Theresa Hannig

König und Meister


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König, ich möchte zu meinem Vater.«

      »Ja, das dauert jetzt leider ein bisschen. Wir haben heute zwei Notfälle reinbekommen.«

      »Kein Problem, ich warte.« Die Tür fiel ins Schloss. Ada ließ sich mithilfe ihrer Krücken auf den weiß lackierten Sitz daneben gleiten.

      »Das kann lange dauern«, sagte ein Mann, der auf einem Stuhl zwei Plätze links von ihr saß.

      Sie hatte ihn bisher nicht bemerkt, doch nun löste sein Anblick etwas in ihr aus, das sie selbst kaum einordnen konnte. War es Erregung, Furcht, Ekel? Oder hatte sie sich einfach nur erschrocken? Augenblicklich knipste sie ihr herzliches Beraterlächeln an, das sie immer aufsetzte, wenn unzufriedene Kunden oder Mitarbeiter zu ihr kamen, weil sie den Mann nicht spüren lassen wollte, wie abstoßend sie ihn fand – denn er sah aus wie ein verbranntes Stück Fleisch. Oben auf dem Kopf kräuselte sich wie verschmortes Zellophan ein winziges Nest Haare. Der Rest seines Schädels wurde von einer bräunlich verfärbten, narbendurchwachsenen Haut umspannt, die weder Ohren noch eine Nasenspitze kannte. Sein Gesicht war wimpernlos und ohne Augenbrauen. Ada war sich nicht sicher, ob er die Augenlider beim Blinzeln ganz schließen konnte. Ihr war, als starrten die verstörend hellbraunen Augen sie wie glühende Kohlestücke an.

      Sie schluckte die Frage, was mit ihm passiert war, hinunter und sagte stattdessen: »Warten Sie schon lange?«

      »Die machen erst die Tür auf, wenn die Angehörigen auch bereit für das sind, was sie sehen werden.«

      »Wie kommen Sie darauf?«

      »Sind Sie sicher, dass Sie wissen, wen Sie besuchen?«

      »Natürlich.«

      »Aber genau werden Sie einen Menschen niemals kennen. Jeder von uns trägt Geheimnisse in sich.«

      »Vielleicht …«

      Ada massierte ihr Knie. Die Anwesenheit des Mannes beunruhigte sie. Es war nicht nur das Gesicht, es war die Stimme, die sich anhörte, als habe er zu viele Zähne im Mund. Ada wurde das Gefühl nicht los, ihn schon einmal gesehen zu haben, obwohl sie sich doch sicherlich daran erinnern würde, der Mann sah schließlich zum Fürchten aus.

      »Besuchen Sie auch jemanden?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln, doch er ging nicht darauf ein.

      »Manche Geheimnisse sind harmlos. Andere sind unverzeihlich. Was ist mit Ihnen? Wo haben Sie sich das Knie gestoßen?«

      »Ich hatte einen Autounfall.«

      »Und deshalb fühlen Sie sich schuldig und besuchen das Unfallopfer hier …«

      »Nein, das war ganz anders. Ich hatte überhaupt keine Schuld.«

      »Sind Sie sicher?«

      Die Tür der Intensivstation öffnete sich und zeigte das Lächeln von Frau Mirovic. »Frau König! Sie können jetzt kommen. Ihr Papa ist fertig.«

      Ohne sich zu verabschieden, stand Ada auf und verließ erleichtert den Vorraum.

      »Gibt es etwas Neues?«, fragte sie die Schwester.

      Frau Mirovic war schon halb im ersten Krankenzimmer verschwunden, hielt sich aber noch an der Türzarge fest, als sie bedauernd den Kopf schüttelte.

      »Alles wie gehabt. Aber zumindest nicht schlechter als gestern!«

      Ada bedankte sich und humpelte allein zum letzten Zimmer.

      Der König lag unverändert in seinem Bett. Es schien, als habe er sich seit ihrem letzten Besuch keinen Millimeter bewegt. Nur das blütenreine Weiß des Kopfverbands ließ darauf schließen, dass man ihn frisch versorgt hatte.

      Der mächtige Sog in ihrem Bauch nahm Fahrt auf, drehte sich und bildete Wirbel, die ab und zu in Adas Rachen aufstiegen, doch außer ein paar Tränen blieb er tief in ihr verborgen. Sie setzte sich zwischen Bett und Fenster und betrachtete den vermummten Kopf. Sie hatte nur für sich gefleht, nur für sich. Der unsichtbare Glassplitter verwandelte ihr Herz in Blei.

      »Was wolltest du mit mir besprechen?«, flüsterte sie. »Was denn? Warum hast du es nicht erzählt?«

      Doch außer dem rhythmischen Rauschen der Beatmungsmaschine bekam sie keine Antwort. Also setzte sie sich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett und wartete.

