Theresa Hannig

König und Meister


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Dazu müssen die Köche an sieben Tagen die Woche 63.000 Mahlzeiten zubereiten, die zusammen 44 Tonnen wiegen und einen Müllberg von zwanzig Kubikmetern erzeugen. Doch das alles ist nichts im Vergleich …« Ada hasste diese sogenannten Dokumentationen, in denen mit möglichst vielen Zahlen interessanter Inhalt suggeriert werden sollte. Doch ihr Vater hatte sich das gerne angesehen, genauso wie Filme über mögliche Weltuntergangsszenarien und Naturkatastrophen. Nicht selten hatte er Ada im Anschluss aufgeregt angerufen, und sie hatte gleich an seiner besorgten Stimme erkannt, dass er wieder etwas über den Vulkan im Yosemite Nationalpark oder die drohende Gefahr durch unentdeckte Asteroiden gesehen hatte. Für sich selbst sah er keine Bedrohung, aber er war sich sicher, dass seine Tochter eines Tages ein solches Unglück würde miterleben müssen.

      Im Gegensatz dazu waren ihm die tatsächlichen, viel näher liegenden Probleme gering erschienen. Die Schule? Nicht so wichtig. Das Studium? Ein Klacks! Die Arbeit? Kenn ich alles! In Liebesdingen solle sie vorsichtig sein, hatte er gesagt, da könne man sich leicht die Finger verbrennen. Aus eigener Erfahrung wisse er, wie blöd sich die Männer benähmen, aber die Frauen seien keinen Deut besser, es sei also kein Wunder, dass die beiden Geschlechter es nicht zusammen aushielten. Ada solle sich glücklich schätzen, wenn sie einen einigermaßen anständigen Mann erwischen würde.

      Ada erwischte einige Männer an der Uni und ein paar Kollegen, die an denselben Projekten wie sie arbeiteten. Keine langen, festen Beziehungen oder Männer, bei denen sie je das Bedürfnis verspürt hätte, »lass uns Freunde bleiben« zu sagen, doch davon erzählte sie ihrem Vater lieber nichts. Auch davon, wie sie vor zwei Jahren, anstatt befördert, fast gekündigt worden wäre, hatte sie nichts erwähnt. Ihr Vater wusste sowieso nicht, was für Aufgaben sie in welchen Projekten übernahm. Wenn er fragte: »Und, wie läuft

s bei den Kunden?«, antwortete sie stets: »Gut«, und das genügte ihm. Vielleicht hätte sie doch mehr erzählen sollen. Vielleicht hätte es ihn sogar interessiert?

      Ada starrte auf die schwarzen bodentiefen Fenster, die das Wohnzimmer umrahmten und dann auf den ebenso schwarzen Fernseher. An der Wand dahinter war der Kachelofen. Sie könnte ein Feuer entzünden, um es ein bisschen gemütlicher zu haben. Aber es war kein Feuerholz da, und mit den Krücken war es ihr zu mühselig, welches von draußen zu holen. Die Walnüsse, die in einem Weidenkorb neben dem Sofa standen, konnte man nicht verheizen, das wusste sie. Einmal hatte ihr Vater es versucht und ihr mit Schrecken erzählt, wie die explodierenden Walnüsse einen Sprung in das Schutzglas geschlagen hatten. Nein, der Ofen war heute nichts für sie.

      In Hotelzimmern war sie oft allein, ohne sich einsam zu fühlen. Hier im Haus jedoch schien sie Kilometer von jeder menschlichen Seele entfernt. Dieses Haus, das ihr so vertraut und ohne ihn doch so fremd war, steckte voller alter Erinnerungen und Gefühle, deren Mischung ein ganz eigenes Lebensgefühl verströmte. Ihre früheste Erinnerung betraf ein Weihnachtsfest, an dem sie staunend vor dem riesigen Baum gestanden hatte, der an Heiligabend, mit echten Kerzen bestückt, wie ein Wunder leuchtete. In diesem Wohnzimmer hatte sie gespielt und getanzt, die Terrakottafliesen mit Wasserfarbe bemalt und furchtbar Ärger bekommen. Hier hatte sie ihre Playmobil-Ritterburg aufgebaut und auf dem Boden sitzend ihre Lieblingsbücher gelesen. Manchmal hatten sie abends zusammen auf der Couch – einer anderen Couch mit einem anderen Bezug, aber doch irgendwie diese Couch – gesessen, in kleine Quadrate geschnittene Brote gegessen und die Tagesschau geguckt. Noch heute musste Ada bei der Titelmelodie an Wurstbrot denken. Einmal hatte sie ihre Eltern sogar überreden können, im Wohnzimmer ein Lager aufzuschlagen und dort zu übernachten. Sie hatten sich in ihre Schlafsäcke gezwängt und mit der Taschenlampe die Astlöcher der Holzbalken an der Decke gezählt, und Ada hatte sich vorgestellt, dass sie in Wirklichkeit die letzten Überlebenden einer Weltraummission waren und unter sich einen neuen Planeten entdeckten. Doch dann hatten sich die Eltern erst getrennt, dann scheiden lassen und alles war anders geworden. Alles hatte einen bitteren Beigeschmack bekommen.

