Heinz Mosmann

Der Parzival Wolframs von Eschenbach


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Szene wird nun dadurch noch besonders vielschichtig, dass man das Auftreten Parzivals durchaus auch als belustigend im äußeren Sinne empfinden kann – zunächst wenigstens. Das Lachen Kunnewares ist hingegen Ausdruck tiefster geistiger Freude und steht im Kontrast zu dem Gelächter über den naiven Knaben und zu der herabsetzenden Schadenfreude Keyes. Aus dieser herzlichen, wahrhaftigen Freude Kunnewares wird in Antanor wieder das Wort geboren, das Menschen verbindende, vermittelnde, Frieden stiftende Wort. So verstehen wir auch Keyes Gereiztheit. Er bemerkt, dass da etwas vor sich geht, das er nicht begreift, ja dass er gerade zum Handlanger weisheitsvoller Schicksalskräfte geworden ist, die er nicht durchschaut. Er spürt den Weltenhumor, der in dieser Szene lacht – und in seiner Hilflosigkeit wird er gewalttätig. Es ist ja auffallend, dass die ganze ehrenvolle Tafelrunde nicht eingreift, als Keye die wehrlose Kunneware und den stummen Antanor scheinbar grundlos verprügelt. Man scheint es gar nicht wahrzunehmen – die Gesetze der Tafelrunde sind offenbar nicht in Kraft. Nur einer spürt, was hier vorgeht: Parzival. Das Erlebnis prägt sich tief in seine Seele ein. Das grundlose Wüten der Gewalt erlebt er hier zum ersten Mal als zutiefst ungerecht, und bei seinem nächsten Zusammentreffen mit der Tafelrunde wird er – anstelle von Artus – Keye für die unritterliche Schurkerei bestrafen.

      Kunneware aber, auch das sei hier schon vorweggenommen, wird in Parzivals späterem Ritterleben eine ganz besondere Rolle spielen: Sie wird eine Art «Friedensmission» übernehmen. Ihr wird er alle jene schicken, die er im Kampf besiegt hat und die ihm «Sicherheit geboten» haben. Sie wird zum Inbegriff der Friedfertigkeit und erhält damit eine große soziale Aufgabe am Artushof: Sie besänftigt und integriert die ehemaligen Feinde, wobei sie eine Atmosphäre des Friedens schafft. Wer zu ihr kommt, ist wie verwandelt, selbst die ärgsten Feinde Parzivals oder der Tafelrunde werden bei ihr friedlich und umgänglich. Dass Kunneware zugleich die Schwester von Orilus und Lähelin, der Erzfeinde der Grals- und Artussippe, ist, kann uns nicht nur ein Bild dafür sein, wie nahe Krieg und Frieden benachbart sind – es deutet auch auf die soziale Wandlungsmacht der Seele, die sich – über alle Blutsbindungen hinweg – liebevoll in den Dienst des Friedens stellt.

       Die Bluttat

      Wenn wir den Schicksalsfäden von der Zukunft her folgen, klärt sich ein merkwürdiger Widerspruch im Verhalten Parzivals. Einerseits hat der Knabe offenbar so viel Bewusstsein, dass er von der Brutalität der Szene zwischen Keye und Kunneware abgestoßen wird und sich darüber empört, andererseits hat er aber noch so wenig Unrechtsempfinden, dass er sich anmaßt, von Ither in unverschämtem Ton die Rüstung zu verlangen und dessen ganze Ritterlichkeit damit infrage zu stellen – bis zum bedenkenlosen Mord. Anscheinend spricht die Prügel gegen eine wehrlose Frau für sein Herz eine deutliche Sprache, sicherlich dank seiner mütterlich geprägten und liebevollen Erziehung. Die Sprache der Gewalt hingegen ist es, die Ither gegen die Tafelrunde ins Feld führt, und die Empörung über die Züchtigung wird wohl den seelischen Boden für den Wutausbruch gegen den Roten Ritter bereitet haben.

      Die instinktive Brutalität und spontane Zielstrebigkeit, mit der Parzival vorgeht, ist aus der Psyche eines jähzornigen Knaben dennoch schwerlich zu erklären. Die Frage nach den eigentlichen Triebkräften seines Handelns kann uns indessen auf einen tieferen geistigen Zusammenhang aufmerksam machen. Denn zieht man die intuitive Verbundenheit Kunnewares mit dem Schicksal Parzivals von der Zukunft her, aus der Perspektive des Gralskönigtums, in Betracht, kann man sagen: Gerade in der Verwandlung und Überwindung jener Kräfte des Rittertums, die Ither repräsentiert, besteht der «hôhste prîs», dem die friedliebende Kunneware ihr Lachen schenkt. Es berührt Parzival in seinem tiefsten Wesenskern, dass sie für ihren hellsichtigen Blick brutal misshandelt wird, und bestärkt in ihm die gegen den Roten Ritter gerichtete Entschlossenheit, wenn ihm das auch nicht bewusst ist.

