Thomas Breuer

Der letzte Prozess


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überlegte kurz. So ganz spektakulär hörte sich das ja nicht an. Irgendwer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, einen alten Mann ein bisschen zu piesacken. Genug Bekloppte liefen ja heute überall rum. Und wer weiß, vielleicht hatte der Mörder ja auch allen Grund dazu gehabt, weil der Alte ein Stinkstiefel gewesen war. Und dass in Altersheimen gelegentlich Abgänge zu verzeichnen waren, noch dazu im Winter, wenn die Fluktuation in der Gesellschaft allgemein besonders hoch war, schien auch nicht außergewöhnlich. Außerdem stand das Thema Tod momentan bei Heller nicht hoch im Kurs.

      Andererseits: Was hielt ihn davon ab, Brenners ungewöhnliche Großzügigkeit auszunutzen und die zusätzliche Kohle abzugreifen? Sonderlich kompliziert konnte der Fall ja nicht sein. Und so schnell würde er eine solche Gelegenheit nicht wieder bekommen. Ein paar Tage an der frischen Luft auf dem Lande, umgeben von Burgruinen und Kühen – das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Wenn da nicht dieses Misstrauen gewesen wäre, denn Brenner hatte noch nie etwas verschenkt.

      »Was ist los, Heller? Lebst du noch?«, riss die ungeduldige Stimme des Chefredakteurs ihn aus seinen Gedanken. »Oder bist du eingeschlafen, verdammt noch mal? – Ich fasse es nicht: Da biete ich dem Kerl eine echte Chance und der pennt einfach weg!«

      Heller musste grinsen. Er kannte Brenner inzwischen zu gut, um ihm diese Theatralik abzunehmen. »Also gut, ich mach’s. Mail mir alles, was du hast. Morgen fahre ich los und suche mir ein Zimmer in dem Kaff.«

      »Guter Junge. Und in einer Stunde habe ich deinen Bericht auf dem Schirm, sonst war das der letzte Auftrag, den ich dir zugeschoben habe. Scheiße, Mann!«

      Bevor Heller darauf antworten konnte, hatte Brenner das Gespräch beendet. Nachdenklich legte er den Hörer ab. Wenn Brenner so wenig fluchte wie in diesem Gespräch, musste man vorsichtig sein. Dann lag der Verdacht nahe, dass er etwas von einem wollte und noch einiges in petto hatte.

      Er trat wieder an das Fenster und blickte hinaus. Die Dämmerung war dabei, den Wald zu verschlucken. Die Bäume hatten deutlich an Kontur verloren. Auch von dem Turmfalken war nichts mehr zu sehen. Dunst lag wabernd über der Weide und erinnerte an Nebel über dem Moor in den alten Edgar-Wallace-Filmen. Heller fröstelte bei dem Anblick.

      Vielleicht war es wirklich ganz gut, sich in einen Auftrag zu stürzen, der ihn nicht immer nur alle paar Tage für ein paar Stunden beschäftigte. Besser, als zu Hause rumzuhängen und Trübsal zu blasen, war das allemal. In Wewelsburg entging er auch seinen Freunden und Verwandten, die ihn seit dem Tod seiner Mutter an den letzten Wochenenden immer fürsorglich belagert hatten. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Er würde niemandem Bescheid geben und einfach abtauchen. Allenfalls eine kurze Meldung auf dem AB, ohne Kontaktadresse. Nur eine Woche Auszeit. Höchstens zwei, falls Brenners Geld so lange ungehindert fließen würde.

      Heller schlurfte zum Schreibtisch, schaltete seinen PC ein, atmete tief durch, holte seine Aufzeichnungen heraus und begann den Bericht über den Prozessauftakt in Detmold mit der Schilderung der nordrhein-westfälischen Kavallerie.

      *

      Oranienburg, 24. Oktober 1939

      Geliebtes Muttchen!

      Ich sende Dir herzliche Grüße aus dem KZ Sachsenhausen. Jetzt bin ich schon wieder fünf Wochen fern von Dir und den Kindern und so sehr im Lagertrott, als hätte es den Heimaturlaub gar nicht gegeben.

      Das Wetter ist hier nun sehr herbstlich, feucht und kalt und das ist wahrlich kein Vergnügen bei der Arbeit im Freien. Ich muß zum Glück erst in der kommenden Woche wieder mit hinaus in die Kälte und den Regen. Den Häftlingen macht das nichts, die sind das gewohnt und fühlen auch nicht so wie wir. Zu bedauern sind allerdings die Kameraden, die jetzt Urlaub haben bei dem schlechten Wetter.

      Am Freitag hatten wir einige Aufregung im Lager, denn in der Ziegelei war ein Mann verschwunden. Ich habe ihn von 2000 Häftlingen suchen lassen. Und was soll ich sagen? Der Aufwand hat sich gelohnt. Ich habe ihn gefunden. Er hatte sich unter einer Maschine eingegraben, um später zu entkommen. Ich habe kurzen Prozess gemacht und ihn vor den Augen der anderen Häftlinge sofort erschossen, damit niemals wieder einer auf den Gedanken kommt, in meinem Dienst einen Fluchtersuch zu wagen.

