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      Erleichtert atmete Hartmut auf, das kam ja wirklich im rechten Augenblick: „Klar, worum geht’s?“

      „Ich fahre zu Maria Marquardt, der Falknerin, hast du Lust mitzukommen?“

      „Klar komm ich mit.“ Hartmut griff sich seine Jacke.

      Maria Marquardt arbeitete im Zoo des Cuxhavener Kurparks, wohnte auch ganz in der Nähe in Döse, und offenbar teilte sie mit Amelung die Leidenschaft für gutes Essen, denn sie hatten sich im Gasthaus Behrens verabredet, das leicht vom Ort aus zu erreichen war, aber auch Spaziergängern eine angenehme Rast bot, denn es lag direkt am Deich mit Blick auf Strand und Nordsee. Hartmut war ewig nicht dort gewesen, und er genoss die Behaglichkeit, die ihnen entgegenschlug, als sie das Lokal betraten, die gut bestückte Bar passierten und sich im großen Gastraum an einem Fenstertisch niederließen.

      „Kannst du mir vielleicht zwei Takte über Frau Marquardt sagen, damit ich ein Bild habe?“

      Eine schlanke, kurzhaarige Frau kam durch die Tür, offenbar von der Toilette, umarmte Amelung von hinten und küsste ihn vernehmlich auf die Wange, was dieser sich nur zu gern gefallen ließ, dabei grinste sie den Kommissar an: „Die paar Takte übernehme ich doch lieber selbst. Was wollen Sie denn wissen?“

      „Oh“, lachte Hartmut, „ertappt. Alles!“

      „Ich arbeite im Zoo im Kurpark, nun schon im sechsten Jahr. Das ist zwar nur ein relativ kleiner mit ungefähr 250 Tieren, aber es gibt dort viele verschiedene Vogelarten, Pinguine, Uhus, Störche, Watvögel, Basstölpel. Und Vögel sind nun mal meine Leidenschaft, natürlich eher der Bussard, Habicht oder ein Falke.“

      „Basstölpel“, konnte sich Amelung die Frage nicht verkneifen, „haben die etwas zu tun mit dem Spotttölpel aus Tribute von Panem?“

      „Du wieder“, Maria Marquardt grinste, „Spotttölpel gibt es doch nur in diesem Film und dem Roman dazu, eine geniale Erfindung, nah an der Realität, aber eben mit einer besonderen Eigenschaft ausgestattet.“

      „Schade“, grummelte Amelung vor sich hin.

      „Dann ist die Falknerei eher Ihr Privatvergnügen?“, versuchte Hartmut bei der Sache zu bleiben.

      „Sagen wir mal, es ist eine Nebentätigkeit“, erklärte Frau Marquardt, „Sie können mich gerne einmal zu Hause besuchen, ich habe ein eigenes Gehege mit einem Bussard und zwei Falken …“

      „Und es waren schon mehr als einmal Leute vom Fernsehen bei ihr, die ihren Rat eingeholt haben“, fiel Amelung seiner Bekannten eifrig ins Wort.

      „Okay, okay“, ruderte Hartmut zurück, „ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Sie genau die Richtige für uns sind und uns mit Sicherheit ein paar Fragen beantworten können, die uns unter den Nägeln brennen.“

      Gespannt wandte sich Frau Marquardt ihm zu.

      „Es betrifft unseren aktuellen Fall. Sie haben doch bestimmt von dem Mord in Otterndorf gehört?“ Sie nickte. „Wir haben versucht, die genauen Umstände geheim zu halten, aber es ist bereits genug durchgesickert. Ein Mann wurde durch etliche Bisswunden getötet, und einige Zeugen beschreiben einen großen Vogel als Täter.“

      „Einen Vogel“, wiederholte Maria ungläubig, „sehr ungewöhnlich.“

      „Es wird noch doller“, setzte Amelung hinzu, „es soll ein riesiger Kranich gewesen sein.“

      „Waas?“, rief Maria aus, „das kann ich mir nicht vorstellen. Kraniche sind keine Raubvögel, sie greifen nicht an, verteidigen sich nur, sich und ihre Brut, vielleicht noch das Fressen, wenn es rar ist.“

      „Ja, das haben wir uns ja auch gedacht. Aber eine Kollegin kam auf den Gedanken, ob man einen Kranich wohl abrichten könne, so etwas zu tun?“

      Maria Marquardt verschluckte sich fast. Lächelte nachsichtig: „Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich würde sagen, es ist unmöglich. Bei Falken und Adlern da gibt es diverse Geschichten, auch eher im Bereich aufgebausch­ter Histörchen, doch das wäre noch eher vorstellbar, da es in der Natur des Vogels liegt. Sie greifen auch schon mal an, und wenn man sie abrichtet, ist da wohl einiges zu bewerkstelligen. Aber ein Kranich, nein – da muss ich Ihnen einen Korb geben.“

