Eva Holzmair

Der Verdrüssliche


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Gitta den Verdrüsslichen doch im Original hier! Warum nicht? Verliehen ist ja nicht verkauft. Sie könnte fragen, ob sie ihn haben darf, für ein, zwei Monate gegen Reduzierung der Leihgebühr. Auf die paar Euro kann es nicht ankommen. Paul hat selbst gesagt, dass es nicht ums Geld geht. Sie würde den Kopf persönlich holen und zurückbringen. Sie hat ein Auto und darf fahren. Wenn die Skulptur in Sicherheitsverwahrung bleiben muss, dann könnte sie immer noch mit ihrer Staffelei anrücken. Das wäre zwar wesentlich komplizierter, sie müsste alle Malutensilien und die Tageslichtlampen mitnehmen, aber sie würde dafür raus aus der Wohnung kommen. Jeden Vormittag, während Bernhard in der Schule ist, könnte sie in die Innenstadt gehen und malen. Ist das nicht die Art von Struktur, die Paul sich vorstellt?

      Nun wartet Gitta ungeduldig darauf, dass Paul aus dem Kinderzimmer kommt. Was bespricht er denn so lange mit dem Buben? Doch hoffentlich nicht, wie Bernhard auf sie aufpassen soll. Das kann sie schon selbst besorgen. Sie wird auf sich aufpassen. Heute wird sie neu eingestellt, bekommt vielleicht andere Tabletten, die sie mit viel Wasser einnehmen, nicht nur irgendwie runterschlucken wird. Sie wird alle Tasks erledigen, sogar das vernachlässigte Aufgabenheft führen, dort alles eintragen, was sie tut, sie wird darauf achten, dass Bernhard regelmäßig isst, nicht zu spät ins Bett geht, sie wird … Was wird sie tun, wenn trotz allem die Angst hochkommt, sie wie gelähmt im Supermarkt steht und keinen Schritt vor den anderen setzen kann? Oder wenn sie gar auf Bernhard losgeht? Nein, das wird nicht geschehen. Sie hat noch nie den Buben angegriffen. Oder hat sie? Und Paul hat ihr das verschwiegen? Gitta starrt auf die mit bunten Abziehbildern verzierte Tür des Kinderzimmers, fixiert den braunen Drachen mit grüner Kappe, vorwitzigen Glubschaugen und dicken Nüstern, der über Bernhards Namen, Buchstabe für Buchstabe ausgeschnitten und in unregelmäßigen Abständen aufgeklebt, schwebt.

      Dass Paul die Flucht ergreift, berührt sie nicht, ein wenig, ja doch, aber nicht viel. Ist sie nach dem heutigen Anfall zu abgekämpft? Oder macht sie die tägliche Tablette nicht nur weniger nervös, sondern bereits so abgestumpft, dass sie gar nichts mehr empfindet? Dann wäre sie aber vorhin nicht ausgerastet, oder was immer das war. Und am Vormittag in der Schule hatte sie doch Angst um Bernhard. Fühlbare Angst. Die Zeichnungen halten etwas fest, das Gitta nicht benennen kann. Sie hat bloß diese diffuse Ahnung, die sich nicht abschütteln lässt. Ihre Angstzustände sind anders. Sie gehören zur kranken Gitta, machen sie hilflos, liefern sie Bildern aus, vor denen sie nicht wegrennen kann. Irgendwann verschwinden sie wieder. Gitta muss lernen, damit umzugehen. Sie haben das schon ziemlich gut im Griff, hat Frau Dr. Hebel erst unlängst gesagt. Soll sie Paul auf Bernhards Zeichnungen ansprechen? Nein, die Antwort kann sie sich ausmalen. Für ihn ist sicher sie diejenige, die zwischen Bäumen oder Autos lauert, denn dass Bernhard Abenteuergeschichten aus dem Wilden Westen zeichnerisch verarbeitet, daran hat sie doch selbst nur für einige Augenblicke geglaubt.

      Die Tür des Kinderzimmers geht auf. Bernhard sitzt mit gesenktem Kopf an seinem Schreibtisch. Gitta will hinlaufen und ihn in die Arme nehmen. Alles halb so schlimm! Aber dazu müsste sie an Paul vorbei, am langen Paul, der im Türrahmen steht, ein Bild von einem geknickten Mann, nicht nur, weil er unter jedem Durchgang automatisch den Kopf einzieht, selbst wenn es wie hier keinen Grund dafür gibt.

      - Ich geh jetzt.

      Statt das Angekündigte zu tun, macht er kehrt und streichelt den Buben, der dabei eine abwehrende Haltung einnimmt. Unentschlossen verharrt Paul im Kinderzimmer. Weder Gitta noch Bernhard sagen etwas. Gitta hört eine Uhr ticken. Wieder so eine Vorstellung, die einfach auftaucht. Sehen und hören andere Leute auch dauernd etwas, das es gar nicht geben kann? Die alte Wanduhr ist längst kaputt, hängt still im elterlichen Wohnzimmer, die Zeiger auf acht nach zwei.

