stolzer Offizier!
Nun liegt wieder ein lieber Brief von Dir vor mir auf dem Tisch, den ich gleich beantworten will.
Was habe ich mich über Deine Beförderung gefreut! Ich habe gleich den Kindern davon erzählt, dass der Vati nun Sturmführer ist und sogar den Reichsführer persönlich kennt, und da ist der Anton durch die Stube marschiert und war auch Sturmführer. Der Junge vermisst Dich ganz besonders.
Was Du von dem Fluchtversuch geschrieben hast, hat mich schon erschreckt, aber Ihr habt den Verbrecher ja zum Glück wieder eingefangen. Und wenn Du Dir Sorgen darüber machst, was ich über die Härte denke, die Du ihm angedeihen lassen hast, so unterschätzt Du Dein Mütterchen aber gewaltig. Es ist nur gut, daß Du ihn gleich erschossen hast. Das hat er nicht besser verdient und wird den anderen Häftlingen eine Lehre sein. Nicht auszudenken, wenn jeder einfach so ausbrechen und im Volk sein Unwesen treiben könnte!
Ich stelle mir vor, dass Dein Dienst hart ist mit all den Verbrechern, die Du dort bewachen mußt. Laß ihnen die nationalsozialistische Erziehung nur recht deutlich angedeihen.
Als ich dem Anton von Deiner Versetzung nach Ostwestfalen erzählt habe, hat er gleich mit dem Baukasten Vatis Wewelsburg nachgebaut. Und dann hat er mit dem Lastwagen und den Soldaten KZ gespielt und gar viele Gefangene auf der Flucht erschossen. Der Junge ist mir eine rechte Freude und erinnert mich immer sehr an Dich. Nun steht es für ihn fest, daß auch er zur SS will.
Mein lieber Vati, nun steht auch bald der Winter vor der Tür, bei Dir in Oranienburg wohl sicher eher als hier bei uns im hohen Norden. Zieh Dich nur immer warm an, wenn Du nach draußen zur Arbeit gehst. Hast Du auch genügend warme Unterwäsche, soll ich Dir etwas schicken?
Nun haben wir gerade einmal zwei Monate Krieg und schon wird bei uns an der Heimatfront die Versorgungslage immer schlimmer. Im Moment ist die Butter knapp und es gibt keine Seife mehr zu kaufen. Nur die Frauen mit Säuglingen bekommen noch welche. Im »Völkischen Beobachter« hat aber gestanden, daß es bald eine Einheitsseife geben soll. Der Führer hat das Problem erkannt und angeordnet, daß Abhilfe geschaffen wird. Da siehst Du es: Er will ein reinliches Volk haben, nicht nur im Blut, auch äußerlich.
Sag mal, lieber Vati, warum bekommt Ihr im KZ eigentlich nur 50 Pfennige pro Tage für die Verpflegung? An der Front haben sie eine Mark. Da bleibt was übrig, das sie nach Hause schicken können. Das ist doch ungerecht, wo doch Dein Dienst so wichtig ist, damit uns die Juden und die Politischen nicht in den Rücken fallen wie im Ersten Weltkrieg.
Zum Glück wird das mit Deiner Beförderung nun anders. Ich habe mich erkundigt: Als Offizier bekommst Du 350 Reichsmark Bekleidungsgeld. Musst Du davon nur die Uniform kaufen oder auch die Unterwäsche? Wenn man bedenkt, dass Du dazu täglich 2 Reichsmark ausgezahlt bekommst! Das läppert sich.
Die letzte Woche war auch bei uns sehr ereignisreich. Ich war mit den Kindern bei Oma und Opa. Es gab Kaffee und Kuchen, Obst und Apfelsaft und auch Rumgrog gegen die Kälte. Überhaupt war wieder alles, als wäre gar kein Krieg. Zu Weihnachten wird Opa wieder schlachten und dann kriegen auch wir unseren Teil ab.
Für Gretchen habe ich auf dem Speicher eine alte Puppenküche und einen kleinen Herd gefunden. Das wird sie nun zu Weihnachten bekommen. Nur muss ich es erst noch in Ordnung bringen.
Wenn Du an Weihnachten nach Hause kommst, wirst Du Deine Kinder bestimmt nicht wiedererkennen. Sie haben sich im Wesen so verändert. Anton und Gretchen streiten immerzu. Nur die kleine Marie ist mir eine Freude, der kleine Hosenscheißer. Es wird Zeit, daß auch sie bald stubenrein wird. Aber nein, ich bin ungerecht. Auch Anton und Gretchen können ganz lieb sein, wenn wir am Abend zusammensitzen, vom Weihnachtsmann und vom Vati im KZ erzählen und Weihnachtslieder singen.
Schreib mir, wenn Du etwas brauchst. Und schick ein Telegramm, wenn Du auf Urlaub kommst. Ich hole Dich dann am Zug ab, auch wenn Du in der Nacht eintriffst. Du fehlst uns schon sehr. Möge der Führer dafür sorgen, daß unsere Feinde im Innern und auch außerhalb recht bald bekommen, was sie verdienen, damit wir Frauen unsere Männer zurückbekommen und die Kinder ihre Väter.
