»Bist du fertig?«, hörte sie die helle Stimme ihrer Schwester aus dem Wohnzimmer.
»Einen Moment. Ich muss die Gitarre holen und meine Tasche packen.« Sie hatte über Jahre Fotos von den Bildern gemacht, die bei ihr ausgestellt waren. Natürlich hatte sie die Motive ausgewählt, die die Nordsee in all ihren Facetten zeigten. Darauf hatte sie bei ihrer Auswahl Wert gelegt. Sie hatte mit Erlaubnis der Künstler Postkarten anfertigen lassen, die sie nun verkaufen wollte.
Ob sie Wurzellage wirklich allein lassen konnte? Noch immer saß ihr der Ärger über die verschmierte Scheibe ein wenig im Nacken. Sie hatte dem Polizisten erzählt, dass es nicht das erste Mal war, dass sie Pferdemist abkratzen musste. Schon zwei Tage zuvor hatte sie dunkelbraune Streifen auf der Eingangstür festgestellt. War es wirklich ein verunglückter Kinderstreich, wie der Polizist vermutete? Aber was sollte sonst dahinterstecken? Sie hatte keine Ahnung. Sie und Änne kamen mit den Insulanern gut aus. Wer sollte etwas gegen sie haben? Nein, es würde gutgehen. Jetzt wartete das Fest beim Heimatverein. Sie stellte die Tasche in den Korb auf dem Gepäckträger ihres Rades.
»Pass auf, dass der Rock nicht in die Speichen gerät«, rief ihre Schwester, als sie losfuhren.
Es war schon ordentlich etwas los bei dem Bummert, dem alten ostfriesischen Doppelhaus, in dem der Heimatverein seine Ausstellung zeigte.
»Gut seht ihr aus.« Karola Meinert, die erste Vorsitzende, schaute die Schwestern freundlich an.
Meta meinte sogar, Bewunderung in deren Augen zu sehen.
»Du, Meta, kannst dich zu Herbert stellen, Änne, der Kuchenverkauf ist draußen. Das Wetter soll halten. Sonnig, aber nicht zu heiß. Wenn ihr Hilfe braucht, meldet euch. Ich muss drinnen nachsehen, ob die Ausstellung im Obergeschoss fertig ist.« Karola verschwand im Gebäude.
Meta atmete tief aus. Die Frau hatte eine Energie, das war unglaublich. Sie hatten vor vier Tagen die letzte von vielen Sitzungen gehabt, da Karola ständig etwas eingefallen war, was verbessert werden konnte. Die Ausstellung zu den 70ern hatte da längst gestanden, wäre auch sonst zeitlich ein wenig schwierig geworden. Sie hatten viele Themen zusammengetragen. Zum Beispiel gab es damals die Butterfahrten. Die Gäste fuhren mit Schiffen wie der Nordstern raus bis drei Meilen vor die Küste, und dann wurde eingekauft. Dänische Butterkekse, Kirschlikör, Zigaretten, Parfüm und vieles andere waren begehrte Objekte beim zollfreien Einkauf gewesen. Bis zum Jahr 1999 war dieser beliebte Ausflug fester Bestandteil des Urlaubs, dann änderte sich die Gesetzeslage.
Meta folgte Karola und sah, dass Herbert ihr zuwinkte. »Wir sind im hinteren Raum.«
Na gut, dann eben hinten. Sie wäre lieber draußen geblieben. Hier würden sich bestimmt nicht ganz so viele Besucher einfinden. Aber vielleicht hatten sie Glück. Herbert packte seine Tasche aus und verteilte Bernstein in allen Größen auf dem Tisch. Er war dafür bekannt, ein Auge für diese Millionen Jahre alten Fundstücke aus dem Meer zu haben. Wie einige andere Insulaner ebenfalls. Sie selbst konnte Stunden am Strand entlanglaufen und würde nicht einen Krümel finden. Sie legte ihre Karten dazu, voller Erwartung, wie der heutige Tag verlaufen würde.
»Ich bin gespannt auf die Gitarrengruppe«, sagte Herbert vergnügt und stellte eine kleine Kasse auf den Tisch.
»Das wird bestimmt gut. Ich singe natürlich mit. Schließlich war ich damals eines der jüngsten Mitglieder. Würdest du, wenn ich weg bin, auf meine Karten aufpassen?«
»Mache ich gerne. Was kosten sie?«
»Ein Euro das Stück. Ein Teil davon geht als Spende an den Heimatverein«, erklärte sie. Musste der Mann sie an ihren Auftritt erinnern? Bis jetzt hatte sie den Gedanken daran weit nach hinten geschoben. Immerhin war es ihr erster öffentlicher Auftritt mit Gesang seit mehr als 20 Jahren und es würde wohl auch ihr letzter bleiben. So hoffte sie zumindest. Sie hatte bei einer Vorstandssitzung die Idee vorgetragen, ob man nicht an die Erfolge der Gruppe – wie hieß es damals immer so schön? – junger Frauen und Mädchen erinnern sollte, die regelmäßig mit deutschem Liedgut die Gäste erfreute. Der Vorschlag war bestens angekommen. Es hatten sich einige Frauen, die das Gitarrenspiel beherrschten und auch singen konnten, bereit erklärt für einen Auftritt. Außer ihr waren zwei ehemalige Sängerinnen dabei. Sie hatten sich alte Musikkassetten angehört, die schönsten Lieder ausgesucht und einstudiert. Sogar ein paar Trachten waren aufgetaucht. So würde es hoffentlich ein schönes Bild abgeben, wenn sie vor dem Bummert standen und das Baltrumlied sangen.
