Heinz Mosmann

Der Parzival Wolframs von Eschenbach


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aufzuhellen versucht. Etwa wörtlich könnte man lesen: «‹Dir war doch wohl so rot dein Haar, dass dein Blut die reinen Blumen nicht röter machen durfte. Du machst weibliches Lachen zunichte.›» Zweimal rot: man könnte das «rote Haar» hier als Tatendrang und Lebensfeuer verstehen, als blühendes Leben, zu dem der Tod, das die Blumen rötende Blut, im scharfen Kontrast und Gegensatz steht. Die Blumen in ihrer Reinheit und Schönheit werden durch das aus triebhafter Habgier vergossene Blut verdorben. Verständnislos, so scheint es, steht Ginover diesem scheinbar sinnlosen Schicksal gegenüber. Auffallend ist im Ausklang ihrer Klage der Verweis auf das Verschwinden des «weiblichen Lachens» angesichts des Toten. Ergänzen wir dieses Bild durch die lachende Kunneware, wird die Trauer in Hoffnung verwandelt und eine Brücke in die Zukunft geschlagen. Ein Wunder, tatsächlich, ist geschehen: die Verwandlung des Roten Ritters vom toten König von Kukumerland, der um seine Erbschaft stritt, in den tatendurstigen Jüngling Parzival, den Spross aus der Vereinigung der Grals- und Artussippe, der aus ureigenster innerer Kraft den Weg zum Gral gehen wird.

       Gurnemanz

       Der väterliche Lehrmeister

      Wieder reitet Parzival einen ganzen Tag lang. Warum beeilt er sich, eine solche Distanz zwischen sich und den Artushof zu bringen, war er dort nicht schon am Ziel seiner Wünsche angelangt? Versucht er jetzt, den Schauplatz des Verwandtenmordes so schnell und so weit wie möglich hinter sich zu lassen? Über konkrete Pläne und Ziele erfahren wir jedenfalls nichts. Es drängt ihn nach Abenteuern, vor allem aber will er ein guter Ritter sein. So reitet er einfach los und überlässt die Führung seinem neuen Ritterpferd.

      Die Rüstung des Roten Ritters ist schwer, darunter trägt er immer noch die Narrenkleider, die ihm seine Mutter gefertigt hat. Dass er dennoch äußerlich eine «ritterliche» Erscheinung darstellt, wie sie «kein Maler von Köln oder Maastricht»1 besser entwerfen könnte, liegt nicht nur an seiner ritterlichen Abstammung, vielleicht mehr noch an den besonderen Fähigkeiten und der unbändigen Kraft, die das Pferd Ithers besitzt. Er kann diese Kraft kaum zügeln, selbst wenn er es wollte, und ohne bewusste Lenkung lässt er es scheinbar ziellos dahingaloppieren. So legt «der tumbe man» in voller Rüstung an diesem Tag eine Strecke zurück, die hätte ein «Klügerer ohne Rüstung in zwei Tagen» unmöglich schaffen können.

      Die Beziehung des Reiters zu seinem Pferd, etwa inwieweit er ihm die Führung überlässt oder ihm seinen Willen aufzwingt, hat bei Wolfram stets eine bestimmte Funktion in einem umfassenden, auch kosmischen Sinnzusammenhang. Indem der Ritter sich – gewissermaßen beruflich – auf das Pferd setzt, verbindet er sich mit stärkeren Naturkräften, die nun aber nicht blind wirken müssen, sondern durch die instinkthafte Intelligenz des Tieres zugleich im Dienst einer höheren Weisheit, einer Schicksalsführung, stehen können – und damit Wege einschlagen, die der menschlichen Ratio allein verborgen blieben. Das Pferd bietet dem Reiter die Möglichkeit zu einer Steigerung seiner eigenen Kräfte, um «einer Berufung … in ein über das Reitersein hinausgehendes Rittertum vor Gott und der Welt zu folgen».2 So kann «Parzival dem Weg seiner höheren Bestimmung» folgen. «Durch ungebahnte Wildnis ohne Irren über Fernen trägt es ihn von Welt zu Welt und lässt ihn daran wachsen.»3

      Nach anstrengendem Ritt erreicht Parzival am Abend eine Burg, deren zahlreiche Türme aus dem Wald hervorzuwachsen scheinen, als seien sie ausgesät. «Das Pferd und auch die Straße trugen ihn dorthin, wo er den sitzen fand, dem die Burg und auch das Land gehörten.» An solchen Wendungen wird deutlich, dass Parzival die Dinge mit sich geschehen lässt. Das Pferd des Erschlagenen, der ja alle Tugenden des Rittertums in sich vereinigte, trägt ihn ohne sein bewusstes Zutun eben zu jenem «Meister der wahren Erziehung (houbetman der wâren zuht)»4, der wie kein anderer geeignet ist, ihn zum Ritter zu machen. Der weißhaarige Burgherr namens Gurnemanz de Graharz sitzt allein im Schatten einer Linde und scheint den Gast zu erwarten, der wegen «großer Müdigkeit» den schweren Schild nicht mehr geradehalten kann. Die Szene hat etwas märchenhaft Verzaubertes. Der erhabene, würdevolle Herr grüßt den erschöpften Gast überaus höflich. Seine «grauen Locken» sind für Parzival das untrügliche Kennzeichen für den rechten Lehrmeister, wie es ihm seine Mutter anempfohlen hat. Als er dies erwähnt, nennt Gurnemanz auch gleich die einzige Bedingung für die Lehre: Er müsse seinem Rat Folge leisten. Und mit einer herrschaftlichen Gebärde unterstreicht er seine Forderung, indem er einen Sperber von der Hand aufsteigen lässt, um die Burgbewohner zu benachrichtigen.