      Zeit zu gehen. Paul bückt sich erneut unterm Querbalken des Türrahmens, dann noch tiefer hinunter zu den beiden Taschen, hebt sie hoch, stellt sie wieder ab, richtet sich auf und umarmt Gitta. Seine Brust ist warm. Eingebettet zwischen den aufgeknöpften Vorderteilen von Pauls Jacke spürt Gitta das Pulsieren seines Herzens, der Rhythmus geht auf sie über, Gittas Blut wird in Pauls Körper gepumpt, im Wechsel angesaugt und ausgestoßen. Das ist unmöglich. Halluziniert sie im Sekundentakt? Doch schon hat Paul die Verbindung gekappt, greift nach den Taschen und verlässt die Wohnung. Gitta hört das Summen des herauffahrenden Lifts. Ein realer Ton, kein Hirngespinst. Der Verdrüssliche! Sie läuft hinaus auf den Gang, ruft Pauls Namen. Paul steht schon in der Kabine, betätigt nun aber den Knopf, der das Schließen der Aufzugstür verhindert, und schaut sie komisch an. Ein Missverständnis. Gitta will ihn nicht zurückhalten, bloß bitten, dass er Dr. Gaidosch wegen des Verdrüsslichen fragt. Das geht aber nicht. Nicht mehr. Das hätte ihr früher einfallen müssen. Paul wartet auf ein Zeichen. Welches? Gitta will sich normal verhalten, das Richtige tun.

      - Mach’s gut.

      - Was hast du gesagt?

      Gitta wiederholt:

      - Mach’s gut.

      - Du auch.

      - Ja.

      - Du kannst mich immer anrufen.

      - Ja.

      - Ich komm, wenn du mich brauchst. Lass mir nur ein wenig Zeit.

      - Ja.

      - Dann sehen wir weiter.

      - Ja.

      Gitta beobachtet Pauls Zeigefinger, der sich zögernd vom Offenhalteknopf entfernt, aber nah genug bleibt, um ihn sofort wieder drücken zu können. Sie muss Paul helfen. Sie ihm! Crazy. Lächeln. Ja, das ist gut. Gitta lächelt Paul an und winkt zaghaft, während die Lifttür zugeht. Sie wartet, bis der Aufzug im Erdgeschoß anhält und Pauls Schritte durchs Stiegenhaus heraufhallen. Diese Prüfung hat sie bestanden. Nicht unbedingt mit einem ›Sehr gut‹, aber immerhin. Sie spürt Bernhards Kopf an ihrer Seite. Ich habe meine Aufgabe gemacht, liest du sie durch?, flüstert er, den Schädel wie ein Kater an ihrem Pulli reibend. Gitta nickt. Gemeinsam gehen sie zurück in die Wohnung. Bernhards Zimmer. Legoritter und Piraten bewachen selbstgebastelte Burgen und Schatzinseln. Der Ölprinz und alle drei Winnetou-Bände liegen auf dem Nachtkästchen, dort, wo Paul sie, Buchdeckel auf Buchdeckel geschichtet, zurückgelassen hat. Müsste sie Pauls Welt in einem einzigen Bild festhalten, wäre es dieser fest umrissene Turm aus altbackener Lektüre mit bis zum Anschlag in den Falz gedrückten Lesezeichen, die zwischen den Seiten herausragen wie präzise ausgerichtete Flaggen bei einer Parade. Daneben als Kontrast Bernhards behelfsmäßiges Zelt, das er sich aus Decken und zwei Sesseln gebaut und mit einem alten Fleckerlteppich ausgelegt hat. Träumt ihr Bub dort von seinem Retter, dem edlen Winnetou? Oder ist das sein Versteck, in das er sich flüchtet, wenn der böse Mann mit den suchenden Augen aufkreuzt? Bis vor Kurzem war das ein normales Kinderzimmer, aber nun? So viele Fragen, und Gitta weiß keine Antworten. Gehört das zu ihren Tasks? Nach Antworten suchen?

      - Mama!

      Ach ja, Bernhards Hausübung. Sie nimmt das Heft, das er ihr entgegenhält, hoch und liest:

      Der Riese und der Zwerg

      Es war eimal ein kleiner Zwerg der ging in die Weld und wolte einen Menschen sechen. Da begegnete er einem Riehsen. Der Riese sakte: Was is den das für ein Wurm? Der Zwerg sakte: ich bin kein Wurm. Der Riese lachte du Bist ein Wurm sakte der Riese. Macht nix sakte der Zwerg. Bin ich hald ein Wurm. Dafür habe ich einen Manschen gesechen der war ein Riese kann ich sagen.

      Klingt nicht nach Furcht. Ihr Bernhard hat Fantasie, keine Angst.

      - Das ist eine schöne Geschichte.

      - Sind Fehler drinnen?

      - Nur ganz wenige.

      - Wirklich?

      - Ja. Habt ihr diese Geschichte in der Schule gehört?

      - Nein, die hab ich mir ausgedacht. Die Lehrerin wollte, dass wir selbst ein Märchen erfinden, mit Feen und Zwergen und so.

      Behutsam weist Gitta auf die Rechtschreibfehler hin. Bei den Satzzeichen ist sie unsicher, ändert daher nichts. Sie muss ein paar Mal den Hals freiräuspern, während sie spricht. Müde setzt sie sich auf Bernhards Bett und beobachtet ihn, wie er, über den vielfach bekritzelten Schreibtisch gebeugt, die Fehler ausbessert.

      Irgendwo