sagst du eigentlich nie was?«
Die darauffolgende Stille riss sie aus ihren Gedanken.
»Was?«
»Du bist immer so stumm, hast du denn gar keine Meinung zu dem Ganzen?«
»Doch, aber du willst sie ja nicht hören.«
»Stimmt nicht. Ich rede ja nur, weil du nichts sagst. So ist das mit allen. Alle schweigen immer. Niemand hat was zu sagen, niemand hat eine Meinung. Und am Ende bin immer ich der, der alle unterhalten muss.«
»Papa, du musst niemanden unterhalten. Es ist auch überhaupt nicht schlimm, wenn eine Minute mal keiner von uns was sagt.«
»Aber dafür sind wir doch hier, um zu reden.«
»Ja, wenn wir uns was zu sagen haben, nicht, um soziale Geräusche zu machen.« Innerlich fluchte Ada. Sie hatte es schon wieder getan. Sie hatte die Gleichgültigkeit aufgegeben und ihm widersprochen. Jetzt würde alles noch länger dauern.
»Warum bist du auf einmal so giftig? Wir gehen zusammen essen, haben eine gute Zeit und dann kommt aus dem Nichts so eine saublöde Bemerkung. Das machen Frauen immer. Aus irgendeinem Grund müsst ihr dauernd sticheln. Immer das Haar in der Suppe finden.«
»Papa, ich stichel gar nicht. Im Gegenteil. Ich hatte echt eine mega anstrengende Woche und hätte jetzt am liebsten einfach nur meine Ruhe. Du warst derjenige, der unbedingt irgendwas Wichtiges mit mir besprechen wollte, und hier bin ich. Aber anstatt zum Punkt zu kommen, redest du nur wieder von den Nachbarn, von den Politikern und dem blöden Rewe. Das nervt.«
»Gut. Dann fahren wir jetzt nach Hause. Ich will das nicht in der Öffentlichkeit thematisieren.«
»Aber ich dachte, deswegen wären wir hier.«
»Nein, wir sind hier, um schön essen zu gehen, aber mit dir kann ich das mittlerweile ja wohl vergessen. Zahlen, bitte!«
Er konnte schlimmer schmollen als ein vierjähriges Kind. Und er war nachtragend. Wer es sich einmal so richtig mit ihm verscherzt hatte, konnte in diesem Leben nicht auf Rehabilitierung hoffen. Es gab in Peining einen Bauern, einen Friseur und die Mesnerin Kreutner, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Mit ihnen hatte der König gebrochen und sie konnten von Glück sagen, dass er nicht die Macht besaß, sie hinrichten zu lassen. Beim Düngen seiner Wiese hatte der Bauer einmal versehentlich den Apfelbaum des Königs mit Odel bespritzt. Das war nicht das Problem gewesen, sondern seine Weigerung, für die Entschuldigung vom Traktor abzusteigen. Das hatte Adas Vater so rasend gemacht, dass er aus dem Männergesangsverein ausgetreten war, dessen Chorleiter der Bauer gewesen war. Der Friseur hatte den König stets zu unsanft gekämmt, was seine sensiblen Haarwurzeln nur schlecht vertragen hatten. Einmal im Monat war Adas Vater zum Haar- und Bartschneiden zu ihm gegangen und jedes Mal hatte ihn im Anschluss ein Haarwurzelkatarrh geplagt. Als er den Friseur endlich auf dessen Unzulänglichkeit hingewiesen hatte, hatte dieser das Ganze mit einem Schulterzucken abgetan und dem König eine unmännliche Überempfindlichkeit attestiert. Adas Vater war mit frisch eingeschäumtem Haar aufgestanden und hatte den Friseurladen seither nie wieder betreten. Er ließ sich die Haare nun bei einem Spezialisten in München schneiden, der zwar ein Vermögen verlangte, dafür aber die Haare mit einer Vorsicht kämmte, als hinge sein Leben davon ab. Was die Dame von der Kirche verbrochen hatte, war aus Adas Vater nicht herauszukriegen. Doch wenn er sie im Dorf sah, wechselte er sofort die Straßenseite.
2. Kapitel
Sie fuhren schweigend zurück. Ada kannte den Weg auswendig, hätte ihn blind selbst fahren können und doch starrte sie mit einer Inbrunst nach draußen, als glühe hinter den Wipfeln der prächtigste Sonnenuntergang und nicht nur eine nullachtfünfzehn Nachmittagssonne mit versprengten Wattewölkchen. Jetzt hatte sie ihre Ruhe, doch es war eine bedrückende Stille. Ihr Vater war wütend, das spürte sie, und in ihr wuchs immer stärker das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Einfach entschuldigen, da ist doch nichts dabei. Dann ist alles wieder gut, dachte die brave Tochter in ihr. Aber nein, sie war es satt, um der Harmonie willen einlenken zu müssen. Sie war es so satt.