      Sperber sind schnelle und geschickte Jäger, die vor allem andere Vögel erlegen. Sie verhalten sich dabei besonders klug und überraschen ihre Opfer mit blitzschnellen Angriffen. Wer einen «Sperber auf der Hand hat», beherrscht die Jagd, denn er hat einen scharfgesichtigen Späher, der pfeilschnell zustoßen kann. Von jeher sind Greifvögel in Mythen und Märchen das Bild für Wachheit, Intelligenz und Scharfsinn gewesen, den freien Flug und die Beweglichkeit des Gedankens, des Begriffs assoziierend. Indem der Fürst einem Sperber gebietet, wird nicht nur seine Herrschaftlichkeit betont, sondern auch, dass er über Intelligenz und Umsicht verfügt. Im Folgenden lernen wir ihn dann auch als überaus klugen Lehrmeister kennen, der die Regeln und Gesetze der Ritterwelt überblickt und beherrscht. –

      Parzival ist zwar nur mit Mühe von seinem Pferd zu trennen, dann unterwirft er sich aber dem weiteren Prozedere, das genau festgelegt ist. Nachdem ausgiebig für sein leibliches Wohl gesorgt wurde, fällt er in tiefen, erholsamen Schlaf. Am nächsten Vormittag führt ihn sein Wirt zur Messe und gibt ihm religiöse Unterweisungen. Dann erst erzählt Parzival davon, wie er zu dem Harnisch gekommen ist. Auch hier ist die Reaktion auf die Bluttat, wie schon in der Artusrunde, frei von jeder Verurteilung, ganz im Gegenteil: Gurnemanz sanktioniert sogar den unehrenhaften Totschlag, indem er Parzival den Namen des Roten Ritters in aller Form überträgt und ihn dabei regelrecht in die Pflicht nimmt. «Der Wirt kannte den Roten Ritter, und er seufzte: ihn erbarmte sein Unglück. Seinem Gast erließ er diesen Namen nicht: er nannte ihn den Roten Ritter (sînen gast des namn er niht erliez, den rôten ritter er in hiez).»

       Die Ritterlehre

      Darauf folgen die Belehrungen, die Parzival zum gebildeten Ritter machen sollen. Der Burgherr leitet den Unterricht zunächst damit ein, dass er noch einmal wiederholt, der Schüler müsse sich an seinen Rat halten, was er aber zugleich mit einer anderen Forderung verknüpft: Er möge endlich von seiner Mutter schweigen («‹ir redet als ein kindelîn, wan geswîgt ir iwerr muoter gar …?›»). Daran wird der gelehrige Schüler sich dann auch halten: Hat er bisher bei jeder Gelegenheit aus überschwänglichem Gemüt lauthals den Rat seiner Mutter verkündet, so tritt jetzt der Rat Gurnemanz’ zu schweigen an erste Stelle. Doch nur in seinen Worten – im Herzen bleibt die Mutter lebendig, dort schweigt sie nicht: «sîner muoter er gesweic, mit rede, und in dem herzen niht.»

      Es ist auffallend, dass Gurnemanz in keiner Weise versucht, an Parzivals Kindheit und die Ratschläge der Mutter anzuknüpfen. Vielmehr ist er bemüht, die Mutter aus Parzivals Gedanken zu verdrängen, sodass in der Seele des Knaben ein Konflikt angelegt wird, der sich durch sein bisheriges Schicksal schon angedeutet hat – ein Konflikt zwischen dem «väterlichen» Rat, der mehr das Intellektuelle, die Verstandesbildung seiner Zeit beinhaltet, und dem mütterlichen Andenken, das sich mehr aus den Gefühls- und Gemütskräften nährt. Das wird später schwerwiegende Folgen haben, vor allem bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralsburg.

      Die nun anschließenden Unterweisungen in den Tugendregeln und Verhaltensnormen des Ritterlebens scheinen auf den ersten Blick in lockerer Gesprächsfolge und ohne Systematik vorgebracht, bei genauem Hinsehen erkennen wir aber, dass schon der Einstieg in die Thematik von erstaunlichem didaktischem Scharfsinn zeugt. Gurnemanz baut nämlich das ganze Lehrgebäude auf einem wohlbedachten Fundament auf – auf dem Gefühl der Scham. «‹So fange ich an: achtet geziemend darauf, dass Ihr niemals von der Scham lasst (ir sult niemer iuch verschemn).›» Eine solche grundlegende Wertschätzung der Scham ist für den heutigen Menschen nicht selbstverständlich. Der Begriff der Scham ist zumindest im alltäglichen Gebrauch nicht mehr mit einer solchen Wertigkeit