Eva Holzmair

Der Verdrüssliche


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hat, oder die Frau direkt an der Absperrung, die ständig hochspringt. Gittas Atmung wird ruhiger, das Zittern hört auf. Über die Köpfe der Wartenden hinweg späht sie auf die Anzeigetafel. Der Flug aus Zürich ist pünktlich gelandet. Da Paul immer nur Handgepäck hat, müsste er jeden Augenblick herauskommen, aber sie ist nun hier, erwartet ihn. Alles normal. Eine Frau, die ihren Mann abholt. Pünktlich. Wieder öffnet sich die automatische Tür, entlässt eine Schar Japaner, die offensichtlich einer Reisegruppe angehören. Dahinter entdeckt sie Paul. Er überragt die meisten Leute um Haupteslänge, nicht bloß Asiaten. Ein großer Mann, aber nicht stattlich. Gitta lächelt. Paul ist die Bohnenstange geblieben, als die sie ihn kennenlernte. Damals hielt sie ihn für attraktiv, heute nur noch für lang und dürr.

      Federnden Schrittes kommt Paul auf sie zu. Vor Gitta taucht ein kahl in den Himmel ragender Zweig auf, an dem noch eine verdorrte Frucht baumelt. Schon wieder so ein Bild! Es ist aber keine Halluzination, nein, eine Vorstellung. Das ist schon okay.

      - Hallo, Schatz!

      Gitta antwortet nicht, gibt Paul bloß einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

      - Was hast du denn mit deinen Augen angestellt? Du siehst ja aus wie ein Kaninchen.

      - Wahrscheinlich eine Allergie.

      - Die kommt von deinen Farben.

      - Nein!

      - Warst schon beim Arzt?

      - Nein.

      Schweigend gehen sie zum Kassenautomaten und weiter zu Gittas kleinem Fiat. Paul legt die Reisetasche auf den Rücksitz und klopft ostentativ seinen Anzug ab. Ach ja, die Waschanlage! Sie ist noch immer nicht dort gewesen. Gitta will kein schlechtes Gewissen haben, schon gar nicht wegen eines dreckigen Autos. Nur jetzt keine miese Stimmung aufkommen lassen.

      Während Gitta aus dem Flughafengelände hinausfährt, steigt erneut ein Bild vor ihr auf. Streng steht Paul in der Tür des Kinderzimmers, die Arme verschränkt, und beobachtet den trotzig verheulten Bernhard, wie er sein Zimmer aufräumt. Gitta sieht ein, dass Bernhard Ordnung halten soll, aber doch nicht derart pedantisch. Sie ist zufrieden, wenn Bernhard abends die Sachen so verstaut, dass sie nicht darüber stolpert. Außerdem fühlt sie deutlich, dass sie nicht das Recht hat, von Bernhard übergroße Sorgfalt zu verlangen, wenn ihr eigenes Atelier pittoresk, aber sicher nicht aufgeräumt aussieht. Andere Bilder kommen hoch. Paul, der Seiten aus Bernhards Hausübungsheft reißt, weil der Bub schlampig geschrieben hat. Nur ist das danach Geschriebene um nichts besser. Sie liest, wenn darum gebeten, die Aufgaben durch, macht Bernhard auf Fehler aufmerksam, die er dann auskillert und korrigiert. Natürlich sieht so eine Seite nicht schön aus, aber sie deshalb nochmals schreiben … Paul, der im Wohnzimmer auf und ab geht, Gitta anherrscht, wie sie das zulassen könne, nichts dagegen unternehme, Bernhards Schludrigkeit geradezu fördere. So viel Disziplin wirst du doch noch aufbringen können. Für deinen Sohn! Immer mehr Bilder fallen über Gitta her, Bilder vom rigiden Paul, der darauf besteht, dass Bernhard eine vorgegebene Struktur einhält. Er soll ihm nicht auch noch entgleiten, so wie Gitta. Die Drohgestalt auf Bernhards Zeichnungen, das könnte schon Paul sein.

      - Pass doch auf!

      Automatisch steigt Gitta aufs Bremspedal. Gerade rechtzeitig. Sie hat einen ausscherenden Lastwagen übersehen. Besser jetzt kein Gespräch. Sie ist zu angespannt, Paul eindeutig auch.

      VIII.

      Im Schweizertrakt der Hofburg öffnet Carola das vertraute Tor, über dem in dünnen Lettern Säulenstiege steht. Die altbekannten Stufen liegen vor ihr. 89. Erstmals gezählt bei ihrem Vorstellungsgespräch. So nannten es damals die zwei verknöcherten Herren, die sie in einem mit Akten, Büchern und Folianten vollgestopften Raum empfangen hatten. Die beiden plauderten entspannt über Carolas Dissertation, den voraussichtlichen Zeitpunkt der Fertigstellung und darüber, was sie ihr bieten konnten: einen B-Posten, später natürlich A, keine Frage. Ein Fräulein Doktor müssen wir dann schon neu einstufen. Das würde heute niemand mehr sagen, und sicher nicht in diesem wohlwollend herablassenden Ton. Sie wurde auch befördert, aber erst, als sie mit dem Doktoratszeugnis in der Hand auf dieser Zusage und ihrem Recht beharrt hatte. Im Staatsdienst hatten Männer wie Frauen mit Universitätsabschluss einen A-Posten zu erhalten und damit mehr Geld. Zu diesem Zeitpunkt kannte sie sich mit Gesetzestexten schon sehr gut aus. Dank Wilfried.

