Hedi Hummel

Kraniche über Otterndorf


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nur töten, er wollte bestrafen, er wollte vernichten, auslöschen. Wut steckt dahinter, ein konkreter Anlass. Rache vielleicht, bestimmt sogar“, überlegte sie.

      Sie ging zum Tisch, auf dem die Fotos vom Tatort lagen, betrachtete sie noch einmal der Reihe nach. „Es war ein regelrechtes Gemetzel. Und warum wurde er gerade auf diese Art umgebracht? Genau wie draußen in der rauen Natur ein Opfer von einem stärkeren Gegner gerissen wird.“

      „Ich würde nicht sagen, genau wie in der rauen Natur, sondern tatsächlich in der Natur, es war ein Raubvogel“, sagte Amelung.

      Liz zuckte mit den Achseln: „Da müssen wir den medizinischen Bericht abwarten. Wenn es ein Tier war, dann ein scharf abgerichtetes … und da stünde ja dann auch wieder ein Mensch dahinter.“

      „Und was ist mit dem klitzekleinen Detail, dass keine Fußspuren in der Blutlache zu sehen waren?“, fragte Dressler.

      Keiner sagte mehr etwas, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.

      „Am besten nehme ich mir die Unterlagen einmal mit“, schlug Liz vor. „Ich habe im Best Western am Hafen gebucht. Vorerst kann ich von dort aus arbeiten, bis ich hier vielleicht ein Zimmer oder zumindest einen Schreibtisch bekomme“, dabei schaute sie Hartmut Frank fragend an.

      „Das lässt sich sicher machen“, er lächelte sie nun doch an, „wir wurden ja mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt … “ Das konnte ja heiter werden, Hartmut war noch nicht einmal Zeit geblieben, sich darüber klar zu werden, was er denn nun davon hielt, seine Party-­Bekanntschaft so schnell wiederzusehen. Und nun würde er sie täglich treffen, auf engstem Raum mit ihr arbeiten, es machte ihn nervös, aber – er begann sich insgeheim auch ein bisschen darauf zu freuen.

      Liz war eine selbstbewusste, geradlinige Frau, nicht ohne Ehrgeiz, der sie aber noch nie in ihrem Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte. Sie hatte lange Zeit in Berlin gelebt, doch sie musste weg aus der Stadt, und das hatte einen triftigen Grund ... einen Grund, der niemanden etwas anging.

      Sie hatte sich auf gut Glück erkundigt, ob in den Nordregionen eine Fallanalytikerin gebraucht wurde, und man hatte ihr zugesagt, dass sie in Cuxhaven beim nächsten größeren Fall dabei sein würde. Dass es so schnell gehen würde, hatte sie jetzt wirklich nicht gedacht. Es konnte doch kein Zufall sein, dass sie nun ausgerechnet hier diesen Mann wiedertraf, der sie gestern Abend tatsächlich beeindruckt hatte mit seiner poetischen Schlagfertigkeit und, wenn sie ehrlich war, nicht nur damit. Sie erwiderte sein Lächeln und dachte dabei, mein kleiner „Bard of Avon“, dieser Spitzname Shakespeares klang in ihrer Vorstellung fast wie ein Kosewort.

      „Wo ist das zerknitterte Papier?“, wie vom Donner gerührt war Hartmut aufgesprungen, das hatte er völlig vergessen, „ich hab es gestern nicht mehr gepackt, es einzutüten.“

      Alle schauten ihn verständnislos an.

      „Das gibt es doch nicht“, Hartmut konnte es nicht fassen, „es war ein zusammengeknülltes, gelbes Stück Papier. Ich weiß, dass es wichtig ist.“

      „Wir haben die Sachen des Toten sichergestellt, es waren ihm ein paar Dinge aus der Jacke gefallen. Aber ein Papierknäuel war nicht dabei“, erklärte Jochen Dressler.

      „Das ist doch nicht euer Ernst! Es muss ganz in der Nähe von dem Ort gelegen haben, an dem ich … nun sagen wir mal, ein bisschen in die Knie gegangen bin. Wie oft haben wir schon Tatort-Begehungen gemacht, wir dürfen einfach nicht nur den kleinsten Radius nehmen. Da muss alles, wirklich alles inspiziert werden“, sagte der Kommissar verärgert und griff sich seine Jacke, „ich fahre sofort wieder nach Otterndorf.“

      „Jetzt mach mal halblang“, sagte Amelung, „vielleicht hat es auch der Wind weggeweht. Und du hattest es ja wohl auch wieder vergessen.“

      „Warte“, sagte Libuše zu ihrem Chef, „ich komme mit. Wir sind doch hier ohnehin fertig für heute, nehme ich an.“

      Dunkler Tanz des Kranichs

      „Was sage ich euch schon die ganze Zeit“, Britta Peters ging ungeduldig vor der Bühne auf und ab, „mit Gefühl … mit mehr Gefühl!“

      Die Tanzenden auf der Probebühne hielten außer Atem inne und schauten missmutig zu ihrer Choreografin hinunter. Sie hatten sich das alles leichter vorgestellt, sie waren doch keine Profitruppe, sondern ein zusammengewürfeltes Grüppchen der Volkshochschule. Und Britta Peters, die den Kurs leitete, war keine Pariser Ballett-Choreografin, sondern hatte gerade erst ihr Studium beendet, dafür aber höchst eigenwillige Vorstellungen.

