Weil er in Bereitschaft sein muss? Die Mutter beobachten, das geht nur lautlos. Er muss sich anschleichen wie ein Späher der Apachen. Und was sieht er dann? Auch Paul ist auf seinem Posten, starrt sie an. Nein, er schaut durch sie hindurch. Warum hat sie die Löcher in ihrer Brust nicht schon früher bemerkt? Durch sie können Pauls Gedanken flutschen. Aber wohin fliehen sie? Gitta will sie anhalten und fragen, doch keiner bleibt stehen. Fort, nur fort! Mit jedem Gedanken, der entkommt, schrumpft Pauls Schädel. Bald wird nichts als ein Stecknadelkopf auf seinem Hals sitzen. Wenn sie brav gewesen war, durfte sie in Mutters Nähkorb die Stecknadeln ordnen. Die grünen und roten ins linke, die gelben und blauen ins rechte Fach. Oba pass auf, dass du di’ net stichst. Gitta hält die Hände vor die Brust. Halt! Hier darf keiner mehr durch. Die Gedanken müssen eingesperrt werden. Sie sollen nicht frei herumlaufen. Und Paul muss seinen Kopf behalten. Gitta greift nach Pauls Gesicht. Wie eine Blinde tastet sie es ab. Die dichten Augenbrauen, die glattrasierten Wangen, die dünnen Lippen. Auch die Ohrläppchen sind nach wie vor angewachsen. Schweißnass sein Haar. Warum fasst er nach ihren Handgelenken? Warum das laute Atmen? Hat er gerade gekämpft? Mit den Gedanken? Die Adern auf der Stirn treten hervor, unter den geröteten Augen sind tiefe Ringe. Konvex und konkav. Stark ausgeprägte Wölbungen und Vertiefungen. Wie beim Verdrüsslichen. Nur die zwei Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln sind noch nicht so ausgeprägt. Wenn sie die malte, müsste sie weniger dunkle Farben nehmen als beim Porträt des Charakterkopfes.
- Gitta!
Warum schreit er denn? Klaro, er will nicht den Kopf verlieren. Gitta muss ihm beistehen, aber das geht nicht, wenn er sie weiter schüttelt. So wird sie erneut zum Sieb, das seine Gedanken durchlässt.
- Gitta!
- Lass mich los!
- Erst wenn du dich wieder beruhigt hast.
- Ich bin doch ruhig.
- Bist du nicht!
Sie will sich losreißen, aber Paul ist stärker. Den Griff kennt sie. Er wird ihn erst lockern, wenn sie aufhört – aufhört womit denn? Tief einatmen, tief ausatmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Verwirrt blickt Gitta auf ihre Fingernägel, die dunkle verklebte Ränder haben. Kommt das vom Reiben der juckenden Augen? Oder von Pauls Haar? Aus dem rinnt etwas über die Stirn und versickert in seinen Augenbrauen. Roter Schweiß. So etwas hat sie schon einmal gemalt. Ein tolles Bild, gut verwahrt im Atelierkasten hinter den Stillleben, Skizzen und Zeichenblöcken. Auch der Mann mit dem weit aufgerissenen Maul ist dort. Keine Porträts. Gesichte. Die muss sie doch verstecken. Vor Bernhard. Vor Paul. Vor sich selbst.
- Bernhard, wo ist er?
Gittas Stimme ist heiser. Hat sie geschrien?
- In seinem Zimmer.
- Hat er was mitbekommen?
- Ich denke nicht. Du warst nicht laut.
- Was war ich dann?
Vorsichtig öffnet Paul seine Hände. Gittas dünne Unterarme hängen in der Luft, gehalten vom Nachgefühl der Umklammerung. Erst, als sie die Handgelenke wie nach einer anstrengenden Gymnastikübung schüttelt, antwortet Paul:
- Kämpferisch.
- Wie?
- Du bist auf mich losgegangen.
- Ich wollte nur …
- Was wolltest du?
Gitta kann doch nicht sagen, dass sie Pauls Gedanken am Entwischen hindern wollte. Absurd das alles. Sie schaut an ihrem schwarzen Pulli entlang zum Hosenbund. Ihr Oberkörper ist schmal, aber kein Sieb. Was war denn gerade los mit ihr?
- Nichts. Ich wollte nichts.
- So hat es sich aber keineswegs angefühlt.