      Carola verlangsamt für einige Augenblicke den Schritt und blinzelt nach oben. Dort hat sie gearbeitet, mit Freude gearbeitet, bis zur Pensionierung vor nunmehr, Carola stockt, Wahnsinn, acht Jahre ist das schon wieder her. Sie ist doch eben erst zum Bewerbungsgespräch hier hinaufgegangen. Immer noch kann sie die Aufgeregtheit spüren, die sie mit dem Stufenzählen niederzuringen versucht hatte. Nun pocht ihr Herz auch, aber vor Anstrengung. Gestern im Museum war sie trotz des morgendlichen Schocks besser beisammen. Zuerst der Spaziergang im Garten des Belvedere, dann die Begegnung mit dem energiegeladenen Vitochyl und den wohlbekannten Exponaten. Alles anregend, belebend. Heute hingegen fühlt sie sich schlapp. Auf dem Treppenabsatz unterm Eingang zur Burghauptmannschaft bleibt sie stehen und starrt auf den gusseisernen Fußabstreifer. Wer aller hier wohl seinen Dreck hinterlassen hat! Seit 1780 gibt es die Säulenstiege bereits. Einst führte sie zu den Privaträumen der Habsburger, zu denen von Kaisern, Erzherzögen und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Appartement von Kronprinz Rudolf. Diesen viel zu gut bewachten Treppenaufgang benutzten Rudolfs zahllose Liebschaften wohl kaum, und trotzdem kommen Carola herausgeputzte Frauen in den Sinn, die hier heraufschlichen und rasch an der eisernen Querstange den Schmutz von den Schuhsohlen abstreiften, weil sie heimlich zu Fuß hierhergetrippelt und nicht in der Kutsche vorgefahren waren. Wie viele von ihnen steckte der Kronprinz mit Syphilis an? Und wer war diejenige gewesen, die ihn angesteckt hatte? Carola ist überzeugt, dass sich der Thronfolger nicht aus politischem Protest oder gar unglücklicher Liebe umbrachte, sondern schlicht aus Angst vorm Zerfressenwerden durch die damals unheilbare Krankheit.

      Auch sie hat schon mit Suizidgedanken gespielt. Sie würde es weniger theatralisch anlegen, ohne romantisches Pipapo, ohne Kutschenfahrt, Abendessen, Abschieds­schnacksler, nicht bloß, weil sie keinen Mann hat, nein, aus Prinzip. Die kleine Vetsera mit hineinzuziehen, war doch letztklassig! Carola würde einfach den gesamten Tablettenvorrat schlucken und sich zu den Klängen von Schuberts Arpeggione-Sonate, ihrem einzigen sentimentalen Zugeständnis, ins Bett legen. Aber sie kann doch Jari nicht im Stich lassen. Und außerdem ist noch einiges zu erledigen.

      Carola steigt weiter in den zweiten Stock. Toni wird ganz schön verblüfft sein, dass sie aufkreuzt, die alte Hofrätin. Vielleicht ist er nicht einmal im Haus. Sie wollte keinesfalls anrufen und sich am Telefon verplappern. Ihr fällt es leichter, direkt mit Menschen zu sprechen als über den Umweg eines Anrufs. Da hat sie oft aus Konzentrationsmangel etwas Falsches oder sogar kompletten Unsinn gesagt. Wenn sie aber jemandem gegenübersitzt, ihn ansieht, dann ist sie fokussiert. Sie braucht den Blickkontakt, das Lesen im Gesicht, die intuitive Erfassung der Körpersprache ihres Gegenübers. Toni wird sie nicht überraschen. Wenn er verlegen ist, verschwindet sein Hals zwischen den hochgezogenen Schultern. Bei echter Freude breitet er die Arme aus wie ein Schauspieler, der am Schluss der Vorstellung das Publikum umarmen möchte. Während heikler Gespräche zeichnet sich Toni die Konzentration herbei. Sie hätte schon immer gern seine Kritzeleien analysieren lassen, hat es aber letztlich doch nicht getan. Zu Toni passt das altmodische Wort rechtschaffen. Er wird sie nicht anlügen. Und wenn er gar nichts weiß? Das ist unmöglich. Er ist für die Ausfuhrbewilligungen durchs Bundesdenkmalamt zuständig.

      Sie öffnet die Glastür und schleicht durch die altbekannten Korridore zum Zimmer von Dr. Anton Mandl. Sie weiß, wie sie die Sekretärin umgehen und ungesehen zu ihm kommen kann. So etwas wäre in modernen Bürogebäuden unmöglich, aber in der Hofburg mit ihren Tapetentüren und versteckten Gängen … Vorsichtig dreht sie am Messingknopf und späht hinein. Da sitzt er, ihr Toni, den sie wie ein Ziehkind hochgepäppelt und als ihren Nachfolger aufgebaut hat. Er war ihr vom ersten Tag an sympathisch gewesen, der blonde Mann mit seinen durch die dicke Brille noch größer wirkenden Kinderaugen. Einige Frauen im Haus hatten ihr vorgehalten, auf Männer fixiert und mit Frauen nicht solidarisch zu sein. So ein Unsinn. Sie ist heute noch überzeugt, dass ihr Anschieben bei Tonis Karriere gut war. Er ist der richtige Mann am richtigen Ort.

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