ich. Ansonsten hab ich erst mal nichts zu bieten.“
*
„In der Umgebung seines Gehöfts bei Kehdingbruch konnten die Leute nicht viel über Holger Kling erzählen“, berichtete Amelung bei der Lagebesprechung, „er tauchte da nur selten auf und blieb auch weiterhin in Otterndorf wohnen. Befragt man dort seine Nachbarn, so galt er als ruhiger Zeitgenosse, war freundlich und umgänglich, nur in der Zeit, als ihn seine Frau verließ, wirkte er niedergeschlagen und fahrig. Jeder, den man fragte, war entsetzt über seinen gewaltsamen Tod.“
„Ich war in Brunsbüttel und hab mich mit Klings Ex-Frau unterhalten“, referierte als Nächster Jochen Dressler. „Eine durch und durch bodenständige, sehr sympathische Frau. Sie lebt dort allein, hat einen neuen Freund, war aber ehrlich erschüttert über das Schicksal ihres früheren Ehemanns. Was die Verpachtung seines Ackerlandes an die Windanlagenfirma angeht, das fand sie wohl nicht toll, sie ist aber keine ausgesprochene Windkraft-Gegnerin. Die Eheleute haben sich zwar kurz danach getrennt, doch sie betonte, dass das rein private Gründe hatte.“
„Glaubst du, sie könnte irgendetwas mit der Tat zu tun haben?“, fragte Hartmut.
Dressler schüttelte heftig den Kopf: „Auf keinen Fall! An dem Abend feierte sie in großer Runde das 25. Firmenjubiläum einer Freundin. Das dauerte bis in die Morgenstunden, und sie hat etwa dreißig Zeugen, die ihr Alibi bestätigen können. Nur …, ich hab sie nach dem Hörvermögen ihres Ex-Mannes gefragt, wegen des teuren Hörgerätes ...“, er zögerte, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „er hörte tatsächlich ein bisschen schlechter, aber ein so spezielles Hörgerät hatte er ihrer Meinung nach nicht nötig.“
„Na ja“, warf Libuše ein, „so was Besonderes ist das doch nicht. Die beiden sind doch schon zwei Jahre getrennt, in der Zwischenzeit kann sich das doch verschlechtert haben.“
„Selbstverständlich“, überlegte Dressler, „aber irgendetwas daran macht mich stutzig.“
Hartmut bekräftigte seine Einschätzung: „Mir kam das auch gleich seltsam vor. Wir lassen das Gerät auf jeden Fall von einem Fachmann untersuchen.“
„Ich habe die Nachbarn der umliegenden Häuser des Tatorts befragt“, setzte Libuše die Runde fort, „die meisten haben nichts mitbekommen. Bis auf den Schrei natürlich. Bis dann jemand am Fenster oder auf der Straße war, hatte man sich nur noch für die Leiche interessiert. Frau Bedecker allerdings, die über dem Bäcker wohnt, hat einen großen Vogel wegfliegen gesehen. Und jetzt haltet euch fest, der Junge von Paulsens erzählte mir ganz aufgeregt, er habe die Tat beobachtet. Ein großer Vogel habe den Ermordeten von hinten angefallen und immer wieder auf ihn eingehackt. Der junge Paulsen hatte heimlich zu später Stunde ferngesehen und hätte es erst gar nicht glauben können, weil es wohl wirkte wie in einem Gruselfilm. Alles sei so schnell gegangen, dass es schon vorbei gewesen war, als er seine Eltern holte. Und die hatten dann gedacht, er erzähle Märchen.“
„Das ist ja wirklich der Hammer“, machte Dressler sich Luft.
Und Hartmut wollte wissen: „Wie schätzt du den Jungen ein? Kann man ihm trauen?“
„Also, ich glaube ihm schon“, überlegte Libuše, „im Gegensatz zu seinen Eltern. Selbst als sie die Leiche sahen, sprachen sie nur von seiner ungezügelten Fantasie. Was allerdings wirklich sehr dubios klingt, er behauptet stock und steif, es hätte sich um einen Kranich gehandelt.“
„Ein Kranich?“, Dressler konnte es nicht fassen, „die greifen doch niemanden an, und vor allem töten sie keine Menschen!“
„Das wäre dann der Erste“, stellte Libuše trocken fest.
„Ist das dein Ernst?“, fragte Hartmut sie mit eindringlicher Stimme.
„Nun könnten wir ja vielleicht noch einmal neu über meine Vermutung diskutieren, inwieweit man Kraniche abrichten kann“, mischte sich Liz mit süffisantem Lächeln ein und trat in die Mitte des Raums.