      „Und was ist mit der Beizjagd?“

      „Ja, das meinte ich doch eben. Falken, Sperber, Habichte, in Zentralasien auch die Weibchen des Steinadlers, klar werden die zur Jagd abgerichtet. Aber sie jagen und greifen das Wild, halten es in der Regel mit ihren Klauen fest, bis die Hunde kommen, töten es nicht unbedingt.“

      „Wäre es möglich, sie auch aufs Zubeißen zu trainieren?“

      „Möglich wäre es, aber auf Menschen … ich weiß nicht, ich glaube, Sie sollten sich einen anderen Mörder suchen. Doch … unmöglich ist gar nichts.“

      Das hatte sich Hartmut im Grunde eigentlich alles selbst schon gedacht, und er fühlte sich von der Falknerin nur noch einmal bestätigt. Aber das würde natürlich bedeuten, dass er einen neuen Ansatz brauchte.

      *

      Liz blätterte ihre Aufzeichnungen durch. Ein brutaler Mord um Mitternacht in Otterndorf. Ein Junge behauptet, die Tat sei von einem Kranich verübt worden, auch andere hatten einen Vogel davonfliegen sehen. Der Arzt wollte sich nicht festlegen, das Ergebnis der DNA-Überprüfung stand noch aus, es gab keine Fußspuren im Blut der Leiche. Ein seltsamer Fall. Welche Richtung ihre Gedanken auch einschlugen, es war Zeitvergeudung zum gegenwärtigen Zeitpunkt, hin- und her zu spekulieren, sie brauchte noch einige Untersuchungsergebnisse, und die dürften ja am nächsten Tag bereitliegen. Also zog sie ihr Tablet aus der Tasche und gab auf gut Glück Kranich und Otterndorf ins Suchprogramm ein. Denn bisher war Otterndorf für sie nicht mehr als ein kleiner Ort an der Elbe gewesen.

      Sofort prangte ihr das Otterndorfer Kranichhaus entgegen. Ein über 400 Jahre altes Bauwerk in der Dorfmitte, das heute das Museum des alten Landes Hadeln beherbergte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts residierte der Gewürzhändler Radiek in dem Haus, das seine Witwe Elisabeth – die ihren Mann um 40 Jahre überlebte – zu einem kleinen Salz-, Gewürz- und Weinimperium ausweitete. Sie gab auch die herrlichen Stuckdecken und die barocke Fassade in Auftrag und ließ den Kranich mit einer vergoldeten Kugel in der Kralle am First des Gebäudes aufstellen.

      Das muss eine interessante Frau gewesen sein, überlegte Liz, sich in einer solchen Zeit mit eigenwilligen Vorstellungen durchzusetzen war bestimmt nicht leicht gewesen. Also war der Kranich 1764 zum ersten Mal im Zusammenhang mit diesem Haus aufgetaucht und hatte ihm auch den Namen gegeben. Sie überflog viel Geschichtliches, immer auf der Suche nach weiteren Informationen über den Kranich.

      Hier … war wieder etwas, beinahe hätte sie es übersehen: Der Kranich galt als Symbol der Wachsamkeit, das ging wohl auf Plinius zurück, der berichtete, dass einzelne Vögel die Kranichschwärme während der Nacht bewachten und dabei einen Stein in der Klaue hielten, der sie am Schlafen hinderte, da sie aufwachten, wenn der Stein nach unten fiel. Nicht schlecht, Liz schmunzelte und dachte sofort an eine ihr bekannte Zen-Geschichte, in der die Meditierenden nachts direkt am Abhang saßen, immer in der Gefahr, in den Tod zu stürzen, sollten sie einnicken. Das war ja dann noch ein bisschen drastischer.

      „Der Kranich hält den Stein, des Schlafs sich zu erwehren. Wer sich dem Schlaf ergibt, kommt nie zu Gut und Ehren.“

      Diese Inschrift soll in einem Balken des Giebels verewigt sein. Weiter unten fand Liz dann noch eine Sage, die sich ums Kranichhaus rankte. Der Kranich auf dem Dachfirst erwache jede Nacht um zwölf mit dem ersten Schlag der Kirchturmuhr, werfe seinem kleineren Artgenossen über der Haustür seine in den Krallen gehaltene Kugel zu, die dieser auffange und zurückwerfe. Schlag Mitternacht halte der obere Kranich die Kugel wieder fest in seiner Klaue.

      Liz lief ein Schauer über den Rücken, diese Geschichte verlieh dem Mord natürlich ein ganz anderes Gesicht. Es war nun klar, dass der Zeitpunkt der Tat genau geplant war und dass der Mörder die Sage kennen musste und wahrscheinlich irgendetwas mit dem Kranichhaus zu tun hatte. Vielleicht war er in Otterndorf aufgewachsen, oder