Erneut starrt Paul sie an. Gitta weicht seinem Blick aus. Sie will sich nicht verrückt machen lassen. Die letzten Wochen, ja Monate, war sie unauffällig. So stand es auch im Befund der Baumgartner Höhe. Verhalten: unauffällig. Wie früher. Wie vor ihrem Ausbruch. Ein stilles Kind. Eine zurückhaltende junge Frau. Sie ist wieder im alten Gitta-Modus. Ein bisschen achtgeben muss sie, aber sonst ist alles in Ordnung mit ihr, mit Bernhard, mit Paul.
- Wie wär’s, wenn du die Ausstellung absagst.
Gitta fährt zusammen. Nur das nicht! Die Ausstellung ist wichtig. Sie holt sie heraus aus ihrem Schneckenhaus, so wie es Paul, wie es die Psychiaterin immer predigen.
- Sie macht dich doch schon seit Wochen nervös. Warte ab. Nimm stattdessen einen kleinen Job an, nichts Stressiges, damit deine Woche eine Struktur bekommt.
Paul mit seinem Tagesgerüst für sie und Bernhard. Er hört nicht auf damit.
- Und mehr verdienen als mit deinen Bildern würdest du auch.
Was soll das? Will er ihr so einen Job schmackhaft machen? Sie soll raus, nicht nur zum Einkaufen und Abholen. Warum glaubt Paul, dass Malen krank macht? Es stimmt, sie ist in der Welt der Bilder gefangen, kommt nicht davon los. Aber wer sagt, dass das ungesund ist?
- Du musst anders eingestellt werden. Ich rede mit Frau Dr. Hebel. Hörst du mich?
Natürlich hört sie ihn. Sie ist ja nicht taub.
- Das mach ich schon selbst.
Gitta ist erstaunt, wie energisch ihre Stimme plötzlich klingt. Auch Paul wirkt überrascht.
- Gut, dann rede du mit ihr, am besten heute noch. Ich kann nicht mehr so wie vor einem Jahr abwechselnd mit deiner Mutter hier sein, um für Bernhard zu sorgen. Die Schweizer haben dafür wenig Verständnis. Ich verlier sonst meinen Job.
Da macht es klick bei Gitta.
- Haben wir Geldsorgen?
- Nicht direkt.
- Und indirekt?
- Gitta, es geht sich alles aus.
- Aber du hast doch geerbt.
- Den Pflichtteil.
- Und der ist aufgebraucht?
- Nein, aber viel davon ist nicht mehr übrig, und ich will nicht meine letzten Sachen aus der Familienstiftung holen. Außerdem ist die jährliche Leihgebühr, die wir dafür kassieren, auch ganz gut.
Paul, der lange Paul, schaut betreten zu Boden. Seine Lippen sind so fest aufeinandergepresst, dass der Mund nur mehr ein dünner Strich ist, den sie mit einer einzigen Linie festhalten könnte.
- Ich soll also nicht auf bessere Zeiten hoffen, sondern lieber jetzt schon jobben, damit ich etwas dazuverdiene.
Gitta beobachtet Pauls Fußspitze, mit der er das Fischgrätmuster des Parkettbodens nachzeichnet.
- Nein, das meine ich nicht.
- Was dann?
- Gitta, ich halt’s nicht mehr aus. Ich muss weg, und du musst raus. Sonst werden wir alle noch wahnsinnig.
Gitta merkt, dass ihre Brust schon wieder durchlöchert ist, doch kein Gedanke will durch, weil Paul sich schon umgedreht hat und seine Reisetasche nicht mehr aus-, sondern einpackt.
X.
Carola holt Reklamezettel aus dem Postkasten und wirft sie in den Papiercontainer neben dem neu eingerichteten Fahrradraum. Ein altes Barockhaus und immer noch so funktionell. Ihr Daheim! Als sie die Wohnung bezogen hatte, meinte sie scherzhaft zu Wilfried, dass man sie von hier nur mehr mit den Füßen voran rausbringen könne, so begeistert war sie vom Blumenrelief überm Hauseingang, den frisch gestrichenen Holzfenstern, dem begrünten Innenhof, den gemütlichen Pawlatschen. Doch nun, da das einst so leichthin Gesagte bald eintreten wird, sieht sie den Charme des Hauses mit Wehmut. Nirgendwo sonst ist sie sich ihrer Vergänglichkeit derart bewusst wie bei seinem Anblick. Von Generationen von Eigentümern immer wieder renoviert, adaptiert, gefärbelt, damit es wie neu aussieht. Bei Gebäuden funktioniert das, vorausgesetzt, sie haben eine gute Substanz, bei Menschen hingegen … Carola steigt die Wendeltreppe hoch, stützt sich dabei auf den von zigtausenden Fingern abgegriffenen