Theresa Hannig

König und Meister


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richtete, meldete er sich wieder scharf, und gnadenlos. Sie hatte nur an sich gedacht. Das Leben ihres Vaters war ihr in diesem einen Augenblick völlig gleichgültig gewesen. Es half nichts, es zu leugnen. Sie konnte ihre eigenen Gedanken nicht ungeschehen machen. Aber es sind nur Gedanken!

      »Ich hab doch gar nichts gemacht«, sagte sie laut zu sich selbst, doch das Geräusch ihrer eigenen Stimme im leeren Raum verunsicherte sie mehr, als dass es sie beruhigte. »Papa ist gefahren. Er hat nicht aufgepasst. Er hat das Steuer herumgerissen. Er war wie immer nicht angeschnallt. Ich kann doch nichts dafür, dass mir kaum was passiert ist.«

      Die Stille gab keine Antwort. Ada begann zu schluchzen, vergrub das Gesicht in den Händen. Eine Welle Schrecken, Angst und Trauer rollte über sie hinweg und sie ließ sich ganz davon erfassen, sich mittragen und durchdringen. Sie ließ alles aus sich herauslaufen, weinte so lange, bis keine Tränen mehr da waren und eine hohle Nüchternheit blieb, die erst nach und nach wieder mit Gefühlen aufgefüllt werden würde.

      Schließlich kämpfte sie sich aus dem Bett, hangelte sich am Stuhl entlang zu den Krücken, um sich im Bad die Nase putzen. Im Spiegel sah sie ihr jämmerliches, verheultes Gesicht. Wie so oft schnitt sie sich selbst Grimassen. Es hatte keinen Zweck. Das leere Gefühl blieb.

      Sie zog das Hemd aus, wusch sich Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser ab und putzte sich die Zähne so lange, bis sie das Brennen der scharfen Zahnpasta nicht mehr aushielt. Dann gab es nichts mehr für sie zu tun und sie machte sich auf den Weg zu ihrem Vater.

      4. Kapitel

      Der Wartebereich der neurologischen Intensivstation befand sich im Zwischengeschoss direkt vor zwei großen Treppenaufgängen, über die kaum Besucher oder Patienten kamen, dafür eine Menge Ärzte und Ärztinnen, Klinikpersonal und Reinigungskräfte. Die meisten beachteten Ada nicht, doch wer zufällig ihren Blick streifte, runzelte kurz die Stirn oder hob verwundert die Augenbrauen, als fragte er sich, was eine Krankenschwester auf Krücken hier zu suchen hatte.

      Ada klingelte an der zweiflügligen Milchglastür und wartete auf einen Summton. Doch stattdessen öffnete sich die Tür einen Spalt breit und eine dunkelhaarige Frau mit müden Augen lugte heraus.

      »Ja bitte?«

      »Ich bin Ada König und möchte zu meinem Vater, Frank König. Er wurde gestern hier eingeliefert. Wir hatten einen Autounfall.«

      Der Blick der Krankenschwester glitt an Adas verheultem Gesicht hinab zur lila Uniform, ihren Krücken und wieder zurück zu den Augen. In einer Sekunde hatte sie Adas Situation erfasst und lächelte sie erschöpft, aber ehrlich an.

      »Natürlich, Frau König. Kommen Sie rein.«

      Sie hielt die Tür auf, damit Ada auf ihren Krücken hineinhumpeln konnte. Dann seufzte sie, als hätte sie gerade eine schwere Aufgabe hinter sich gebracht, und marschierte den Gang entlang. Ada versuchte, mit den forschen Schritten mitzuhalten, doch sie kam nur langsam hinterher. Ihr Knie brannte und ihre Hände verkrampften sich. Die empfindliche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger war von der ungewohnten Belastung durch die Krücken schon ganz wund. Endlich kam sie am Ende des Gangs an, an dem die Krankenschwester wartete und in die letzte offene Tür wies. Unsicher blieb Ada neben ihr stehen.

      »Waren Sie wirklich mit im Fahrzeug?«, fragte die Krankenschwester.

      Ada atmete schwer, wie nach einem Sprint. Das gab ihr Zeit, auf das Namensschild der Krankenschwester zu blicken, während sie nickte. Mirovic.

      »Ja, aber ich war angeschnallt. Mein Vater schnallt sich nie an.«

      »Oh, das erklärt einiges«, sagte Frau Mirovic, strich sich verlegen über Stirn und Wange und fügte dann mit einem Nicken in Richtung der Krücken hinzu: »Sie haben Glück gehabt. Ist das alles?«

      »Ja, sonst ist mir nichts passiert. Ich habe noch ein Schleudertrauma, aber …« Ada schluckte, angesichts der Frage, die sie als Nächstes stellen musste. »Wie geht es meinem Vater?«

      Sekunden verstrichen, bevor Frau Mirovic antwortete. Adas Finger schlangen sich fester um das harte Plastik der Krücken. Im Grunde war die Frage absurd. Sie standen im Gang der neurologischen Intensivstation.

