann immer blasser wurde und schließlich ins Weiße überging. Auf einem Beton-Fundament verankert, mit einer kleinen Eisentreppe zur Eingangstür hinauf, umringt von einem Meer von Brennnesseln. Er schaute vom Fuße des Windrades zu den Rotorblättern hinauf: Wie ein ewig langer, immer spitzer werdender Schornstein bohrte sich der Turm in die Wolken. Rob stieg die paar Stufen der Treppe hinauf und blickte sich um. Überall Brennnesseln, dann Sträucher und Bäume, aber kein Tier, das Hilfe brauchte. Doch da bewegte sich etwas dicht neben einem Busch! Vorsichtig näherte sich Rob der Stelle. Da lag tatsächlich ein Kranich auf dem Boden!

      Er war verletzt. Robs Herz krampfte sich zusammen. Es schien noch ein junges Tier zu sein und gab klägliche Laute von sich. Besänftigend sprach Rob auf den verängstigten Vogel ein und untersuchte ihn dabei behutsam. Am Kniegelenk stimmte etwas nicht. Er war sich nicht sicher, wie es zu der Verletzung gekommen war. Ob der Kranich die weißen Rotorblätter des Windrades als Wolkenschleier wahrgenommen oder ihre Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hatte? Der Vogel zuckte zusammen, als Rob den rechten Flügel berührte, gebrochen schien da aber nichts zu sein. Beim Kniegelenk war er sich nicht so sicher. Der Kranich wich vor ihm zurück, hielt aber dann einen Augenblick still, als spüre er, dass Rob es gut mit ihm meinte.

      Immer diese verfluchten Windräder! Rob hasste diese Dinger, nicht nur, dass sie die Landschaft verschandelten, sie waren auch eine große Gefahr für Vögel.

      Rob zog dem Kranich seine Jacke über den Kopf, worauf er sich sofort beruhigte, brachte ihn mit dem Motorrad zu seinem Hof und bereitete ihm einen Platz in seinem Gewächshaus. Hier untersuchte er ihn genauer, reinigte die Wunde und schiente mit einem Stöckchen sein Bein. Das war kein leichtes Unterfangen, denn der Vogel schlug ängstlich mit den Flügeln, war aber schon sehr entkräftet. Rob vermutete, dass er auch schon länger nichts zu fressen bekommen hatte, und er sah sich in seiner Küche um, ob er etwas hatte, was den ersten Hunger stillen könnte. Er weichte ein paar Haferflocken in Wasser ein. Heidelbeeren waren auch noch da. Mit einem Holzstäbchen versuchte er ihn zu füttern und hielt ihm dazwischen die Heidelbeeren hin. Rob stieß dabei leicht trillernde Laute aus, wie er es früher oft getan hatte, wenn er mit dem Vater oder auch alleine die Kraniche beobachtete. Dabei sah er dem jungen Tier in seine schönen, noch dunklen Augen, und der Vogel schaute zurück, als verstehe er alles, was Rob dachte und sagte. Und nach einer Weile erwiderte er zaghaft das Trillern. Und Rob strahlte übers ganze Gesicht, als der Kranich zu fressen begann.

      *

      Kommissar Frank erschien am nächsten Morgen