„Dazu kann euch mit Sicherheit Maria Marquard etwas sagen“, trumpfte Amelung auf, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, „sie ist Falknerin und eine enge Freundin meiner Schwester!“
„Na, dann mal her mit ihr!“, sagte Hartmut Frank, „ist doch interessant, was ihr alle für Freunde und Bekannte habt.“ Dabei ruhte sein Blick wohlgefällig auf Liz, die ihn daraufhin so herausfordernd anschaute, dass er plötzlich gute Laune bekam.
*
Endlich war Dienstagabend. Britta schwang sich stolz auf ihren neuen Motorroller. Es war schon ein prächtiges Teil, eine schicke cremefarbene Vespa, genau das Richtige für den Stadtverkehr und kurze Fahrten über Land. Es war die erste Anschaffung vom Geld ihrer Tante, es würden noch weitere folgen. Da die Proben seit heute in den Seelandhallen Achtern Diek stattfinden sollten, fühlte sich die junge Choreografin für die An- und Abreise gewappnet. Zu Fuß war das schon ein Angang, die Hallen befanden sich außerhalb in der Nähe des Campingplatzes, nahe der Medemmündung in die Elbe. Und sie war sich noch nicht sicher, ob sie den Ort beibehalten sollten. Vor allem für den Rückweg sollten sich Fahrgemeinschaften zusammenfinden.
Heiner, Henriette und die anderen waren schon da und hatten sich zusammen in den Zuschauerraum gesetzt. Eine unbekannte Frau stand bei ihnen, und das Gespräch schien zu florieren. Ein etwa dreißigjähriger Mann versuchte anzudocken, was nicht so gut gelang.
Britta ging auf die Gruppe zu, war aber dennoch nicht ganz bei der Sache, sollte nicht noch ein Dritter dazukommen?
„Hallo“, sie gab zuerst der Frau die Hand, dann dem Mann, „ich bin Britta Peters. Toll, dass Sie zu unserer Gruppe stoßen!“
Es stürmten nun Begeisterungsbekundungen, Kurz-Biografien und allerlei Fragen auf sie ein. Aber nichts davon drang wirklich bis zu ihr vor. Sie stand nur lächelnd da und nickte und gab Laute von sich, die als Zustimmung gedeutet werden konnten. Denn sie hatte ganz hinten im Saal in einer der letzten Reihen einen Mann entdeckt, der die Gruppe interessiert beobachtete, aber aus irgendeinem Grund nicht nach vorne kam. Entweder war er zu schüchtern oder noch nicht sicher, ob er wirklich teilnehmen sollte. Britta wusste auch nicht, warum sie der Fremde so nervös machte, immer wieder schaute sie zu ihm.
„Hallo, junger Mann“, rief sie ihm schließlich zu. Das war eine ziemliche Übertreibung, aber sie wusste nicht, wie sie die Anrede formulieren sollte, „möchten Sie nicht zu uns kommen?“
Unbehaglich rutschte der auf seinem Stuhl hin und her, schien sich dann aber einen Ruck zu geben, stand auf und kam nach vorne. Sein Gang war langsam und vorsichtig, entbehrte jedoch nicht einer gewissen Eleganz. Ganz in Schwarz gekleidet, aufrechte Körperhaltung, dunkle Haare, stechend blaue Augen, die er jedoch meistens abzuwenden versuchte. Britta bemerkte durchaus die Schärfe seines Blicks, hätte aber die Augen eher als leuchtend blau beschrieben. Unwillkürlich lächelte sie ihn an. Sie schätzte ihn auf etwa 30 Jahre, nur ein paar Jahre älter als sie.
Zögernd reichte er ihr die Hand: „Robert Alsfeldt.“ Ein Siegelring mit blauem Stein blitzte auf. Ihr Blick suchte seine Augen, wie um zu überprüfen, ob der Ring die gleiche Farbe hatte. Sofort schaute er zur Seite und zog die Hand zurück.
„Ich freue mich“, preschte Britta vor, „dass Sie heute gekommen sind! Wir brauchen so dringend Verstärkung.“
Nun doch ein zaghaftes Lächeln: „Ja, es war der Name Ihres … Balletts, der mich angezogen hat.“
„Darf ich mich auch vorstellen“, der andere Neuankömmling, breitschultrig, in Jeans und Turnschuhen, ergriff die Hand von Robert, die er ihm gar nicht angeboten hatte, und schüttelte sie kräftig: „Pieter Neukamp!“ Erst wollte Robert sich schnell wieder zurückziehen, doch ein seltsamer Trotz überkam ihn, und er hielt die fremde Hand hartnäckig fest, einen Augenblick über Gebühr.
Pieter Neukamp schaute ihn irritiert an, ein bisschen eingeschüchtert, aber auch neugierig forschend. Robert blickte durchdringend zurück, und man merkte deutlich, wie unangenehm ihm diese Begegnung war. Die beiden waren etwa gleichaltrig. Freunde werden das aber keine werden, dachte Britta und führte die Gruppe zusammen.