soll, aber er wusste ja alles besser. Nur zwanzig Prozent der Todesfälle sind auf nicht angeschnallte Passagiere zurückzuführen. Der Rest stirbt also, obwohl er angeschnallt ist. Solche Sprüche hat er immer gebracht. So ein Unsinn. Dabei wusste er doch genau …«
»Mama! Ich will jetzt keine schlechten Sachen über Papa hören.«
»Wieso schlechte Sachen? Das hat dein Vater selber gesagt.«
»Ist mir egal. Eigentlich hatte ich mir nur gewünscht, dass du mich tröstest und sagst, dass alles gut wird und du herkommst.«
Ada biss sich auf die Lippen. Die Pause am anderen Ende ließ ihren Mahlstrom rotieren.
»Ada … ich bin sehr froh, dass es dir gut geht. Wenn etwas Schlimmes wäre, würde ich sofort kommen …«
»Es ist etwas Schlimmes … wie kann das nichts Schlimmes sein?«
»Nein, ich meine, wenn es dir schlecht ginge … aber wie es aussieht, bist du ja nur leicht verletzt. Im Augenblick … weißt du, grad ist es total schlecht. Ich komme jetzt nicht weg. Jedenfalls nicht die nächsten zwei Tage. Marsheimer hat mich allein gelassen und ich muss morgen eine Präsentation fertig haben und am Mittwoch ist noch eine Konferenz in Basel. Am Donnerstag könnte ich es schaffen, vielleicht komme ich einfach direkt nach München. Ich muss mal sehen.«
»Weißt du was? Vergiss es.« Ada trennte die Verbindung und schaltete beide Telefone aus.
6. Kapitel
Am nächsten Tag befand die Morgenvisite Ada für stabil genug, das Krankenhaus zu verlassen. Doch sie hatte kein Ziel, keinen Ort, an den sie sich hätte zurückziehen wollen. Ihre WG in der Agnesstraße stand bis auf ihr eigenes Zimmer leer. Ihre beiden Mitbewohnerinnen waren erst letzte Woche ausgezogen und der Makler führte im Stundentakt neue Interessenten durch die Räume. Unter normalen Umständen war das schon schwer zu ertragen gewesen, doch in ihrer jetzigen Situation schien es ihr unmöglich, dort zu sein. Ada überlegte, welche ihrer Freunde sie anrufen konnte, und erkannte mit Bitterkeit, dass es niemanden gab, dem sie sich selbst zumuten wollte. Sie hatte die letzten fünf Jahre als Projektmanagerin bei verschiedenen Kunden verbracht. Manche Aufträge dauerten Monate, andere nur Wochen. Kaum Zeit, um engere Beziehungen aufzubauen oder Freundschaften zu pflegen. Kurz nach dem Studium war sie noch zu dem ein oder anderen Abendessen, einigen Wohnungseinweihungen und sogar zu zwei Hochzeiten eingeladen worden. Doch da sie fast alle Termine hatte absagen müssen, weil das Projekt in Berlin oder der Abschluss in Zürich ihre Anwesenheit erfordert hatten, wurden die Einladungen weniger und blieben schließlich ganz aus.
Sie kam meist nur am Wochenende in ihre Wohnung – niemals würde sie die winzige WG, in der sie seit ihrer Studentenzeit wohnte, als Zuhause bezeichnen. Deshalb war es ihr auch nie in den Sinn gekommen, ihren Ausweis anpassen und die Adresse eintragen zu lassen, und so war sie immer noch im Haus ihres Vaters gemeldet. Meistens war sie montagmorgens froh, endlich wieder unterwegs zu sein. Die schlechteste Laune überkam sie freitags gegen 16 Uhr, wenn es an der Zeit war, aufzubrechen und sich die fragile Schicksalsgemeinschaft aus Beraterkollegen und Kundenmitarbeitern für die zweieinhalb Tage Wochenende auflöste. Unter der Woche fühlte Ada die integrative Kraft des gemeinsamen Projekts, das Kollegen mit unterschiedlichsten Kompetenzen und Interessen um sich scharte wie ein Elektromagnet, der Eisenteilchen an seinen Feldlinien ausrichtete. Doch am Wochenende stellte jemand den Strom ab und die Eisenspäne drifteten alle in ihre jeweiligen privaten Winkel, bis am Montag das Spiel von Neuem begann. Die Zeit zwischen Freitag und Sonntag ging für all die Erledigungen drauf, die Ada unter der Woche neben den Projekten nicht schaffte und die sich meistens um Wäsche, einkaufen und ihre Mitbewohnerinnen drehten, die der Meinung waren, sie solle ihre Putzpflichten genauso erfüllen wie sie selbst, unabhängig davon, ob Ada auch nur einen Staubkrümel verursacht hatte oder nicht.
