der Seele an ihre ursprünglichen Quellkräfte, welche, wie sich zeigen wird, auch die schöpferischen Kräfte des Grals sind. Unter den verschiedenen Quellen nimmt die «Fontane la Salvatsche»7 eine zentrale Stellung ein. Dort wird ein viel tieferes Gespräch mit einem ganz anderen Lehrer stattfinden – mit Trevrizent, der wie Sigune an der «ursprünglichen Quelle» lebt. Die höfische Bildung der Zeit, wie sie Gurnemanz repräsentiert, vermag weder den Dingen auf den Grund zu gehen noch die Quellkräfte der Seele zu entdecken. Parzivals Biographie weist zwar schon über das instinktive Miterleben des Zeitenschicksals hinaus, er kann sie aber noch nicht bewusst ergreifen. Darin liegt ein wesentlicher Grund für sein späteres Scheitern in der Gralsburg.
Dass die «Ritterlehre» des klugen Gurnemanz nicht auf Individualität («Ungeteiltheit») hin angelegt ist, zeigt sich auch in der auffallend strengen Zweiteilung von Theorie und Praxis. Der an die Sinne gebundene Verstand, den Gurnemanz in Parzival wecken will, findet nicht den Weg zum Herzen, so wenig wie der Schnellkurs in Sachen Ritterkampf, den Parzival dank seiner «hohen Art» in vierzehn Tagen durchfliegt, geeignet ist, Bewusstsein für die im eigenen Tun wirkenden Willens- und Schicksalskräfte zu wecken. Dieser Mangel an geistiger Tiefe korrespondiert mit einer zweifelhaften, nur vordergründig «christlichen» Moralität: Man würde doch erwarten, dass in einer moralischen Belehrung über Mitleid und Barmherzigkeit sich wenigstens Hinweise auf das Mysterium des Gottessohnes fänden – nichts dergleichen. Gurnemanz vertritt auch das Ideal der Nächstenliebe nicht im christlichen Sinne, wenn er das Erbarmen für den Fall ausnimmt, dass man vom Gegner tiefes Herzensleid erfahren habe.8 Die Angst der von Parzival besiegten Ritter vor der Rache Gurnemanz’ in der folgenden Aventüre bestätigt diese Lesart.9
Dass die höfische Gesellschaft, auf die Gurnemanz den jungen Parzival vorbereitet, nicht gänzlich von christlicher Nächstenliebe durchdrungen ist, wird auch durch die Tatsache belegt, dass er alle seine drei Söhne im Kampf verloren hat. Wie wir schon in den Gachmuret-Aventüren sehen konnten, birgt die ritterliche Minnewelt zwar ein gewaltiges Erziehungspotenzial für die mittelalterliche Gesellschaft. Sie kann die im Menschen tobenden Triebkräfte und Leidenschaften bis zu einem gewissen Grade bändigen, ist aber weit davon entfernt, sie völlig verwandeln zu können. Deshalb sehen wir immer wieder Menschen, auch aus dem Gralsgeschlecht, sich vom höfischen Leben abwenden, um in der Askese den Quellen ihres Daseins nahe zu sein und einer geistigen Berufung dienen zu können, wie Sigune, Herzeloyde und Trevrizent.
Vielleicht ahnt Gurnemanz etwas von einer solchen Wandlungskraft in Parzival, wenn er ihm die Ritterschaft in der Nachfolge des ermordeten Ither überträgt. Jedenfalls scheint er in ihm Neues zu erkennen, eine offene Zukunft. So versucht er den «Roten Ritter» für seine Tochter Liaze zu interessieren, auch in der Hoffnung, ihn an sich binden zu können und somit wieder einen Sohn zu gewinnen. Wäre Parzival nur von der «hohen Art», wie es Gurnemanz’ Verstand konstatiert, hätte dieses Werben vielleicht auch Aussicht auf Erfolg und er würde diese Rolle erfüllen. Allein, der «Rote Ritter» wird einen individuelleren Weg gehen. Schon die nächste Aventüre wird zeigen, dass er sich in seinem Streben und seinen Handlungsmotiven weder von gesellschaftlichen Konventionen noch von der «Art» seines Vaters Gachmuret bestimmen lässt.
Condwîr âmûrs
Als Parzival von Gurnemanz fortreitet, hat sich in seiner Persönlichkeit eine tiefgreifende Wandlung vollzogen. Er trägt jetzt nicht nur in seinem Benehmen alle Zeichen ritterlicher Gesinnung und Bildung, auch sein Gemüt ist verwandelt. Indem er die «Tumpheit» des kindlichen Bewusstseins abgelegt hat, übernimmt zunächst «Gachmurets Art» in ihm die Herrschaft und lenkt seine Gedanken auf die schöne Liaze, die Tochter des ritterlichen Lehrmeisters. Wie eine innere Nötigung erlebt er diesen Zustand «unsüßer Strenge», und die Welt wird ihm zu eng. Für einen Moment scheint er in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Gefangener jener Sinnlichkeit zu werden, die das Feenblut in seinen Adern ihm auferlegt. In diesem bitteren Schmerz lässt er sein Pferd springen und traben, wohin es will. Und wieder trägt es ihn mit übernatürlicher Schnelligkeit zu einem neuen Schicksalsort, zu einer Begegnung, die man nur als Gnadengeschenk einer weisen Lebensführung bezeichnen kann. Dass Parzival nämlich jetzt die Liebe in ihrer ganzen Tiefe und Schönheit erfahren darf, indem er Kondwiramurs, die «Geleiterin der Liebe», kennenlernt, lässt uns die schützende Hand der Mutter erahnen. Die Darstellung dieser Begegnung selbst ist in ihrer Bildsprache von unnachahmlicher Schönheit. Wir ahnen die Bedeutung, die Wolfram dieser Begegnung beigemessen hat – wohlweislich bevor der erste Besuch auf der Gralsburg und die Begegnung mit der Gralsbotin jene existenzielle Erschütterung herbeiführen, die ihn in die Einsamkeit der Gralssuche entlässt.