      Du wirst das nun grausam finden, weil Du eine so feinfühlige Person bist, aber ich muß Dir sagen, daß man die Gefangenen nicht als Menschen betrachten darf. Sie sind Staatsfeinde, mit denen wir uns täglich im Überlebenskampf befinden. Und Du wirst ja nun einsehen, daß wir den gewinnen müssen, nicht wahr? Außerdem hätte es sicher Nachteile für mich zur Folge, wenn bei meiner Wache jemand verschwinden würde. Da heißt es: hart sein gegen sich und die Feinde des Reiches!

      Aber das ist noch nicht alles an Neuigkeiten! Ich werde nämlich am Montag, den 11. Dezember, nach Ostwestfalen abkommandiert. Mein hartes Vorgehen und meine Unnachgiebigkeit gegenüber dem Häftlingsabschaum hier in Sachsenhausen hat sich endlich ausgezahlt und der Reichsführer ist auf mich aufmerksam geworden.

      Ich werde als Wachsturmführer mit 35 Kameraden und 85 Häftlingen im Auftrag Heinrich Himmlers nach Wewelsburg gehen. Der Reichsführer besitzt dort eine Ordensburg, die in sehr schlechtem Zustand ist und die wir ausbauen sollen. Das ist natürlich eine große Ehre für mich und Du darfst recht stolz sein auf deinen Vati, daß der Reichsführer ihm eine solche Aufgabe überträgt. Außerdem verkehren auf der Burg die höchsten Würdenträger der SS und ich werde ihnen zumindest hin und wieder begegnen.

      Sturmführer entspricht dem Leutnant bei den kämpfenden Truppen. Wenn ich bedenke, daß ich bei der Wehrmacht nicht einmal Unteroffizier war, bin ich doch froh, zur SS gegangen zu sein, denn hier habe ich schon den höchsten Unteroffiziersdienstgrad erreicht und werde nun sogar Offizier. Da siehst Du einmal, wie wichtig mein Dienst im KZ ist, daß er so belohnt wird.

      Aber nun etwas anderes: Was wünschen sich die Kinder und mein Muttchen denn vom Weihnachtsmann? Noch bin ich in Oranienburg und kann mich darum kümmern, sofern es nichts ist, wofür ich Bezugsscheine brauche. Wer weiß, ob es in Wewelsburg das zu kaufen gibt, was Ihr Euch wünscht.

      An Weihnachten bekomme ich Heimaturlaub. Ich kann es gar nicht erwarten, Dich, mein Hausmütterchen, und die Kinder wieder in die Arme zu schließen. Natürlich muß es zum Weihnachtsmahl Karpfen geben! Weihnachten ohne Karpfen ist doch nichts. Ich bringe schon seit Längerem kleine Portionen Butter beiseite und werde bis zum Urlaub sicherlich ein halbes Pfund beisammenhaben. Kaufen kann man Butter hier schon länger nicht mehr und auch andere Lebensmittel sind streng rationiert. Und Grünkohl mit Bratkartoffeln mußt Du mir einmal kochen, wenn ich zu Hause bin.

      Nun, liebe zukünftige Frau Sturmführerin, muß ich mich wieder auf die Bewachung der Staatsfeinde konzentrieren.

      Also, Muttchen, behalte deinen Vati recht lieb! Es grüßt und küßt Dich

      Dein Dir immer treuer Vati!

      10

      Im Besprechungszimmer herrschte abwartendes Schweigen, als Stefan Lenz eintrat. Schröder hatte vorsorglich seitlich am Tisch Platz genommen, gegenüber von Gina Gladow, und stierte auf den unbeschriebenen Notizblock, der vor ihm lag. KK Henke klopfte mit dem Bleistiftrücken im Takt auf die Tischplatte und die Oberkommissare Jakobsmeier und Steinkämper wechselten gelangweilte Blicke.

      »So, Kollegen.« Lenz setzte sich ans Kopfende des Tisches. »Dann lasst uns zügig anfangen, damit wir alle in den Feier­abend kommen. Frau Gladow, setzen Sie das Team bitte über unseren Besuch in Büren ins Bild.«

      Erstaunt blickte die Kriminalkommissarin ihn an, begann aber dann mit einem flüssigen Vortrag. Lenz war beeindruckt von der Sicherheit, mit der sie ihren Bericht so ganz ohne Vorbereitung strukturierte. Als sie die Lebenshintergründe Anton Kottmanns und der anderen alten Leute in Trakt B referierte, erntete sie ungläubiges Gemurmel aus der Runde. Ihre Beschreibung des Pflegers Wolfgang, von dem Lenz nun erstmalig erfuhr, dass er mit Nachnamen Kaup hieß und in Niederntudorf wohnte, rief schließlich allgemeines Kopfschütteln hervor.

      KOK Jakobsmeier urteilte: »Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn das für ein brauner Sumpf?«

      »Genau das müssen wir klären«, stimmte Lenz zu. »Ich glaube