Heinz Mosmann

Der Parzival Wolframs von Eschenbach


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er neben dem Bach her, wie es seinem Verstande richtig schien.» – Der Rat führt ihn von der Mutter weg und hinein in die weite Welt!

      Schauen wir uns, der Reihenfolge der Ereignisse nach, die anderen Ratschläge an. «‹Sohn, dies lass dir befohlen sein: Wo du eines guten Weibes Ringlein mögest erwerben und ihren Gruß, da greif zu; es macht dir allen Kummer wieder gut. Du sollst sie eifrig küssen und sie fest umfangen. Das bringt dir Glück und hohen Mut, wenn sie tugendsam ist und gut.›» – Diese – dritte – Belehrung hat offenbar besonders die Bildung des Gefühls- und Empfindungslebens im Sinn. Seine «Umsetzung» erfolgt am nächsten Tag, nachdem der Knabe endlich eine «helle Furt» gefunden und überquert hat, in der Begegnung mit der edlen Jeschute. Hier kommt es zu jener berühmten burlesken Szene, in der Parzival über die ahnungslose Fürstin herfällt und ihr in seiner tölpelhaften Naivität Gewalt antut. «Da drückte er die Herzogin an sich und nahm ihr dabei einen Ring vom Finger. An ihrem Hemde sah er eine Spange: die riss er ungestüm los.» Nachdem er sich tüchtig vollgegessen hat, zieht er zufrieden von dannen: «Der Knabe war seines Raubes froh.» Jeschute aber, die nun von ihrem Gatten wegen ihrer vermeintlichen Untreue grausam bestraft wird, hat er damit in großes Unglück gestürzt. Parzival gerät damit nicht nur in tiefste Schuldverstrickung, die geraubte Spange dient ihm später sogar dazu, den selbstsüchtigen Fischer zu bewegen, ihn zum Artushof zu führen – vor dessen Toren er dann Ither, den Roten Ritter, ermordet. Hätte die Mutter das geahnt!

      «‹Du sollst dich um Anstand bemühen und der Welt Grüße bieten. Wenn ein grauer, weiser Mann dir Benehmen beibringen will (zuht will lêren), was er wohl kann, so sollst du ihm gerne folgen, und sei gegen ihn nicht widerspenstig!›» – Dieser Ratschlag bezieht sich offenbar auf Bildung und Erziehung (zuht) im gedanklichen Sinne, auf Wissen, Kenntnis und Verständnis – und führt so geradewegs in die Welt der Ritterregeln und Minnegesetze. Denn seine Anwendung erfolgt unmittelbar nach dem Besuch am Artushof, als Parzival, eingezwängt in die Rüstung des ermordeten Ither über seiner Narrenkleidung, dem alten Fürsten Gurnemanz begegnet und sich bei ihm in die Ritterlehre begibt: «‹Mir hat meine Mutter geboten, ich solle von einem, der graue Locken hat, Lehre annehmen. Demnach will ich Euch dienen, wie es mir meine Mutter gesagt hat.›»9

      Ein größerer Widerspruch ist kaum denkbar. Obwohl Herzeloyde alles daransetzt, Parzival von der ritterlichen Gesellschaft fernzuhalten, führt die Befolgung ihrer Ratschläge – Wollen, Fühlen und Denken ihres geliebten Kindes betreffend – geradewegs in die Ritterwelt. Hätte man gegen ihren Willen versucht, dem Kind den Weg zum Rittertum zu eröffnen, hätte man es nicht geschickter und zielgerichteter machen können als sie selbst. Wir hätten es leichter, wenn wir den Weg Parzivals in Schuld und Verstrickung aus dem Ungehorsam oder dem ungenauen Befolgen der mütterlichen Ratschläge erklären könnten, wie dies bei Chrétien de Troyes möglich ist – der im Übrigen die Belehrung weniger bildhaft und teilweise mit anderen Inhalten, vor allem aber viel ausführlicher gestaltet. Wolfram hat sich hier ausnahmsweise einmal kürzer gefasst; offenbar kam es ihm gerade darauf an, durch die knappe Metaphorik die inneren Widersprüche stärker hervortreten zu lassen. Warum?

      Wer das eigene Leben in den Blick nimmt, wird bemerken, dass es oft ganz anders verlaufen ist, als man es ursprünglich geplant hat. Begegnungen mit anderen Menschen haben vielleicht eine Auswirkung auf unseren Lebensweg, die wir anfangs nicht erwartet hätten, ursprüngliche Absichten nehmen eine ganz andere Entwicklung als zunächst gewollt, unerwartete Wendungen verändern unser Leben von Grund auf … Einen Blick für solche Gestaltungskräfte unseres Lebens und für deren Sinn können wir uns aneignen, wenn wir Rückschau halten. Dem erfahrenen Betrachter werden sich sinnvolle Figuren und Fügungen zeigen, die ihm im Leben nicht bewusst waren, die ihm aber jetzt erscheinen wie Spuren einer geistigen Führung, die in allem Tun die Hand sanft berührt, manchmal sogar ergriffen hat.