      Als vor dem Fenster die Straßenlaternen aufleuchteten und die Leute vermehrt Jacken statt T-Shirts trugen, verabschiedete Ada sich von ihrem Vater. Sie war hungrig und die Pfleger, die immer wieder nach dem Rechten sahen, machten mit ihren zurückhaltenden Bemerkungen klar, dass es zwar keine offizielle Besuchszeit gab, diese aber trotzdem langsam vorbei sei.

      Auf dem Weg nach draußen wurde sie von einer jungen Krankenschwester aufgehalten, die ihr eine weitere Plastiktüte mit persönlichen Gegenständen ihres Vaters übergab. Dafür war auf der Intensivstation kein Platz, denn Schließfächer gab es nicht und die Schwestern waren froh, in der Zentrale nicht mehr darauf achtgeben zu müssen. Vor der Milchglastür im Wartebereich untersuchte Ada den Inhalt der neuen Tüte: Ein hellblaues Hemd, eine beigefarbene Cordhose, Socken, Unterwäsche, zwei Lederschuhe, alles zerrissen, aufgeschnitten und blutverschmiert, 1,25 Euro in Münzen, ein Taschentuch und eine Walnuss. Sie fischte die Walnuss heraus und ließ sie auf ihrer Handfläche hin und her rollen. Woher die wohl kam? Wahrscheinlich hatte er sie in seiner Hosentasche gehabt. Im Garten des Vaters stand ein Walnussbaum, der mit den Jahren über alle anderen Bäume hinausgewachsen war und den ihr Vater scherzhaft den Meister nannte, weil er den Garten beherrschte und selbst der König nur dann ein Sonnenbad nehmen konnte, wenn der Meister seinen Schatten noch nicht über den Garten gebreitet hatte. Auch das Haus musste sich seit einigen Jahren mit einem Platz unterhalb des alten Walnussbaums begnügen. Beim Gedanken an das Haus biss Ada fest die Zähne zusammen. Dachte sie daran, stellte sie sich ihren Vater auf der Terrasse sitzend vor mit einem großen Becher Kaffee in der Hand und den Kater Juro auf dem Schoß.

      Juro! Er war seit vorgestern allein. Jetzt wusste Ada, was zu tun war.

      7. Kapitel

      Seit Jahren versuchte der Ort Peining, sich der Verstädterung und Flächenversiegelung entgegenzustellen. Im Niemandsland zwischen ländlicher Idylle und den suburbanen Schlafstädten Münchens gelegen, wurde es in der Mitte vom gleichnamigen Fluss durchschnitten, der den Ort in eine Nord- und eine Südstadt teilte, deren Bewohner sich seit jeher aus dem Weg gingen. In Adas Kindheit hätte der Fluss genauso gut eine Landesgrenze oder eine tiefe Schlucht sein können, der Effekt wäre derselbe gewesen, obwohl die Peining an ihrer breitesten Stelle kaum zehn Meter maß und von mehreren Brücken überspannt wurde.

      Nordpeining und Südpeining trennten Welten. In der örtlichen Grundschule trafen sich zwar die Kinder, doch man blieb unter sich und von Adas wenigen Freunden hatte kaum einer in der Nordstadt gewohnt. Selten wurden gemeinschaftsstiftende Bauprojekte verwirklicht, weil jeder Ortsteil das neue Rathaus, die neue Feuerwehr oder den neuen Spielplatz auf seiner Seite des Flusses haben wollte. So blieb Peining ein seltsam seelenloser Ort, der zwar nach wie vor viel Natur, sonst aber nicht viel zu bieten hatte. Und die interne Rivalität war nur die Spitze des Eisbergs. Zwischen den Gewerbegebieten der Nachbarorte, mit ihren Lidls und Aldis für tausende Einkäufer, hatte sich kein ortseigenes Lebensmittelgeschäft behaupten können. Das lokale Gewerbe beschränkte sich auf einen Friseur, einen Baumaschinenverleih und einen Laden für Blumen und Friedhofszubehör. Vor zehn Jahren hatte es hier noch einen kleinen Supermarkt gegeben, dazu einen Metzger und eine Bäckerei, in der man für 20 Cent einzeln verpackte Schokoladenstücke kaufen konnte. Heute war davon nichts mehr übrig.

      Die meisten alten Bauernhäuser waren Doppelhäusern oder schicken Landhäusern gewichen. Boden war kostbar und Wohnraum begehrt. Die Bauern waren unter dem anhaltenden Bauboom reich geworden, doch der Ort und vor allem die Südstadt, in der Adas Elternhaus stand, wirkte auf sie seit Jahren entkernt. Es gab keinen