      Der edle Ritter ist immerhin darum bemüht, den kecken Knaben nicht unnötig zu verletzen, indem er ihn mit dem stumpfen Ende des Speeres zu Boden schickt. Dennoch zögert Parzival keine Sekunde, ihn zu töten, und stößt ihm sein Gabilot, seinen Sauspieß, ins Visier. Will man das als Jähzorn erklären, dann müsste der Knabe wenigstens beim Anblick des Toten einen Ansatz von Reue und Mitleid zeigen. Schließlich hat er ja auch die erlegten Vögel beweint. Aber nichts dergleichen geschieht, im Gegenteil. Die vergnügliche Selbstzufriedenheit, mit der er dem starren Körper die schwere Rüstung auszieht, die kecken Bemerkungen über den Ermordeten, dazu noch die Unterstützung durch den Artus-Knappen und die Billigung durch Artus selbst lassen die ganze Szene zum makabren Schauspiel werden, wenn wir sie nur äußerlich als Raub und Leichenfledderei ansehen.

      Genau genommen war aber die Gestalt des Roten Ritters schon von Anfang an nicht im gewöhnlichen Sinne realistisch. Allein die Darstellung seiner sinnlichen Erscheinung erhebt den König von Kukumerland zur Symbolgestalt. Seine Rüstung ist rot, das Pferd ist rot, Kleidung und Waffen sind rot, und das Haar ist natürlich auch rot. Selbst der geraubte Becher glänzt rot, und rot ist schließlich die Farbe des Blutes, das in der Streitszene reichlich fließt.

      Die Farbe Rot vereinigt in ihrem Symbolgehalt wie in ihren Empfindungsqualitäten die widersprüchlichsten Aspekte. Das rote Feuer etwa ist Bild der Zerstörung und des Untergangs, zugleich aber auch der prometheischen Schöpferkraft und damit der menschlichen Individualität, wie es uns in den pfingstlichen Feuerzungen veranschaulicht wird. Wir können in Hass entbrennen oder in Begeisterung erglühen. Rot kann aggressiv wirken, es kann aber auch die Seele wärmen. Besonders aber ist das Rot die Farbe des Blutes, in dem sowohl die niedersten Triebe und Begierden brodeln als auch die Tatkraft der menschlichen Individualität pulsiert. Damit kennzeichnet es sich als Farbe der Wandlung. In der Meditation des Rosenkreuzes etwa, wie sie Rudolf Steiner darstellt, wird diese Wandlung zum Thema und geistigen Vollzug.

      Indem Parzival die Rüstung des toten Ither anlegt, kündigt sich ein Wandel von großer Tragweite an. Er wird damit nicht irgendein Ritter, sondern der Rote Ritter. In den folgenden Aventüren, auch in den Abenteuern Gawans, taucht nun immer wieder das Bild des Roten Ritters auf, als glühendes Emblem eines großen menschheitlichen Themas: als Symbol der Wandlung und der freien Suche nach dem Gral. Die alten, sippengebundenen Blutskräfte werden durch das Feuer der menschlichen Individualität verwandelt – in der Begeisterung, die aus der Liebe zum Gral erwächst.

      Der Verlust des leiblichen Vaters und der frühe Tod der Mutter kennzeichnen einen Schicksalsweg, der die blutsgebundenen Kräfte des Menschen zu übersteigen sich anschickt. Da ist es kein Zufall, dass Parzivals Ritterschaft durch einen Verwandtenmord eingeleitet wird. Individuelle Tat und Schuld sind untrennbar miteinander verknüpft, wie es uns am Bild des Schwertes deutlich werden kann, das Parzival nun an sich nimmt. Es wird uns später wieder begegnen, wenn er mit ihm, und nicht etwa mit dem Gralsschwert, gegen seinen Halbbruder Feirefiz kämpft. Trevrizent wird ihn vorher darüber aufklären, dass er in Ither einen Verwandten getötet hat, und er wird es in einen Zusammenhang stellen: Das Blut, das beim Brudermord von Kain und Abel zur Erde rann, wird durch das Blut, das im Kreuzestod Christi sich mit der Erde vereinte, verwandelt. Wie der Brudermord mit dem Ereignis von Golgatha, so ist – wie noch genauer zu zeigen ist – der Verwandtenmord Parzivals mit jener Szene verknüpft, in der Parzival seinem Blutsbruder begegnen wird – und das Schwert des Roten Ritters zerbricht. –

      Als Parzival mit der erbeuteten Rüstung davonreitet, ist er nicht nur ohne jedes Schuldgefühl, er ist sogar äußerst zufrieden mit sich: «‹Lieber Freund›», so sagt er zu dem Knappen Iwanet, «‹ich habe hier erworben, worum ich bat.›» Dieser solle Artus seinen Dank ausrichten. Und im selben Atemzug beklagt er sich, dass seine Ehre verletzt worden sei, weil eine Dame seinetwegen verprügelt wurde. Auch im folgenden Wehklagen der Artusritterschaft über den Tod des Roten Ritters hat man den Eindruck, dass die Tat Parzivals überhaupt nicht moralisch gewertet wird. Die Königin Ginover selbst spricht die Totenklage. In ihren Worten hebt sie noch einmal die Einzigartigkeit und Bedeutung des Toten hervor, ohne dabei aber den anzuklagen, der in seine Rolle geschlüpft ist.4 «‹Weh, ach o weh! Artus’ Würde muss zerbrechen an diesem Ungeheuerlichen (Artûss werdekeit enzwei sol brechen noch diz wunder)! Dass der, dem der höchste Ruhm der Tafelrunde gebührt hätte, nun vor Nantes erschlagen liegt. Sein Erbteil hat er gefordert, Sterben hat man ihm gegeben.›» Und sie endet ihre Klage mit den rätselhaften