die Mumie, die ihr Vater sein sollte. Sie hatte Schlimmes erwartet, aber doch nicht so schlimm. Sie hatte gehofft, ihn sehen, ihn erkennen zu können. So war es nur ein Stück Fleisch, ein lebloser Körper, der von den Maschinen am Leben erhalten wurde.
Sie hätte ihn gerne umarmt oder seine Hand berührt, doch sie wagte nicht, die weißen Verbände anzufassen. Vorsichtig rückte sie mit dem Stuhl näher an das Kopfende heran.
»Hallo, Papa«, sagte sie leise. »Kannst du mich hören?«
Der König zeigte nicht die geringste Reaktion. Ada streckte ihre Hand nach seiner aus und zog sie dann auf halbem Weg wieder zurück. »Papa, mir geht es gut. Mir ist nichts passiert.«
Ihr war, als würde sich sein Puls, den der Monitor aufzeichnete, mit einem Mal beschleunigen, doch dann kehrte die Anzeige zu ihren konstanten 63 Schlägen zurück. Obwohl überall Maschinen klickten, surrten und piepten, war es sonderbar still – es war die Abwesenheit von menschlichen Geräuschen. Überaus deutlich nahm Ada den fremden Geruch ihrer Kleidung nach Krankenhauswaschmittel und parfumfreier Seife wahr.
Es war so schwer, sich unter diesem weißen Berg ihren Vater vorzustellen. Wenn sie an Frank König dachte, dachte sie an einen großen, athletischen Mann, der aufrecht und mit selbstsicherem Schritt voranging. Die weißen, halblangen Haare, die ihm etwas Dandyhaftes oder wildes – je nach Tagesform – verliehen, waren stets sein Markenzeichen gewesen. Schon ihre Mutter hatte ihn mit dieser verlängerten Prinz-Eisenherz-Frisur kennengelernt; früher blond, später grau, dann weiß, schneeweiß wie sein Bart, wie der Weihnachtsmann in der Coca-Cola-Werbung, oder wie ein alter König.
Irgendwann kam ein Arzt in den Raum, an der Position bestand kein Zweifel, denn er trug einen weißen Kittel über seinem hellgrünen Gewand. »Hallo, ich bin Dr. Belram, Sie wollten mich sprechen?«, sagte er, während er ihr ein bisschen zu fest die Hand drückte. Dennoch war Ada froh, endlich jemanden vor sich zu haben, der ihre Fragen beantworten konnte.
»Hallo, ich wollte gerne wissen, wie es meinem Vater geht und … was mit ihm passiert ist.«
Der Arzt trat an das Fußende des Bettes, an das ein kleiner Tisch montiert war und blätterte in der darauf liegenden Akte. Er nickte ein paar Mal, übersprang ein paar Seiten und las dann halblaut: »Dislozierte distale Tibiafraktur links, Trümmerfraktur linkes Knie, pertrochantäre Femurfraktur beidseitig, Beckenfraktur links. Schweres stumpfes Bauchtrauma, serielle Rippenfraktur. Fraktur von Unterkiefer, Nasenbein, und Stirnbein. Stabile Fraktur HWK3. Schulterpfannenfraktur links, Trümmerfraktur rechter Ellenbogen. Schweres Schädelhirntrauma mit Contre-Coup und subduralem Hämatom.«
So mechanisch und medizinisch korrekt, wie der Arzt die Zusammenfassung der Verletzungen auflistete, hörten sie sich an wie die Mängelbeschreibung eines maroden Hauses, dessen Preis man drücken wollte. Es klang nicht wie etwas, was durch einen fleißigen Handwerker und ein paar Wochen Zeit repariert werden konnte. Es verlangte nach einer Totalsanierung, oder gleich einem Abriss. Ada verstand nur die Hälfte von dem, was der Arzt gesagt hatte, aber die schiere Menge an Verletzungen und die Wiederholung von »Fraktur, Fraktur« waren niederschmetternd. Sie fragte sich, welcher Teil der Mumie eigentlich noch intakt war. Konnte man das noch als menschliches Leben bezeichnen?