      Die Soltane hat in der Weise ihren Sinn erfüllt, als sie dem Kind in den frühen Lebensjahren in besonderem Maße die mütterlichen Seelenkräfte zur Verfügung gestellt hat und ihm eine außergewöhnliche Gemütsbildung hat zuteilwerden lassen. Erinnern wir uns an das Erlebnis Herzeloydes, als etwas ihre Hand berührte und der Traum eine neue Wendung bekam. Dies war die Zeit, in der das Schicksal sich wendete, als die Dame von Welt ganz und gar Mutter wurde und als sie von der Todesschwelle zurückkehrte, um sich völlig der Entwicklung eines sich inkarnierenden Wesens hinzugeben. Dies ist aber auch der Augenblick, wo sie ihre eigene Bestimmung erkennt und ihren Namen versteht. Von nun an ist es nicht mehr allein ihre vordergründige Persönlichkeit, die handelt, sondern diese wird Persona im eigentlichen Sinne: Ein höherer Sinn klingt hindurch, ein höherer Wille, der den Menschen – Parzival – zu dem Ort seines Schicksals führt, den er in seinem tiefsten Innern sucht. Deshalb korrigiert sie auch ihren Versuch, die Vögel zum Schweigen zu bringen. Sie erkennt darin die bloße Ängstlichkeit ihrer persönlichen Seele im Widerspruch zur göttlichen Schicksalsführung.

      Ein Bewusstsein von dieser «höchsten Hand» ist für jede verantwortliche Erziehung von allergrößter Bedeutung. Nicht allein das, was sich «der Pädagoge» in seinem spekulativen Sachverstand ausdenkt, ist oftmals für das Leben ausschlaggebend, sondern was durch sein Tun und Sagen hindurch an geistigen Schicksalskräften wirken will. Dem tieferen Verständnis erschließt sich die geistige Gestalt «der Mutter» somit als Wesensgrund der Erziehung schlechthin. Es ist deshalb durchaus konsequent und die Tatsache verliert so ihren Schrecken, dass Herzeloyde in dem Augenblick stirbt, als ihr Kind den erweiterten Schutzraum ihrer Mutterschaft verlässt. Von nun an ist es ihre rein geistige Führung, die Parzival weiterhin begleitet, eben nicht nur als Erinnerung, sondern als wirkende geistige Kraft in seinem Herzen.

       Sigune

       Schuld und Trauer

      Eine besondere Bedeutung für den Lebensweg Parzivals haben die Begegnungen mit Sigune. Vielschichtig und rätselhaft erscheinen diese Szenen gewissermaßen am Wegesrand, beim Verfolgen eines Zieles oder einer Spur, wie schicksalhafte Wegmarken seiner Biographie, und zwar vornehmlich im Zusammenhang mit der Verstrickung in Schuld. Zum ersten Mal begegnet er ihr, unmittelbar nachdem er mit seinem rücksichtslosen und tölpelhaften Verhalten die edle Jeschute ins Unglück gestürzt hat, zum zweiten Mal nach seinem unglückseligen Besuch auf der Gralsburg, wo er durch sein ignorantes Schweigen versäumt hat, das Leiden des Königs und die Not der Gralsgemeinschaft zu lindern. Die dritte Begegnung findet im Wald von Fontane la Salvatsche statt, wo Parzival, nach eigenen Worten, erfüllt von «Hass gegen Gott» umherirrt, unmittelbar bei der Klause des Einsiedlers, dem er kurz darauf seine Schuld gesteht. Nur beim vierten Mal scheint die Begegnung unter einem anderen Vorzeichen zu erfolgen, nämlich nachdem Parzival Gralskönig geworden ist – aber da ist Sigune schon nicht mehr am Leben, sie ist ihrem Geliebten nachgestorben.

      Als Angehörige des Gralsgeschlechts und nahe Verwandte, die auch einige Zeit im Hause Herzeloydes gelebt hat, möglicherweise sogar eine Erziehungsfunktion für den Knaben ausgeübt hat, steht Sigune Parzival schon äußerlich sehr nahe, aber mehr noch ist sie eine intime Kennerin seines Wesens, seiner Seele und seines Schicksals. Merkwürdig ist allerdings, dass sie sich nicht sofort erkennen; nicht nur beim ersten Mal, auch in den folgenden Begegnungen gibt es kein spontanes Wiedererkennen an der äußeren Erscheinung. Erst durch das Hören, durch Laut und Sprache, findet eine Identifikation des anderen statt. Diese innere Begegnung hinterlässt dann allerdings den Eindruck engster Vertrautheit. Die Stimme, die Parzival in solchen Momenten vernimmt, ist einerseits wie ein Spiegel, in dem er sein vergangenes Tun wahrnimmt, und zugleich ist sie zukunftsweisend, indem sie seinem Weg eine bestimmte Richtung gibt.

      Die vier Begegnungsszenen fallen durch das gleichbleibende, durchgängige Bildmotiv auf und «erstaunen durch die Statik der gezeichneten Bilder, sie sind fast nur noch ‹zum Ergebnis geronnenes Geschehen› und im Gegensatz zu den wechselnden Wegen Parzivals ein starres Bild des Leidens».1 Die Bilder wandeln sich zwar insofern, als Sigune sich allmählich aus dem äußeren Leben zurückzieht – Parzival kann schließlich nur noch durch das Fenster ihrer Klause mit ihr sprechen –, dies sind aber, wie im Folgenden deutlich werden soll, lediglich Variationen eines und desselben Themas, das Parzival auf allen Lebenswegen begleitet. In besonderen Augenblicken tritt