Fingern schnallte sie sich ab, während von draußen immer mehr Leute versuchten, mit bloßen Händen die Beifahrertür herauszureißen. Plötzlich kamen Ada Bilder von Fahrzeugexplosionen in den Sinn. Was, wenn das Auto Feuer fing, was, wenn sie hier bei lebendigem Leib verbrennen würde? Von Panik erfasst zwängte sie sich durch die geborstene Seitenscheibe, wo helfende Hände sie ergriffen, damit sie nicht zu Boden fiel. Jemand stützte sie beim Gehen und setzte sie an den Straßenrand. Viele besorgte Gesichter. Ein paar Arme um ihre Schulter. Im Hintergrund hörte sie die Schreie anderer Menschen, als sie versuchten, ihren Vater zwischen Fahrersitz und Lenkrad herauszuwühlen.
Erst jetzt erkannte sie in dem verformten Wrack den Wagen, der vollkommen in sich zusammengeknüllt und unförmig, wie weggeworfenes Bonbonpapier, halb um den Stamm einer Tanne gefaltet war. Darunter ragten die Äste kleinerer umgeknickter Bäume hervor. Ein paar Meter weiter rechts krümmte sich ein Baum, als hätte ein Raubtier mit seiner Pranke eine tiefe Wunde in den Stamm gerissen. Von dem Mann fehlte jede Spur. Nein, korrigierte Ada ihre Gedanken. Es war kein Mann, der auf der Straße gestanden hatte. Es war ein Reh.
Wie geisterhaftes Hintergrundrauschen nahm sie die Menschen wahr, die sich um den Unfallort versammelt hatten. Gesichter von Leuten, die selbst nicht wussten, ob sie mehr Gaffer oder mehr Helfer waren: freundliche Augen, lächelnde Münder, aber auch Wangen, die vor Aufregung rot leuchteten. Ada registrierte, dass einige versuchten, mit ihr zu sprechen. Sie bewegten ihre Lippen und sahen auch sonst sehr nett und hilfsbereit aus, doch aus irgendeinem Grund konnte sie ihre Worte nicht verstehen. Vielleicht stehe ich unter Schock, dachte sie, und wunderte sich gleichzeitig, wie distanziert und unbeteiligt sich dieser Gedanke anfühlte.
Ohne zu wissen, wie und warum saß sie plötzlich in einem Notarztwagen. War sie wieder ohnmächtig geworden? Zwei Sanitäter untersuchten sie, sprachen zu ihr mit ruhigen, wohlwollenden Stimmen, doch die Worte drangen nicht zu ihr durch. Nur »gut« immer wieder »gut«, das sagten sie. Ihr Knie wurde versorgt, und sie bekam eine Infusion, die augenblicklich schwere Müdigkeit über sie breitete. Doch die breiige Dunkelheit, die sie umhüllte, war nicht dicht genug, um das Martinshorn auszublenden, das direkt neben ihr aufheulte und sich mit knirschenden Reifen und lautem Motorenkeuchen entfernte. Das Reh werden sie nicht so abtransportieren, dachte Ada. Dann war es ihr Vater. Er lebt noch!, war der letzte Einfall, bevor sie endlich nichts mehr dachte.
3. Kapitel
Als Ada erwachte, wusste sie sofort, was geschehen war und wo sie sich befand. Sie lag in einem Einzelzimmer eines Krankenhauses in einem frisch bezogenen hellblauen Bett. Sie trug eines jener Patientenhemden, die oben wie ein Lätzchen zugebunden waren und den Rücken frei ließen, sodass man sich nachts den Tod holte, wenn man die Decke von sich gestrampelt hatte. Erleichtert stellte sie fest, dass sie noch ihre eigene Unterwäsche trug. Das Zimmer war winzig, bot gerade genug Platz für einen Stuhl, der zwischen Bett und Schrank gezwängt worden war, und bei Ikea sicher in der Kategorie Singlewohnung oder Raumwunder bestellt werden konnte. Das Fenster zu ihrer Linken zeigte den grauen Himmel und das mit Kies gedeckte Vordach des Haupteingangs, neben dem sich die Raucher tummelten, die trotz oder wegen ihres Krankenhausaufenthalts nicht aufhören konnten. Ganz hinten, am Beginn der Auffahrt, sah Ada einen Bettler, der dort sein Lager aufgeschlagen hatte.
