Hedi Hummel

Kraniche über Otterndorf


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fließenden Bewegungen den Tanz des Kranichs.

      Das war einen Tag vor Robs zwölftem Geburtstag.

      Kranichhaus, Otterndorf

      23.55 Uhr

      Ein dunkler Schatten kreiste über Otterndorf, schwärzer als der Himmel vor Mitternacht. Lautloser Flügelschlag. Der Vogel flog suchend über den Rathausplatz, spähte nach allen Seiten aus. Zwei rote Augen leuchteten bedrohlich aus dichtem Gefieder.

      Da öffnete sich die Tür der Kneipe „Zum Goldenen Anker“, und ein Mann trat leicht schwankend auf die Straße. Der Vogel reckte den Kopf in die Höhe und lauschte in die Nacht. Glitt langsam auf den Mann zu. Dieser fühlte sich sicher, geborgen in vertrauter Umgebung, doch alarmiert von einer bösen Vorahnung hob sich sein Blick.

      Seine Augen weiteten sich vor Schreck, ein schwarz gefiedertes Etwas stieß auf ihn zu. Er nahm nur Federn und Krallen wahr und dieses stechend-blitzende Augenpaar. Er wollte weglaufen, aber seine Glieder versagten, gelähmt vor Entsetzen. Der Vogel stürzte sich auf ihn herab. Und ein Schrei gellte durch die mondverhangene Nacht.

      Als die Uhr der St. Severi-Kirche zu schlagen begann, hob der grausame Vogel seinen Kopf, achtete nicht auf das Blut, das aus seinem Schnabel rann. Sein Blick saugte sich fest am barocken Kranichhaus schräg gegenüber dem Rathausplatz.

      Der Kranich auf dem Dachgiebel des mächtigen Backsteingebäudes beobachtete ihn, und die Sage wurde lebendig, der Bronzekranich warf die Kugel, die er mit seiner Kralle umklammert hielt, ein paar Stockwerke nach unten zu dem kleinen Kranich über der Tür. Gespenstisch hämmerten die Schläge der Kirchturmuhr von St. Severi zu ihm herüber. Während der junge Vogel die Kugel auffing, reckte sich der andere oben auf dem Giebel, spreizte seine Flügel, und man hatte den Eindruck, als wolle er sich auf den mörderischen Vogel unten auf der Straße stürzen, doch da schlug es die zwölfte Stunde, und gefangen in der Überlieferung, die ihn zur Wachsamkeit, nicht aber zum Eingreifen verdammte, fing er die Kugel wieder auf. Mit erhobener Kralle, die das ihm eigene Gut fest umschloss, versteinerten seine Bewegungen. Und der Kranich stand wieder aufrecht und stolz auf dem Giebel des Daches und blickte grimmig zu dem blutüberströmten Bündel auf dem Boden und dem Vogel, der triumphierend auf der Leiche seines Opfers saß.

      *

      Kommissar Hartmut Frank kehrte ins Haus zurück. Warum konnte er sich auch das Rauchen nicht abgewöhnen? Zum Glück gab es immer noch hin und wieder einen Zigarettenautomaten. Es war schon ziemlich spät, aber die Fete bei seiner Kollegin Libuše Kipulla war noch in vollem Gange.

      „Hey, Hartmut, du warst ja lange weg!“ Jochen Dressler kam auf ihn zu und brachte ihm gleich ein neues Glas Wein mit.

      Hartmut Frank nahm es, obwohl er nicht sicher war, ob er überhaupt noch etwas trinken sollte.

      „Wo bist du denn herumgelaufen? Bitte zieh deine Schuhe aus, du machst ja alles dreckig!“, regte sich Libuše auf, aber sie lachte schon wieder und prostete ihm zu, denn sie hatte eine kleine Schwäche für ihren Chef.

      Mit einer Hand zog er die Schuhe aus, mit der andern hielt er das Weinglas fest, nahm einen kräftigen Schluck und spürte plötzlich so etwas wie Euphorie: „Wisst ihr, worauf es ankommt im Leben – packt man es oder packt man es nicht?“

      „Hört, hört“, rief sein auch schon angeheiterter Kollege Helmut Amelung und biss in ein Lachsbrötchen. Jetzt hatte Hartmut die Aufmerksamkeit aller.

      „Jeden Tag gehen wir zur Arbeit, klar, es ist nicht unwichtig, was wir tun, da haben wir noch Glück. Dann guckt man, dass man alles hat, was man so braucht, ein Auto, ’ne Wohnung und dies und das. Manche haben auch einen Partner gefunden. Aber im Grunde geht es darum: Werden wir am Ende ausgespien oder eben nicht!“

      Seine Kollegen und ein paar andere Partygäste schauten ihn überrascht und etwas ratlos an.