      „Entschuldigt“, kehrte Britta auf den Boden der Tatsachen zurück, „ich weiß, dass ich euch zu sehr trieze, aber ich habe die gesamte Vorstellung schon genau im Kopf und sehe alles vor mir ablaufen, und das sieht irgendwie anders aus.“

      „Ja, aber es soll doch auch Spaß machen“, verteidigte sich Heiner und schaute Beifall heischend in die Runde. Manche nickten ihm zu, aber Henriette brachte es auf den Punkt: „Du hast bestimmt ein tolles Stück entworfen, aber irgendwie verzettelst du dich beim Erklären. Du gibst uns ein Bild und wir versuchen es umzusetzen, und schon kommt das nächste und das nächste.“

      Ernüchtert schaute Britta zu ihren Mitstreitern auf der Bühne: „Ein bisschen liegt es auch daran, dass wir noch ein paar zusätzliche Mitwirkende brauchen könnten. So will ich zu viel in eine Person legen. Okay – lasst uns noch mal ganz neu anfangen – bitte?“

      Einer nach dem anderen stieg zu ihr herunter, Henriette legte den Arm um ihre Schultern: „Klar machen wir das. Wir wollen doch schließlich gewinnen“, und sie schaute aufmüpfig die anderen an, „oder?“ Zustimmung kam von allen Seiten. Denn keiner hatte Lust, Britta ernsthaft anzugreifen, da sie eine dieser Frauen war, die beinahe jeder mochte: sympathisch, offen, freundlich.

      Heute zur Probe hatte sie ihre langen, braunen Haare mit einer blauen Schleife zu einem flotten Zopf zurückgebunden, der sie noch sportlicher aussehen ließ als sonst. Und energisch – denn sie wusste, was sie wollte, ohne die anderen damit zu überfahren. Ein bisschen übereifrig war sie allerdings, gerade bei Dingen, an denen ihr Herz hing. Denn natürlich wollte auch sie gewinnen.

      Die Otterndorfer Kranichhaus-Gesellschaft hatte zum bevorstehenden Jubiläum ihres 60-jährigen Bestehens einen Wettbewerb ausgeschrieben: Gruppen und Einzelpersonen sollten einen künstlerischen Beitrag zu einem Thema rund um das Kranichhaus leisten. Und Britta Peters hatte sich eine Choreografie ausgedacht, die nun wirklich zu dem Barockhaus passte: Der Tanz des Kranichs.

      Es war ihr vor Kurzem eingefallen, als sie in Hamburg im Theater eine Szene aus „Schwanensee“ gesehen hatte. Plötzlich nahmen die herrlichen Balzgebärden der Kraniche vor ihren Augen Gestalt an, und die Idee war geboren. Das gab dann auch den Ausschlag, gänzlich in das Otterndorfer Haus ihrer Tante Beatrice zu ziehen. Bisher hatte sie in einer kleinen Studentenwohnung in Hamburg gewohnt, die sie jetzt aufgab. Beatrice Peters war nach Cuxhaven gezogen und kümmerte sich wieder mehr um die Führung ihrer Firma „Globus“. Sie war auf dem besten Weg, wieder zu der knallharten Geschäftsfrau zu werden, die sie gewesen war, bevor sie die Liebe für sich entdeckte. Doch sie hatte ihre große Liebe verloren, und dem schalen Beigeschmack des Verschmähtwerdens konnte sie bisher noch nichts anderes entgegensetzen.

      Überraschenderweise fühlte sich Britta in dem großen Haus wohl, in dem sie glückliche Kindheitsjahre verbracht hatte. Obwohl doch ihr Vater dort …

      Unsanft wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Auch alle anderen schauten erschrocken auf, als der Hausmeister plötzlich in die Halle stürzte. Aufgeregt berichtete er von dem grausigen Mord, der in der Nacht davor entdeckt worden war. Obwohl ihr Treffen noch gar nicht so lange dauerte, hatte keiner mehr Lust, weiter zu proben.

      *

      Eine Fremde kommt an einen neuen Ort, und ein Mord geschieht, überlegte Britta. So war es vor einiger Zeit der Urlauberin Rita Sieversen in Cuxhaven ergangen. War Britta etwa die Nächste, die das erleben musste? Aber so fremd war sie ja schließlich gar nicht.