Heinz Mosmann

Der Parzival Wolframs von Eschenbach


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hier angewendet wird. In der alltäglichen Wirklichkeit werden «Alleinerziehende» immer bemüht sein, das jeweils andere Prinzip mitzurealisieren. Von Parzival hingegen wird alles ferngehalten, was irgendwie die väterliche Lebenssphäre der damaligen Welt repräsentieren könnte: Ritterleben, Zeitbildung, gesellschaftlicher und beruflicher Aufstieg … All dies wird ihm nicht allmählich in den Gewohnheitsleib eingeprägt, sondern erst später im Schnellverfahren eingetrichtert – mit schwerwiegenden Folgen. Aber gerade der innere Konflikt, der dadurch in der Seele Parzivals entsteht, wird ihm einmal die Möglichkeit geben, über seine Zeit hinauszuwachsen. –

      «Die Fürstin zog es mit ihrem großen Herzenskummer bald aus ihrem Lande in einen Wald, auf eine einsame Waldlichtung in der Soltane … Mit sich nahm sie dorthin des edlen Gachmurets Kind, um es vor der Welt in Sicherheit zu bringen … Ehe er zu Verstand kam, sammelte sie das Dienstvolk um sich, Männer wie Frauen, und verbot allen bei ihrem Leben, dass sie jemals etwas von Rittern verlauten lassen.» So wächst das Kind in der Waldeinsamkeit auf. Sorgen kennt es nicht, wäre da nicht der Vogelgesang, dessen «Süße ihm ins Herz drang». Weinend läuft es zur Mutter, ohne sich diese ersten zarten Empfindungen einer Sehnsucht erklären zu können. Schon bald kann die Mutter nicht verhindern, dass sich in dem Jungen doch etwas regt, das aus dem väterlichen Leben herüberwirkt: der Jagdinstinkt. Der Knabe schnitzt sich Pfeil und Bogen und schießt – ausgerechnet die Vögel, deren Gesang er so liebt, sodass er wiederum weinen muss, diesmal aus Trauer, weil sie nun so tot und stumm vor ihm liegen. Wir erkennen in den ersten Regungen des kindlichen Gemüts das Eindringen von Kräften, die inneren Unfrieden stiften, innere Widersprüche, die über die gegebene Lebenssituation hinausweisen. Und bei dem Versuch der Mutter, diese Lücke in der schützenden Hülle zu schließen, brechen die ersten Fragen auf. Denn als sie die Vögel verfolgen lässt, wundert sich der Knabe: «‹Was wirft man den Vögeln vor?›» Und als dann die Mutter ihre Anordnung bereut und zurücknimmt, entschlüpft ihr das verhängnisvolle Wort: «‹Warum breche ich dessen Gebot, der doch ist der höchste Gott?›» – «‹ôwê muoter, waz ist got?›»4

      Man kann in dem «ôwê», vergleichbar dem neuhochdeutschen Ausruf «au», den Anklang des Schmerzes hören, der das Erstaunen begleitet, wenn die gezielte Frage die schützende Hülle der kindlichen Naivität verletzt. Doch die Mutter selbst hat die Frage hervorgelockt, und was sie nun als Antwort gibt, kann das Erstaunen nur noch steigern: «‹Sohn, das sag ich dir im Ernste: Noch lichter als der Tag ist er, der ein Antlitz annahm wie der Menschen Antlitz. Sohn, behalte dieses Wissen, und flehe ihn an in deiner Not: seine Treue bietet der Welt immer Hilfe an. Ebenso heißt einer der Hölle Herr: der ist schwarz, die Untreue lässt nicht von ihm. Wende ab von ihm deine Gedanken, und auch von des Zweifels Schwanken.› – Seine Mutter lehrte ihn das Finstere und das Lichte unterscheiden (sîn muoter underschiet im gar daz vinster und daz lieht gevar).» Damit sät sie zwar den ersten zwîvel in sein Gemüt, verbindet dies aber zugleich mit der Aufforderung zur stæte («‹und och von zwîvels wanke›»). Was wir im Prolog als zum Wesen des Menschen gehörig erkannt haben, wird hier in die noch unbewussten Willensgründe der Kinderseele gelegt.