      Ada sah nach oben und fühlte den massigen leeren Raum um sich herum, denn die Decke war hoch – sehr hoch. Ihre Eltern hatten das Haus selbst gebaut. Der König liebte große, großzügige Räume mit vielen Fenstern und offenen Türen … es sollte alles hell sein, es sollte viel Platz zum Atmen da sein. Doch je älter Ada geworden war, desto häufiger hatte sie sich einen Ort gewünscht, an dem sie sich mal verkriechen konnte, ein Zimmer, das einen Schlüssel hatte und in dem sie eigenen revolutionären Gedanken nachhängen konnte. Doch der König wollte sein Reich im Auge behalten. Das war schon in Adas Kindheit so gewesen und so war es geblieben.

      Als sie ihren Blick über die drei an das Wohnzimmer angeschlossenen Räume schweifen ließ, standen alle Türen wie immer offen, obwohl sie sicher war, dass ihr Vater nur eines der Zimmer in den letzten Wochen betreten hatte, nämlich sein altes Arbeitszimmer, in dem er viel Zeit verbrachte, obwohl er schon seit einem Jahr keine Unterrichtspläne, Beurteilungen oder Disziplinarverfahren mehr organisieren musste. Das Schlafzimmer mit den durchgelegenen Betten benutzte er so gut wie nie, weil er lieber auf der Couch schlief. Das Gästezimmer stand sowieso leer und die Abstellkammer bot gerade genug Platz für zwei uralte Staubsauger und Juros Kratzbaum, dessen Fuß vor einem Jahr abgebrochen war und den ihr Vater notdürftig mit einem Holzbrett und drei Nägeln repariert hatte. Eigentlich gab es viel Platz. Genug, um Freunde, Familie oder Gäste zu empfangen. Doch Adas Vater hatte sein Reich meist in Einsamkeit regiert. Von dieser Couch aus. Mit einem Wurstbrot in der Hand und dem kurzbeinigen Juro auf dem Schoß.

      8. Kapitel

      Ada erwacht von einem Donnerschlag. Sie muss eingeschlafen sein, anders kann sie es sich nicht erklären. Der Donner hallt durch das Wohnzimmer, und das Licht scheint draußen wie ein eingefrorener Blitz in der Luft zu verweilen, ohne zu flackern oder zu vergehen. Er zieht Adas ganze Aufmerksamkeit auf sich. Wie das Flutlicht eines Fußballstadions erleuchtet der stehende Blitz den Garten. Durch die Fenster und die gläserne Terrassentür späht sie nach draußen in den nächtlichen Garten, wo der Wind an den Ästen und Blättern zerrt und die Schatten der Bäume tanzen lässt. Sie schlüpft in ihre Schuhe. Vorsichtig öffnet sie die Tür und tritt nach draußen, woraufhin sie eine plötzliche, vollkommene Stille umgibt. Irritiert hält sie inne und macht einen Schritt zurück ins Haus, von wo aus sie das Heulen des Sturms hören und seine Wogen fühlen kann, mit denen er sich auf das Dach wirft und die Balken zum Ächzen bringt. Wieder wagt sie sich vorsichtig hinaus und wieder ist die Ruhe, die sie umfängt, absolut. Fasziniert geht sie weiter, hin zum großen Walnussbaum, zum Meister, dessen Wipfel rhythmisch und völlig lautlos auf und ab wippt. Ada fühlt etwas Hartes unter ihrem Fuß und bückt sich, um es aufzuheben. Es ist eine Walnuss, die im eisigen Licht des Flutlichtblitzes silbern schimmert. Die Nuss ist so schwer, dass Ada die rechte Hand mit der Linken stützen muss, um die kleine Kugel halten zu können. Da bricht die silberne Schale auf, sodass das Fruchtfleisch – weich und zähflüssig wie aus einem aufgeschlagenen Ei – hervorquillt. Der Dotter ist grau und zerfurcht, mit aufgeworfenen Falten und Vertiefungen wie die Darmschlingen eines winzigen Tieres – oder wie ein Gehirn. Angewidert lässt Ada die Nuss zu Boden fallen, wo sie mit einem dumpfen Schlag im weichen Moos versinkt. Es ist der erste Laut, den sie in diesem seltsamen Garten wahrnimmt. Der Zweite ist ein Knistern wie von brennendem Reisig. Das Geräusch kommt vom Fuß des Nussbaums. Als sie sich dem Stamm nähert, biegen sich die Äste unter den überschweren Früchten herab wie die Zweige einer alten Weide und umschließen Ada wie ein natürlicher Pavillon. Da sieht sie einen Schatten an den Wurzeln. Ada wagt sich einige Schritte vor und starrt auf den aufgewühlten Boden, über dem weißer Rauch aufsteigt. Zwischen den Wurzeln liegt jemand begraben, nur wenige Zentimeter tief, sein Gesicht liegt frei. Es ist ein verbranntes Gesicht mit zwei goldenen Augen, die Ada anblitzen wie glühende Kohlen. Der lippenlose Mund öffnet sich und fragt knisternd: »Willst du immer noch leben?«

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