Dann war da noch ihr Vater und vielleicht das Bedürfnis nach Ruhe und einer Art Ankommen. Alle paar Samstage verabredete sie sich mit Freunden aus der Studienzeit oder mit Nachbarn zum Tanzen, Brunchen, ins Kino oder zum Essen. Bevor sie dieselbe Person ein zweites Mal sah, konnte leicht ein halbes Jahr vergehen. Keine guten Voraussetzungen für ein belastbares Sozialleben, geschweige denn eine ernsthafte Beziehung oder Familie. Ada war jetzt 29 Jahre alt und fühlte sich immer noch so, als müsse das wahre Leben bald anfangen. Sie hasste den Begriff »biologische Uhr«, aber sie wusste auch, dass die einzige Gruppe Singles, die noch schwerer einen Partner fand, als arbeitslose Männer ohne Schulabschluss, Akademikerfrauen über 30 waren.
Ihr aktueller Lebensstil nagte schon länger an ihr. Unter anderen Umständen wäre das Jobangebot von diesem Mike gar nicht uninteressant gewesen, doch im Augenblick kam ihr der Gedanke an Arbeit vollkommen absurd vor. Das Leben war so kurz, mochte von einer Sekunde auf die andere vorbei sein. Wie konnte man da seine Zeit mit einer Beschäftigung verschwenden, die fremden Menschen diente, vornehmlich anderen Leuten Geld einbrachte und sich selbst nur einen Flickenteppich aus wechselnden Projekten, Aufgaben und Verantwortungen, die ihr im Grunde genommen vollkommen gleichgültig waren und genauso austauschbar wie die immer gleichen Zimmer in den immer gleichen Hotels, in denen sie die Abende ihrer Wochentage verbrachte. Als sie ihren Teamleiter gestern Abend per E-Mail über den Unfall informiert hatte, hatte der ihr alles Gute gewünscht und ihr gesagt, sie solle sich Zeit nehmen, so lange sie brauche, das Projekt würde nicht weglaufen. Sie war von seiner herzlichen Mail so gerührt gewesen, dass sie ihn fast angerufen hätte. Aber was hätte sie sagen sollen? Was hätte er ihr sagen können? Er war ihr Teamleiter und natürlich war er nett, aber im Grunde kannten sie einander kaum.
An wen sollte sie sich also wenden? Die meisten Namen, die in ihrem Kopf auftauchten, waren gut für schöne Abende, für nette Geschichten. Freunde, mit denen man Smalltalk machte und denen man auf die Frage »Wie geht
s?«, immer mit »Gut« antwortete. Klar, da waren auch ein paar Freundinnen von früher, mit denen sie sich alle Jubeljahre traf. Aber sie hatten sich mittlerweile zu weit voneinander entfernt, als dass Ada ihnen mit dem Gewicht ihres jetzigen Schicksals zur Last fallen wollte. Vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche. Doch im Augenblick hinderte sie eine unerklärliche Scham daran, diese Frauen anzurufen. Ja, sie schämte sich für ihre Schwäche, ihre Verletztheit. Als wäre es ein Makel, den sie selbst zu verantworten hatte und der daher keinem Fremden zuzumuten war. Nur der Familie. Dafür war doch die Familie da, um den Makel aufzunehmen, ihn zu akzeptieren und still hinzunehmen, weil er Teil des Ganzen war, für das niemand allein die Verantwortung trug.Die Erkenntnis traf sie wie ein Schock: Wäre der Autounfall ihr allein passiert, wäre es ihr Vater gewesen, den sie als Erstes angerufen hätte. Er hätte keine Sekunde gezögert, wäre zu ihr gefahren und hätte ihr beigestanden, und wenn die Schramme noch so klein gewesen wäre. Doch ihren Vater gab es nicht mehr. Sie konnte die Abwesenheit der unsichtbaren Hülle fühlen, die bis gestern noch das wir von denen abgegrenzt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Ada sich ganz und gar allein.
Bis zur neurologischen Intensivstation war es ein langer Marsch, vor allem wenn man wie Ada mit zwei Plastiktüten samt Kleidung, Geldbeutel und Handy unterwegs war, die bei jedem Schritt an die metallischen Beine ihrer Krücken klatschten. Auf dem Weg begegnete sie unzähligen halb versehrten Menschen; Leuten mit verbundenen Gesichtern, mit Bandagen und Pflastern an den unterschiedlichsten Körperteilen. Viele schoben fahrbare Metallständer vor sich her, an denen Infusionen oder Medikamente baumelten, die durch Gummischläuche, die irgendwo in den Gewändern der Patienten verschwanden, in deren Körper eingeleitet wurden. Bei anderen ragten Schrauben oder Stahlschienen aus frisch operierten Wunden. Dazwischen huschten Ärztinnen, Pfleger und Reinigungspersonal durch die Gänge. Und dann gab es Besucher wie Ada, die man daran erkannte, dass sie eigentlich nicht am Ziel ihrer Reise ankommen wollten. Doch so langsam sie auch schlurfte, irgendwann erreichte sie ihren Zielort und blieb vor der undurchsichtigen Milchglastür der neurologischen Intensivstation