ins gemachte Nest gesetzt. Zwar war die Straße nicht eben die attraktivste, entsprechend den früheren Reihendörfern zog sie sich beinahe kerzengerade bis fast hinunter zum Strand, aber auf der gegenüberliegenden Seite gab es überall Durchgänge zum Wernerwald. Es war befreiend, abends noch einmal ein Stück in den Wald hinein zu schlendern und einfach abzuschalten oder, wenn es sich nicht vermeiden ließ, den jeweiligen Fall noch einmal neu zu überdenken.
Heute aber zog es ihn zu seinem Sessel im Erker, denn er fühlte sich schon wieder erschöpft. Hoffentlich bekam er keine Erkältung. Was hatte ihn nur so geschwächt auf Libušes Party? Es konnte nicht nur der Alkohol gewesen sein, er hatte den ganzen Abend über lediglich zwei, drei Gläser Wein getrunken und mindestens doppelt so viel Wasser. Irgendetwas am Tatort hatte ihn irritiert, er schloss die Augen, bekam es aber nicht zu fassen. Auf jeden Fall hatte es mit dem Kranich zu tun oben auf dem Kranichhaus, wie durchbohrt war er sich vorgekommen von seinen Blicken.
Plötzlich ertappte er sich dabei, dass er vor sich hinlächelte. Sie war ganz schön schneidig, die neue Mitarbeiterin, fiel ihm unpassenderweise an dieser Stelle ein. Sie wusste genau, was sie wollte, irgendwie gefiel ihm das. Er stand ja eigentlich mehr auf den sanften Typ Frau, aber diese Liz, die hatte was. Und sexy fand er sie auch. Auf der Party war es ein lockeres Umkreisen gewesen, diese Leichtigkeit war jetzt natürlich passé. Nun musste man sich erst mal beim Arbeiten zusammenraufen, aber – schon wieder lächelte er – sie flirtet da einfach weiter. Seine Stirn legte sich in Falten, ob ich ihr überhaupt gewachsen bin? Früher wäre er solchen Frauen aus dem Weg gegangen, aber jetzt … was hatte er zu verlieren? Ihm fiel eine Chanson-Zeile ein: „Lass sie fallen, die Bilder von dir und mir“, das wär’s doch: jemandem zu begegnen, bei dem man so sein konnte, wie man wirklich war.
Aber dass man ihnen einfach eine Profilerin zugeteilt hatte, war schon ein starkes Stück. Klang das nicht ein bisschen so, als glaube man, sie würden es alleine nicht schaffen? Um sich abzulenken, kramte Hartmut sein Handy aus dem Jackett und schaute sich noch einmal das Foto der Origami-Figur an. Und es erfasste ihn dieses rauschhafte Gefühl, als sei er auf eine heiße Spur gestoßen. An was erinnerte ihn nur dieses eckige Papierknäuel, und wo hatte er etwas Ähnliches schon einmal gesehen? Ein kantig gefaltetes Tier als Signatur eines Mordes? Richtig, jetzt fiel es ihm ein, es war kein anderer Fall, der ihm im Gedächtnis geblieben war, es war …
Hartmut sprang auf und suchte aus seinem Regal eine bestimmte DVD heraus, legte sie in den Player ein und spulte vor. Stopp, da war die Szene: Der beauftragte Killer hinterließ am Tatort des Mordes eine Origami-Figur, aber im Film war es kein Kranich, sondern ein Einhorn.
„Donnerwetter“, er war ganz aufgeregt, „da kopiert jemand ,Blade Runner‘“, einen seiner Lieblings-Science-Fiction-Filme!
*
Sie wusste gar nicht, was sie zuerst machen sollte, es gab so viel zu erledigen. Ihr praktischer Sinn siegte. Sie griff zum Telefon und wählte ihre Tante an: „Beaaa“, sie zog ihren Namen bittend in die Länge, sodass ihre Tante schon insgeheim den Geldbeutel zückte.
„Ja, bitte“, fragte sie „was kann ich für dich tun?“
Britta grinste: „Möchtest du nicht einen kleinen Obolus leisten für die Kunst?“
„Pah, wenn du so fragst, bekommst du gar nichts. Sag doch einfach, du brauchst Geld und basta.“
„Okay, Tante“, Britta gab sich einen Ruck, denn nie zuvor hatte sie das Angebot ihrer Tante angenommen, zumindest für sich selbst überhaupt erst in Betracht gezogen, „ich brauche Geld!“
Als Beatrice die Summe hörte, musste selbst sie erst einmal schlucken: „Du machst dich, Kleines … “, man hörte, wie sie sich am anderen Ende der Leitung etwas notierte, „ich überweise es dir – und Britta, gib nicht alles auf einmal aus.“
„Danke, Bea“, sagte Britta, aber ihre Tante hatte längst wieder aufgelegt, denn in ihrer Küche wartete eine entzückende Pizza-Lieferantin auf ihr Wechselgeld …
Die finanzielle Seite war ja jetzt gesichert, nun ging’s an Konzept. Sie musste die Szenen umschreiben … für drei weitere Tänzer. Sie war so aufgeregt. Wie die neuen Teilnehmer wohl sein würden? Ob sie Tanzerfahrung hatten? Ob sie sich gut in die Gruppe eingliederten?