So, mein lieber Hausvater, nicht nur die Butter wird knapp, auch Packpapier und Paketband sind kaum noch zu kriegen und selbst das Schreibpapier ist Mangelware und so werde ich Dir von nun ab nicht mehr so lange Briefe schreiben.1
Aber eine Frage will ich Dir dann doch noch schnell beantworten: Was soll ich mir wohl vom Weihnachtsmann wünschen, außer daß der Krieg bald aus ist und alle Muttis ihre Vatis wieder zu Hause haben? Sonst weiß ich wirklich nicht, was ich mir wünschen könnte, außer vielleicht 4711 und ein paar Pralinen und vielleicht Parfum und Schüsseln und Töpfe für die Küche.
Die Kinder wünschen sich nur, daß Du zu Weihnachten zu Hause bist.
Ich umarme und küsse Dich in Gedanken!
Auf immer Dein Muttchen!
1) Das Deutsche Reich war zu Kriegsbeginn wirtschaftlich am Ende. Bereits am 25. September 1939 wurden Lebensmittelkarten eingeführt, mit denen die Zuteilung der knappen Nahrungsmittel gesteuert werden sollte. Am 14. November folgte der Verkauf von Kleidung nur noch über Bezugskarten.
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Es gibt Dörfer, in denen die Zeit stillgestanden zu sein scheint. Wewelsburg war ein solches Dorf, das sich nur vordergründig durch Richtungsschilder wie Fernverkehr oder eine Volksbankfiliale aus viel Glas als modernes Städtchen zu tarnen versuchte. Das Umfeld der Burg sprach eine ganz andere Sprache und entlarvte den Verkehr und die modernen Fassaden entlang der beiden Hauptstraßen als Kulisse eines großangelegten Fakes. Angesichts der historischen Gebäude fühlte sich Fabian Heller augenblicklich in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, wenn nicht gar ins Mittelalter zurückversetzt.
Die Burgfassade bestand aus Bruchstein, wie er früher in dieser Region üblich gewesen war, ebenso das ehemalige Kommandantur-Gebäude der SS, in dem sich heute das Kreismuseum befand. Eine gemauerte Brücke mit hüfthoher Balustrade führte vom Vorplatz über den Burggraben, allerdings ohne Wasser. Machte das alte Gemäuer angesichts seiner geringen Größe auf Heller einen eher gemütlichen Eindruck, so wirkte der Innenhof geradezu beengend auf ihn. Der eingekesselte Platz war ohnehin schon sehr schmal und lief dann auch noch vor einem in Relation zur Burggröße mächtigen Rundturm spitz zu, so dass er insgesamt eine dreieckige Form hatte. Über eine kleine Freitreppe gelangte man zur Eingangstür im linken Seitenflügel, neben der das Schild der Jugendherberge an der Mauer hing, die seit Jahrzehnten hier untergebracht war. Zu allem Überfluss befand sich an der stumpfen Seite des Hofes auch noch ein Eingang zum Heimatmuseum.
Unschlüssig blickte Heller sich um. Bei so viel Geschichte wusste man ja gar nicht, wo man anfangen sollte. Außerdem war das definitiv nichts für einen nüchternen Magen. Heller hatte noch nicht gefrühstückt und beschloss, erst einmal auf die Suche nach einer Tasse Kaffee und ein oder zwei belegten Brötchen zu gehen, bevor er sich die Burg ansehen würde. Zudem musste er sich um eine Unterkunft kümmern, bevor hier alles vom Dornröschenschlaf nahtlos ins lethargische Wochenende übergehen würde.
Also ließ er sein Auto auf dem Parkplatz zurück und erkundete zu Fuß die nähere Umgebung. Zwei Straßen weiter stieß er auf einen kleinen Gemischtwarenladen mit Stehtischen, eine Fusion aus Bistro und Tante-Emma-Laden. Bei der jungen Verkäuferin bestellte er zwei Körnerbrötchen mit Käse und einen Cappuccino und bekam auch noch ein freundliches Lächeln gratis dazu.
»Sind Sie wegen der Ausstellung hier?«, fragte die Frau neugierig. »Oder machen Sie Urlaub in Wewelsburg?« Sie lachte leichthin, als sei Letzteres so undenkbar wie witzig.
»Wie man’s nimmt«, antwortete Heller. »Ich bin Journalist und wegen des Mordes hier.« Er reichte ihr über die Theke hinweg die Hand. »Fabian Heller.«
»Freut mich. Julia Grote.« Dann drehte sie sich zu dem Vollautomaten um und schob eine Cappuccino-Tasse unter die Düsen. »Schlimme Sache«, kommentierte sie über ihre Schulter hinweg, während sie den Kaffeeautomaten bediente, der