»Auch ich werde einen Teil meiner Einnahmen spenden. Ich hoffe, es kommt ordentlich etwas zusammen«, holte Herbert sie aus ihren Überlegungen.
»Natürlich. Bernstein ist gefragt.« Sie sah, wie Herbert eine Dose öffnete und mehrere Ketten herausnahm. »Hat deine Frau die gemacht?«
»Ja. Es gelingt ihr immer besser.« Liebevoll legte er die Ketten nebeneinander ganz vorne auf den Tisch. Dann öffnete er eine Dose mit silbernen Ringen. Auch sie trugen jeweils einen dicken gelben Stein.
Es dauerte nicht lange, da standen bereits einige Gäste vor ihnen. Herbert verwickelte einen älteren Mann in ein intensives Gespräch, in dem er ihm versicherte, dass der Kauf eines Steines reines Glück mit sich brächte. Er redete und redete, sodass der Mann mit den grauen Haaren keine Chance hatte, zu Wort zu kommen. Hoffentlich geht das nicht die ganze Zeit so, wünschte Meta sich aus tiefster Seele und stellte fest, dass der Auftritt mit den anderen Sängerinnen allmählich seinen Schrecken verlor. Im Gegenteil, sie freute sich darauf, endlich auch den Mund aufmachen zu dürfen.
»Ich nehme von jedem Motiv eine.«
Erstaunt blickte Meta die Frau an, die zügig auf den Stand zugeeilt war. Immerhin hatte sie 35 verschiedene Motive anzubieten. Aber sie widersprach nicht, sondern nahm je eine Karte und reichte sie der Frau. »35 Euro bekomme ich bitte.«
Die Frau zog ihre Geldbörse aus der Tasche, legte das Geld auf den Tisch und steckte die Karten ein. So schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie wieder.
So konnte es weitergehen. Dann wäre sie bis mittags mit dem Verkauf der Karten durch.
5
Sigmar Benedikt genoss den Tag. Gerade erst hatte er sich von seinen neuen Bekannten verabschiedet, nachdem sie jede Menge Erinnerungen ausgetauscht hatten. Wobei Hans und Marga natürlich die Entwicklung des Lebens auf der Insel genau begleitet hatten. Sie hatten nicht ein Urlaubsjahr ausgelassen, nachdem sie Anfang der 70er das erste Mal hier gewesen waren. Die beiden kannten jeden Strauch und jeden Stein. Keine Familiengeschichte war ihnen fremd, und sie erzählten gerne. Sigmar musste innerlich lachen, als er am Schwimmbad vorbeikam.
Hans und Marga waren damals zum Nacktbaden ins Wellenbad gegangen. »Die Vorhänge wurden zugezogen vor den großen Fenstern«, beschrieben sie. »Da war immer gut was los.«
Die Zeiten waren vorbei. Aber das störte ihn nicht. Schwimmen war nicht seine Leidenschaft, ob nun mit Badehose oder ohne. Ganz im Gegensatz zu Ulf. Der hatte sich nur kurz im Strandcafé aufgehalten, dann seine Tasche genommen und war zum Strand gegangen. Sigmar war schnell klar gewesen, dass sich Ulf für die Erinnerungen aus früheren Zeiten nicht interessierte. Warum auch? Für ihn war die Insel Neuland. Es hatte sowieso größerer Überredungskunst seinerseits bedurft, Ulf mit auf die Insel zu bekommen. Aber letztendlich hatte er eingewilligt unter der Voraussetzung, dass er sich nicht ständig alte Geschichten anhören musste.
In Höhe des Hotels Seehof kam ihm Bernd, der Dritte im Bunde, entgegen. Auch er war der Runde ferngeblieben. Er begrüßte ihn freundlich, aber Bernd nickte nur kurz und ging weiter. Marga hatte erzählt, dass Bernd morgens immer etwas verschlafen auftrat, wobei Sigmar feststellte, dass es eigentlich bereits Mittag war. Er beschleunigte seine Schritte. Er musste sich ein wenig beeilen, wenn er den Auftritt der Gitarrengruppe miterleben wollte.
Tatsächlich hörte er bereits fröhlichen Gesang, als er das Heimatmuseum erreichte. Wie gut, dass Ulf nicht bei ihm war. Das wäre gar nichts für seinen Mann gewesen. Er holte sich ein Bier und setzte sich ins Gras. Die Gedanken sind frei. Waren sie das wirklich? Durfte man ihnen erlauben, frei zu sein? Was würde dann passieren? Dass sich zum Beispiel