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Kommissar Frank und Jochen Dressler fuhren diesen Weg nun schon seit vielen Jahren, und nie, dachte Hartmut, nie konnte er dieses unangenehme Gefühl abstreifen, beinahe einen leichten Widerwillen, diese Schwelle zu überschreiten. Die Kühle der Räume, die auf eine andere Weise schauern machte, als wären sie in einen Eisregen geraten, die nüchterne Sprache, die dem Fall zwar zuträglich war, aber die doch einen Menschen betraf, der vor Kurzem noch lebte und Wünsche und Ängste hatte und nun reduziert wurde auf, na sagen wir mal, zwei bis drei Pfund Hirnmasse und einen perforierten Darm.
„Grübelst du wieder?“, fragte ihn sein Kollege Jochen.
Hartmut wandte ihm kurz sein Gesicht zu, konzentrierte sich aber sofort wieder auf die Straße. Wie gut sie sich kannten! „Ja“, sagte er mehr zu sich selbst.
„Immer hereinspaziert, die Herrschaften“, begrüßte sie Gerichtsmediziner Lohmeier, der Fuchs, wie er allgemein genannt wurde. Er hielt ihnen die Tür auf mit einer Geste, als lege er ihnen die Welt zu Füßen. „Achtung, Stolperfalle“, schon war man wieder in der Realität angekommen.
„Etwa gegen Mitternacht trat der Tod ein“, Fuchs Lohmeier kratzte sich hinterm Ohr: „Nun ja, ein Blutbad.“
Er lüftete das weiße Tuch, das über den Toten gebreitet war. Der gesamte Körper, auch das Gesicht, war mir Einstichen bedeckt, und überall waren leichte und tiefere Kratzwunden. Auch das rechte Auge und der Hals waren schwer verunstaltet, und Hartmut wandte sich ab.
„Ihr seht ja selbst“, fuhr Lohmeier fort, „übersät mit Kratzspuren und Stichen. Aber es könnten natürlich auch Hackspuren sein, von einem spitzen, kräftigen Schnabel. Dafür spricht, dass die Halsschlagader regelrecht zerfetzt wurde, was die eigentliche Todesursache ist.“ Er druckste ein wenig herum: „Aber grundsätzlich bin ich mir noch nicht sicher. Die Federn, die an Körper und Kleidung klebten, sind nicht von der Hand zu weisen. Dennoch glaube ich nicht so richtig an einen Raubvogel. Dafür erscheinen mir die Wunden zu … mechanisch und in der Form zu gleichförmig. Ich habe eine Kollegin hinzugezogen, die da einige Erfahrung hat. Sie ist allerdings tatsächlich der Ansicht, dass es sich bei den tödlichen Wunden um Tierbisse oder Risse von scharfen Krallen handelt.“
Hartmut und Dressler sahen ihn groß an. Allein dass Lohmeier zugab, es nicht genau zu wissen, und eine zweite Person hinzuzog, war schon eine Seltenheit und kam nur alle zehn Jahre einmal vor.
„Hm, das ist ja ziemlich verwirrend“, kommentierte Dressler.
„Es ist eine schwierige Sachlage“, verteidigte sich der Mediziner, „aber ich kann mich den Argumenten meiner Kollegin nicht ganz verschließen. Wir müssen bis morgen warten, dann werden wir erfahren, ob tierische DNA im Spiel ist. Da kommt man sonntags nicht allzu weit.“
„Was mich noch interessiert“, überlegte Kommissar Frank, „wie war denn die körperliche Verfassung von Horst Kling? War da irgendetwas ungewöhnlich, hat er getrunken, war er tätowiert und solche Sachen?“
Jetzt schaute er wirklich wie ein Fuchs, dachte Dressler und musste grinsen.
Lohmeier räusperte sich vielversprechend: „Auf den ersten Blick alles normal, er war nicht gerade fit, aber alles im Rahmen. Getrunken hat er wohl nicht, seine Fingerkuppen deuten allerdings darauf hin, dass er geraucht hat, und zwar Selbstgedrehte. Das war ja lange Zeit völlig out, aber seit die Zigaretten so teuer sind, kommt es wieder häufiger vor … aus Geldgründen, aber oft auch … aus Nostalgie.“
„Interessant“, murmelte Hartmut, aber Geld hatte Kling ja wohl reichlich, überlegte er.
Der Gerichtsmediziner reichte dem Kommissar eine silberne OP-Schale mit zunächst undefinierbarem Inhalt: „Das hatte er im rechten Ohr, ein hochmodernes Luxus-Hörgerät. Das spricht nun wirklich dafür, dass er sich seine Zigaretten hätte