Sie wandte den Blick ab. Auf dem aufklappbaren Tischchen neben ihr wartete ein Tablett: zwei Scheiben Graubrot, ein zehn-Gramm-Würfel Butter, zwei Räder Fleischwurst, ein Prisma Käse, ein Becher Himbeerjoghurt. Ada war im Standard der deutschen Gesundheitsversorgung angekommen. Obwohl sie keinen Hunger verspürte, löffelte sie den Joghurt. Es war kein Genuss, aber Essen beruhigte sie immer, egal ob es schmeckte oder nicht. Sie hätte gerne mit einem Arzt gesprochen und gefragt, was mit ihrem Vater los war. Doch sie wagte es nicht, die Notruftaste zu betätigen. Immerhin war Nichtwissen kein Notfall und solange sie nicht nachfragte, war er auch nicht tot. Schrödingers Vater, dachte sie, und fand, dass der Joghurt plötzlich bitter schmeckte. Mit zittrigen Fingern drückte sie dann doch auf den orangenen Knopf mit der aufgedruckten Krankenschwester.
Bis sich endlich die Tür öffnete, hatte Ada schon das erste Käsebrot verspeist.
»Guten Morgen, Frau König. Wie ich sehe, geht es Ihnen schon viel besser. Mein Name ist Dr. Kern«, sagte die Frau im weißen Kittel.
»Guten Morgen. Wo bin ich, was ist mit meinem Vater? Wir hatten einen Unfall, er wurde noch vor mir abtransportiert.«
Dr. Kern nickte bei jedem Wort. Ihr Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Sie hatten gestern einen Verkehrsunfall. Jetzt sind wir im Krankenhaus Rechts der Isar. Ihr Vater ist auch hier. Er hat leider schwere Verletzungen erlitten und befindet sich auf der neurologischen Intensivstation. Falls Sie möchten, können Sie ihn besuchen.«
Die unendliche Last eines möglichen Universums, in dem Adas Vater bereits tot war, wich von ihr.
»Ja, das würde ich sehr gerne. Wo sind denn meine Klamotten?«
»Die sind in einer Plastiktüte im Schrank, aber ich würde Ihnen empfehlen, sie zuerst zu waschen. Sie sind voller … Blut und Scherben. Am besten werfen Sie sie weg. Wir dürfen das nicht, wir müssen alle persönlichen Gegenstände aufbewahren.«
»Haben Sie dann was anderes für mich zum Anziehen?«
»Ich werde mal bei den Schwestern nachfragen, die haben sicher was. Als Erstes möchte ich aber überprüfen, wie es Ihnen geht, in Ordnung?«
Ada nickte und ließ sich von Dr. Kern den Blutdruck messen, Brust und Rücken abhorchen und mit der Taschenlampe in die Augen leuchten. Auch den Verband, der um Adas linkes Knie geschlungen war, kontrollierte sie. Erst als sie nach Schmerzen fragte, merkte Ada das Ziehen, das alle Schichten ihres Körpers durchdrang, als habe sie einen gewaltigen inneren Muskelkater.
»Sie haben ein Schleudertrauma. Das geht vorbei. Auch Ihr Bein sieht schlimmer aus, als es ist. Es wurde genäht, die Röntgenbilder sind unauffällig. Ihr Blutdruck ist vollkommen in Ordnung, die Lunge frei. Falls Sie laufen können, dürfen Sie aufstehen. Gegen die Schmerzen gebe ich Ihnen ein paar Tabletten. Wir sehen uns heute Abend noch einmal zur Visite, aber ich denke, dass Sie morgen früh nach Hause können. Haben Sie noch Fragen?«
»Wie es meinem Vater geht, das …«
»Das können Sie am besten die Kollegen vor Ort fragen.«
»Gut, danke.«
»Dann probieren wir am besten gleich mal, aufzustehen, in Ordnung?«
»Echt?«, fragte Ada langsam.
Sie hatte damit gerechnet, als Vorsichtsmaßnahme das Bett hüten zu müssen, und hatte den Verdacht, dass Dr. Kern das Ausmaß ihrer Verletzungen unterschätzte. Doch die schob den Tisch zur Seite und bot ihr den Unterarm an, wie ein Gentleman aus längt vergangenen Zeiten. Ada schlug die Decke zurück und schob vorsichtig ihre Beine über die Bettkante. Ein dunkler Ball aus Schmerz meldete sich in ihrem linken Knie.
»Das tut schon ganz schön weh«, sagte sie.
Dr. Kern nickte verständnisvoll. »Tut es nur weh oder tut es so weh, dass Sie sich nicht bewegen können?«
Zögernd ließ Ada ihre Füße auf den kalten Linoleumboden gleiten. Der Schmerz blieb gleich, kein Stechen, kein Aufheulen, nur der dumpfe Hinweis ihres Körpers, dass etwas grundsätzlich nicht in Ordnung war. Vorsichtig verlagerte Ada ihr Gewicht auf die Füße. Ja, es klappte. Am Arm der Ärztin humpelte sie die paar Meter zum Klo.
»Ich glaube, den Rest schaffe ich alleine«, brachte sie heraus und fühlte sich sehr tapfer.
»In Ordnung. Dann sage ich den Schwestern Bescheid wegen Ihrer Kleidung und auch wegen Krücken.«
»Danke.«
»Keine Ursache.« Damit verschwand die Ärztin