»Ihr Vater …«, der Arzt stockte, schien nach Worten zu suchen. »Hat sehr schwere Verletzungen erlitten. Wir konnten ihn so weit stabilisieren, aber er ist immer noch in einem kritischen Zustand. Wir haben ihn mit Medikamenten sediert, damit sich sein Gehirn erholen kann, aber selbst ohne die Sedierung wäre er nicht bei Bewusstsein. Wir überprüfen ständig den intrakraniellen Druck, das heißt, wir müssen sicherstellen, dass sein Gehirn nicht zu sehr anschwillt. Wenn die Schwellung abgeklungen ist, können wir ihn langsam aufwachen lassen und sehen, wie es ihm geht. Bis dahin sind alle Prognosen reine Spekulation.«
»Aber … ist es möglich, dass er wieder ganz gesund wird?«
»Möglich ist es.«
»Und wahrscheinlich?«
Der Arzt hob die Augenbrauen und wackelte leicht mit dem Kopf hin und her. Dann zuckte er mit den Schultern. In entschuldigendem Tonfall sagte er: »Das kann ich wirklich nicht sagen. Ich hab schon Leute hier rausspazieren sehen, da hatten wir alle Hoffnungen aufgegeben. Und andere sterben, da hätte man es niemals erwartet. Wir müssen abwarten.«
Ada konnte sich denken, was das heißen sollte. Ihr Vater war erst im Frühling 66 Jahre alt geworden. Sicher, er war schlank und sportlich und man hätte ihn ohne Probleme fünf Jahre jünger schätzen können. Aber er war trotzdem kein junger Mann mehr. Vorletzten Winter hatte er sich bei einem Sturz die Hand gebrochen. Bis heute klagte er über Schmerzen, Steifigkeit und Taubheitsgefühl – und das war nur eine kleine Fraktur gewesen. Sie sah zu der Mumie im Bett und schüttelte den Kopf. Ihr war, als würde sich in ihrem Innersten ein schwarzes Loch auftun, ein Mahlstrom, der jedes Gefühl, jeden Hauch von Hoffnung in einen schwarzen Abgrund jenseits dieser Welt zog.
Und wenn ich auch um sein Überleben gefleht hätte?, kroch eine Frage über den Rand des Strudels, doch Ada schluckte sie herunter, bevor sie sich bis zu ihrem Mund hinaufwinden konnte.
»Sie können ruhig bei ihm bleiben und auch mit ihm reden, wenn Sie wollen. Haben Sie keine Angst, sprechen Sie mit ihm, als wäre er wach. Sie müssen nicht schüchtern sein. Falls er sie versteht, wird er sich freuen, und falls er nichts mitbekommt, können Sie auch nichts falsch machen. Es ist immer gut, mit den Patienten so umzugehen, als wären sie wach. Das verhindert auch, dass man über sie spricht, verstehen Sie?«
5. Kapitel
Zurück in ihrem Zimmer war Ada so erschöpft, als hätte sie eine Weltreise hinter sich. Stöhnend glitt sie ins Bett und zog sich die Decke bis unter die Nase.
Sie musste eingeschlafen sein, denn sie erwachte, als ein Pfleger das Tablett mit dem Abendessen brachte und eine weiße Tüte auf den Stuhl neben ihrem Bett stellte.
»Was ist das?«, murmelte sie schlaftrunkener, als sie eigentlich war, denn sie wollte nur Antworten, keine Fragen hören.
»Das sind Ihre persönlichen Sachen. Ein Mitarbeiter der Polizei hat sie abgegeben. Wenn Sie wollen, kann ich sie auch in den Safe legen?«
»Nein, danke, geben Sie bitte her.«
Er reichte ihr die Habseligkeiten und ließ sie dann allein. Ada lugte in die Tüte. Tatsächlich lagen dort ihr Geldbeutel sowie der ihres Vaters, mehrere Schlüsselbunde, sein altes Handy und ihr eigenes Smartphone. Das Schutzglas war in ein Spinnennetz zersprungen, doch als sie auf den Power-Knopf drückte, leuchtete das Display auf. Ada versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wo das Handy während des Unfalls gewesen war. Die Erinnerung pochte in ihrer Magengrube wie ein Faustschlag: Sie hatte es in der Hand gehalten, sie hatte die Rehe gefilmt. Vor lauter Schreck entglitt ihr das Telefon, landete aber weich auf der weißen Decke. Mit zitternden Fingern nahm sie es erneut hoch, konnte ihren Tremor aber kaum unter Kontrolle bringen, sodass es sie einige Mühe kostete, die Kamerafunktion zu öffnen. In einem kleinen runden Fenster erschien das Vorschaubild des letzten Videos, das sie aufgezeichnet hatte: ein Standbild des verwackelten Wagenfensters. Ada zögerte. Wollte sie das wirklich sehen? Konnte sie es aushalten? Bevor sie sich entschieden hatte, tippte ihr Daumen schon auf Play.
Sie hörte das Brummen eines Motors, das Display zeigte ein wackeliges, hellgelbes Weizenfeld durch das geschlossene Beifahrerfenster, dann die Einfahrt eines Wirtschaftsweges, Bäume, die am Straßenrand vorbeiflogen. Die wohlbekannte Stimme ihres Vaters sagte: »Schau mal, da vorn.« Die Landschaft bewegte sich abrupt nach rechts. Rehe auf einer Wiese. Dann ein Schwenk zurück über die leere Straße in Richtung der Baumreihen, doch bevor das Objektiv wieder fokussieren konnte, sagte ihr Vater: »Ach du …«, das Bild flog zur Seite, wilde Farben tanzten, ein Schrei, Ende. Ada schluckte. Sie erinnerte sich noch genau, ja, ihre Erinnerungen