      „Wow“, anerkennend klopfte ihm einer von Libušes Freunden auf die Schulter, „ich wusste gar nicht, dass Sie bibelfest sind!“

      Auf Amelungs fragenden Blick erläuterte er: „,Weil du lau bist, weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde‘, steht irgendwo in der Johannes-Offenbarung.“

      „Und das beschäftigt dich?“, wollte Libuše wissen und wusste gar nicht, ob sie das nun seltsam oder interessant finden sollte, eigentlich eher Letzteres.

      Hartmut war verstummt und sah alle der Reihe nach an, und fast hatte man den Eindruck, als wolle er sich wieder in sich selbst zurückziehen. Aber nein, er hatte sich entschieden, ein anderer zu werden. Und warum sollte ihm das nicht gelingen: „Kinder, ich hab einfach keine Lust mehr auf dieses Herumlavieren, und ich will auch nicht mehr der nette Typ sein, der es allen recht macht!“

      „Das kann ich dir nachfühlen, Hartmut“, seine Sekretärin Heidi Lührens nahm ihm das Glas aus der Hand, „ich bin völlig deiner Meinung. Aber ich glaube, für heute hast du genug getrunken.“

      *

      Jeder Mensch sucht etwas im Leben. Und wie berauschend ist es, wenn er es dann erhält! Nur zu spät darf sie nicht kommen – die Erfüllung. Und wehe dem, der am Ende erkennt, dass sie ein Irrtum war, und er sich eigentlich nach etwas ganz anderem gesehnt hatte …

      Hartmut Frank hatte die Liebe gesucht und die Lyrik gefunden. Es gibt wahrlich Schlimmeres, dachte er und machte es sich im Nebenzimmer auf der durchgesessenen Couch mit fast verblichenem Bezug gemütlich. Abseits vom Partytrubel, mit dem Blick auf einen geschwungenen antiken Bücherschrank, überfüllt mit Büchern, die auch noch quer über die anderen geschoben waren. Hier konnte er zu sich kommen. Immer wenn er etwas getrunken hatte, was ja immer seltener vorkam, musste er an Rita Sieversen denken, die Urlauberin, die hier einen Toten gefunden und in die er sich schließlich verliebt hatte. Wie oft hatte er sich ihren herrlichen Augenaufschlag vorgestellt und wie sie ihr Haar nach hinten schnickte. Auch jetzt zauberte dieses Bild sofort wieder ein Lächeln auf sein Gesicht. Er war ihr nachgereist, nachdem der Fall aufgeklärt war, und obwohl er wusste, dass sie frisch verliebt war, wollte er es nicht wahrhaben. Wollte nicht wahrhaben, dass sie ihm eine junge Frau vorgezogen hatte, eine Frau … Aber mit so etwas musste man ja heutzutage rechnen, und er hatte auch gar nichts dagegen, nur wenn man selbst so sehr verliebt war, dass man zum ersten Mal am eigenen Leib spürte, was es heißt, für jemanden einen Stern vom Himmel holen zu wollen … Doch sämtliche Sterne blieben ungepflückt.

      Er stand auf und ließ seinen Blick über die Titel der Buchrücken gleiten. Libuše hatte höchst Unterschiedliches zusammengetragen, Werke ihrer tschechischen Heimat lehnten an ausgesuchten Büchern der großen Literatur, daneben gab es deftige Krimikost und tagesaktuelle Romane. Ein paar schmale Bändchen mit Gedichten waren auch dabei. Hartmut zog eins heraus und schlug es auf, da fiel ein getrocknetes Blatt heraus und zerbröselte in seiner Hand. Wie ein kleiner unglücklicher Junge sah er aus, der gerade eine kostbare Weihnachtskugel zerbrochen hatte …

      „Na, da haben Sie ja was angestellt“, vernahm er eine weibliche Stimme aus der schattigen Ecke des Zimmers. Es klang freundlich.

      Kommissar Frank schreckte auf. Da kam sie auch schon auf ihn zu, die unbekannte Beobachterin, bewegte sich geschmeidig wie eine Katze, durchaus bereit, wenn nötig die Krallen auszufahren. Halblange blonde Haare umrahmten ein kluges Gesicht, das immer zum Scherzen bereit schien. Verschwörerisch funkelten ihn ihre grünen Augen an: „Keine Angst, ich verrate nichts.“

      Er hatte sich wieder in der Gewalt, brachte sogar ein Lächeln zustande: „Danke, aber natürlich sage ich es Libuše.“

      „Ah, Sie sind so ein ganz Ehrlicher?“

      Selbstverständlich war er das, aber hatte er sich nicht gerade entschlossen, sich zu ändern? Da er zu lange zögerte, schien sie umzudenken: „… oder vielleicht doch nicht?“ Es klang zwar überrascht, doch auch interessiert.

      Ihm war die Veränderung in ihrer Stimme aufgefallen. Es ist doch immer dasselbe, die Frauen wollen keine netten, ehrlichen Männer – nur