Aus der Jackentasche kramte sie ihr Handy hervor und machte ein Video der vorüberjagenden Landschaft.
»Schau mal, da vorn«, sagte ihr Vater.
Sie schwenkte das Handy nach links. Neben der Fahrbahn grasten ein paar Rehe, die wie gleichgeschaltet den Kopf hoben, als das Auto an ihnen vorbeirauschte. Fünf oder sechs mochten es sein. Als Ada wieder nach vorn sah, stand auf der Straße das siebte.
»Ach du …«, zischte ihr Vater, bevor er das Lenkrad ruckartig zur Seite riss und die Welt ins Chaos stürzte.
Der Wagen schoss rechts über die Fahrbahn hinaus, tauchte in die Böschung ab und wurde vom nächsten Baum wie ein Kreisel um die eigene Achse gerissen. Die Wucht des Aufpralls war übermenschlich. Es schien Ada, als würde sich der Druck durch das Metall über den Sitz direkt in ihren Kopf wühlen. Die Gewalt, mit der sie in den Gurt geworfen und herumgeschleudert wurde, war so überwältigend, dass ihr Innerstes durch die Poren der Haut nach außen gepresst zu werden schien. Instinktiv spannte Ada alle Muskeln an, um nicht zerfetzt zu werden. Die Zeit dehnte sich auf schreckliche, unaufhaltsame Art und wurde gleichzeitig auf einen winzigen Punkt komprimiert, der nur in ihrem Bewusstsein existierte. In diesem unendlichen Stillstand durchflutete sie ein Gefühl, das sie nur aus den fiebrigsten Albträumen ihrer Kindheit kannte und das eine grässliche eisige Lähmung erzeugte, die ihren Atem und alle Lebenskraft aufsaugte. So fühlte sich das Grauen an. Sie wusste genau, was geschah. Wir haben einen Autounfall. Jetzt gerade. Ada dachte an Bäume, Äste, einen Wald aus hölzernen Speeren, die sie durchbohren würden. Und sie wusste, dass es jeden Augenblick vorbei sein konnte. Doch selbst den größten Schrecken wollte sie haben, wollte ihn greifen, jede Sekunde ihres Lebens so lange wie möglich auskosten – sich das schlagartige Ende vorzustellen, war unerträglich. Sie wollte leben. Leben, sonst nichts. Es war ihr egal, was mit ihrem Vater geschah, solange sie nur leben durfte.
»Bitte«, flehte sie, »Ich will noch nicht sterben. Lass mich leben. Nur mich, nur mich, nur mich.«
Dann krachte der Wagen in den nächsten Stamm und löschte alles aus.
Sie musste das Bewusstsein verloren haben, denn als sie wagte, die Augen wieder zu öffnen, stand das Auto still. Vor ihr klickte der Warnblinker, von links hörte sie gurgelndes Keuchen. Ihr Vater hing über dem Lenkrad, den blutverschmierten Airbag wie ein zerwühltes Laken unter sich. Mit jedem Atemzug sprudelten Speichel und Blut aus den Öffnungen seines Gesichts, das sie hinter dem Gewirr seiner Haare nicht erkennen konnte. Feine rote Bläschen zerplatzten dazwischen. Ein Bild aus der Hölle.
Bitte hör auf, dachte Ada. Sie konnte den Anblick des blutigen Schaums nicht ertragen. Bitte hör auf zu atmen, dann ist alles vorbei.
Doch stattdessen klopfte jemand an ihr Fenster. Reflexartig nickte sie: jaja, alles okay. Ich lebe noch.
Nahtlos ergriff die Zivilisation von ihr Besitz, denn es bereitete ihr Unbehagen, dass sich die Fremden um sie herum unnötig Sorgen machen würden, wo doch jetzt alles in Ordnung schien – sie war doch mit dem Leben davongekommen!
Ada blickte an sich herab. Weißer Glitzerstaub aus Glas bedeckte ihre Kleidung, ihre Hände, sicher auch die Haare. Ein dumpfer Körperschmerz pochte im Hintergrund, als würde er sich darauf vorbereiten, bald ihr ganzes Bewusstsein einzunehmen. An ihrem linken Knie sah sie einen blutigen Riss. Dort hatte sich ein Teil der Mittelkonsole ins Fleisch versenkt. Sie wagte kaum, das Bein zu bewegen, weil sie nicht wusste, wie tief die Wunde war. Nicht den Schmerz fürchtete sie, sondern den Anblick. Wenn sie jetzt aufstand, war es durchaus möglich, dass sie ihr Bein unter dem immer tiefer klaffenden Spalt im Auto zurücklassen würde. Doch die Verletzung stellte sich als kleiner heraus, als befürchtet, das Bein