      »Ich kann gleich den diensthabenden Arzt rufen, damit er Ihnen …«, begann die Krankenschwester, doch Ada unterbrach sie mit gepresster Stimme:

      »Können Sie mir es nicht sofort sagen? Bitte.« Sie konnte sich unmöglich noch länger an die Hoffnung krallen und dann enttäuscht werden. Lieber gleich die schlimmste aller Nachrichten.

      Frau Mirovic verschränkte die Arme. »Ihr Vater, Herr König, hat mehrere sehr schwere Verletzungen erlitten, die durchaus typisch für einen Unfall ohne Sicherheitsgurt sind. Durch die Wucht des Aufpralls wird der Fahrer nach vorne auf das Lenkrad geschleudert, dabei knickt der Kopf nach hinten ab, das Gesicht schlägt mit der Stirn und dann der Nase gegen die Windschutzscheibe. Wenn der Körper wieder zurückfällt, prallt der Hinterkopf nicht selten an das seitliche Fenster oder die B-Säule des Autos. All das scheint ihrem Vater passiert zu sein. Ich arbeite viel in der Notaufnahme … diese Kombination ist typisch.«

      »Aber der Airbag …?«

      »Der ist aufgegangen, ja, aber die Verletzungen, die Ihr Vater erlitten hat, sind dennoch – es tut mir leid, wenn ich es nicht anders sagen kann: drastisch. Im CT wurden Einblutungen in den Kopf festgestellt. Im Augenblick ist das Gehirn aber noch zu geschwollen, um sagen zu können, wie groß die Verletzungen insgesamt sind. Wir müssen abwarten, und sehen, wie es sich entwickelt.«

      »Kann ich zu ihm?«

      »Natürlich.«

      Frau Mirovic löste sich aus ihrer Erstarrung und führte Ada in das Zimmer, in dem insgesamt vier Patienten hinter teilweise geschlossenen Vorhängen lagen. Die Krankenschwester blieb an der rechten hinteren Parzelle vor dem Fenster stehen. Dort, in einem Bett, das mehr einem Industrieroboter als einem Möbelstück ähnelte, lag unter der weißen Decke ein Körper, dessen Innerstes durch zahlreiche Schläuche mit der Außenwelt verbunden war. Nirgends konnte Ada Haut sehen. Die Hände steckten in dicken Bandagen und auch das Gesicht war bis auf die Nasenspitze und den Mund vollkommen in einem weißen Mullkokon verschwunden. Eine Magensonde mit kaffeebrauner Flüssigkeit führte in eines der Nasenlöcher. Aus dem Mund ragte ein halbtransparenter Schlauch, durch den von der Beatmungsmaschine Luft in die Lungen ihres Vaters gepumpt wurde. In dem dunklen Loch, das einst sein Mund gewesen war, lag träge eine rosa Zunge, umrahmt nur von ein paar weißen Stümpfen. Die restlichen Zähne waren verschwunden. Im rechten Mundwinkel glitzerte halb geronnenes Blut. Auch an anderen Stellen des Kopfes traten frische rote Flecken durch den Verband.

      Adas Atem beschleunigte sich. Schweiß sammelte sich unter ihren Achseln. Ein harter, dumpfer Schmerz stieß von ihren Handflächen nach oben zu den Unterarmen, bis sie bemerkte, dass sich ihre Finger um die Krücken krampften. Mit aller Kraft stieß sie die Gehhilfen von sich, die daraufhin mit ohrenbetäubendem Krach auf den Boden polterten. Augenblicklich begann einer der Apparate über dem Nachbarbett zu piepen.

      »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Mirovic und hielt Ada an beiden Oberarmen, als befürchte sie, sie könne fallen.

      »Danke, ich … das hatte ich nicht …«

      »Schon gut. Setzten Sie sich erst mal.« Sanft, aber bestimmt, drückte die Krankenschwester Ada auf einen Stuhl neben dem Bett. Dann hob sie die Krücken auf und reichte sie ihr. »Atmen Sie durch. Es tut mir leid, aber ich muss mich um die anderen Patienten kümmern. Kommen Sie klar?«

      »Ja, natürlich …«

      »Soll ich einem der Ärzte Bescheid sagen?«

      »Das wäre sehr nett. Danke.«

      »Gut.«

      Damit schob sich Frau Mirovic an ihr vorbei, drückte auf dem Weg nach draußen noch ein