Dass Parzival gerade nicht den Handlungsmustern des Vaters folgt, macht Wolfram – ähnlich wie an vielen anderen Stellen – durch den Kunstgriff der bildhaften Gegenüberstellung deutlich, indem er durch das grobe Handlungsgerüst eine Vergleichsebene schafft, um aber in den feineren Nuancen und Details der Handlung gerade die Unterschiede umso augenfälliger hervortreten zu lassen. Wie sein Vater kommt Parzival in eine belagerte Stadt, aber nicht mit großem Hofstaat und mit viel Pomp, sondern allein und still – man flieht anfangs vor ihm, weil man glaubt, so aufrecht könne nur ein Ritter mit großem Gefolge daherkommen. Beide Kriegsschauplätze sind Küstenstädte, aber in Patelamunt leiden die «Mohren» keine wirtschaftliche Not. Sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde, sind offenbar wohlgenährt und können sich deftigen Braten leisten. Die Bewohner von Pelrapeire hingegen sind völlig ausgehungert – «ihnen tropfte kein Bratensaft in die Kohlen» – und bleich «wie Asche und fahler Lehm». Die Zierlichkeit, ja Schmächtigkeit der Königin selbst wird eigens betont. Sie wird so feingliedrig geschildert, dass sie fast zu entschweben scheint, fast unkörperlich wirkt.
In beiden Städten handelt es sich um einen Krieg wegen verschmähter Liebe, in Patelamunt allerdings liegt die Ursache in einer selbstsüchtigen Verfehlung der Königin, während in Pelrapeire die Unschuld der Königin offenkundig und der Bedränger – der König Klamidé – ein Gewalttäter ist. An beiden Orten ist die Lage anscheinend aussichtslos und ist es der heldenhafte Einzelkampf des Fremdlings, der das Blatt wendet und die Herrscherin befreit. In beiden Fällen auch ist es spontane, intensive Liebe, die als Antriebskraft für diese Befreiungstat dient. Aber wie ganz anders gestaltet sich die Begegnung zwischen den beiden Liebenden! Schon in dem Namen der Königin von Pelrapeire – Kondwiramurs – lässt uns Wolfram erahnen, dass es ihm hier um das Wesen der Liebe selbst geht.
In seiner Schilderung der vollkommenen Schönheit Kondwiramurs greift Wolfram zum Bild der «tauigen Rose», aber im Gegensatz zur Beschreibung Belakanes, wo er einen solchen Vergleich ironisiert, stellt er ihn hier ins Zentrum seiner Charakterisierung. Durch den «süßen Tau» erstrahlt diese Rose in einem Glanz («schîn»), «der beidiu wîz ist unde rôt».1 Das Bild einer zugleich weiß und rot erscheinenden Rose strapaziert unser Vorstellungsvermögen. Aber wir können im Zusammenklang der Farbempfindungen durchaus nachfühlen, worum es dem Dichter hier geht. Das Rot, die Farbe der Liebe und der Herzenswärme, ist hier vereint mit dem Weiß der seelisch-geistigen Reinheit und Unschuld. Und so sind auch die Liebesbande, die zwischen beiden geknüpft werden, zunächst rein seelisch-geistiger Art.
Nicht ein Hauch erotischer Anzüglichkeit ist im Verhalten der beiden jungen Menschen zu spüren, wenngleich der sinnliche Eindruck der Begegnung auf beiden Seiten sehr intensiv ist und sie seelisch heftig bewegt. Ihre Liebe wächst und entfaltet sich von innen nach außen. In der ersten Nacht erscheint die Königin in einem weißseidenen Hemd, darüber einen langen Mantel aus Samt – auch wenn es nicht eigens gesagt wird, stellen wir ihn uns unwillkürlich rot vor. «Von Kerzen hell wie am Tag war es vor seiner Schlafstätte. Zu seinem Bett ging ihr Weg.» Die beiden begegnen sich in tagheller Nacht, das Dunkle ist vom warmen Licht der Kerzen erleuchtet. Als das Mädchen vor dem noch Schlafenden niederkniet und weint, wird Parzival wach und schaut sie an («daz er si wachende an gesach»). Er richtet sich auf («ûf rihte sich der junge man») und bittet sie, sich zu erheben und sich neben ihn zu legen. Die äußere Gebärdensprache, das Aufrichten im hellen Lichtschein, nimmt vorweg, was sich im Innern des folgenden Gesprächs vollzieht. Kondwiramurs klagt ihm ihre Not, nicht ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen. Denn sie fürchtet, er könne danach nicht mehr schlafen.