      Diese «Belehrung» ist in der Forschung viel diskutiert worden, nicht immer mit dem nötigen Einfühlungsvermögen in die Seele des Kindes. «Man sollte erwarten, dass von Gott als dem Schöpfer und Erhalter die Rede wäre, von dem ‹gebot›, gegen das sich Herzeloyde vergangen hat, wie sie selber sagt. Stattdessen folgt eine Beschreibung vom Wesen Gottes, die darauf gar keinen Bezug nimmt.»5 Der Autor kommt immerhin zu der bemerkenswerten Einsicht: «Die Belehrung, die gar nicht wirklich auf Parzivals Frage eingeht, rechnet bereits mit einem späteren Leben in der Ritterwelt, ja sie weist den Knaben schon auf dieses Leben hin und weckt seinen Trieb, Soltane zu verlassen.» Die Mutter pflanzt ein erstes Verständnis für Gut und Böse in die kindliche Seele, mit dem einfachsten, elementarsten Bild von Licht und Finsternis. Hier finden wir nicht nur den Urgrund seiner Gottesvorstellung, sondern zugleich den Ausgangspunkt seines kommenden Ritterlebens.

      Als nämlich eines Tages drei fremde Ritter in ihren hell glänzenden Rüstungen durch Soltane reiten, fällt ihm sofort die Belehrung der Mutter ein. «Der Knabe wähnte allen Ernstes, jeder von ihnen wäre ein Gott», und er fällt vor ihnen auf die Knie. Als dann ein vierter folgt, da entwickelt sich mit ihm ein wunderliches Gespräch: «‹O hilf mir, hilfreicher Gott!› Vielmals fiel er zum Gebet nieder, der Fils du Roi Gachmuret. Der Fürst sagte: ‹Ich bin nicht Gott, aber ich folge seinem Gebote gern. Du kannst hier vier Ritter vor dir sehn, wenn du recht hersehen könntest!› Der Knabe fragte sogleich: ‹Du sagst ‚Ritter‘: was ist das? Hast du nicht göttliche Kraft, so sage mir, wer Ritterschaft gibt!› ‹Das tut der König Artus. Junkerlein, wenn Ihr dem ins Haus kommt, der gibt Euch den Ritternamen, dass Ihr Euch dessen nie zu schämen braucht! Ihr mögt wohl von ritterlicher Herkunft sein.›»6

      So ist es gerade das wortwörtliche Befolgen des mütterlichen Rates, was den Knaben auf die Spur des Rittertums bringt. Die Belehrung der Mutter scheint somit in tiefem Widerspruch mit ihren eigenen Willensbestrebungen zu stehen, die ja nichts unversucht lassen, dem Knaben das Rittertum vorzuenthalten. Das zeigt sich auch in dem nun folgenden Versuch, Parzival so auszustatten, dass er bald wieder nach Hause laufen möge: Mit Narrenkleidern auf einem alten Klepper soll er von der gesellschaftlichen Welt ferngehalten werden. Aber dazu passen nun wiederum die Ratschläge, die sie ihm mitgibt, überhaupt nicht. Warnt sie doch ihren Sohn eindringlich vor dem Erzfeind der Familie, Lähelin, der ihr zwei Länder entrissen habe und Tod und Verderben über ihre Untertanen gebracht habe. Man mag dies zwar als berechtigte Schutz- und Vorsichtsmaßnahme vor der drohenden Gefahr verstehen, doch kann dem auch entgegengehalten werden, dass die Mutter hiermit ihr tatendurstiges Kind, das sie doch vor Schaden bewahren will, auf den Erzfeind der Familie ansetzt. Der Knabe reagiert auch sofort entsprechend naiv und ungestüm, indem er gelobt, alles mit seinem Gabilot zu rächen. Es wird sich später zeigen, dass der innere Drang zum Kampf in Parzival immer wieder von der Vorstellung genährt wird, es handle sich beim Gegner um Lähelin.

      In den weiteren, bildhaften Handlungsanweisungen, die Herzeloyde dem Knaben mit auf den Weg gibt, kommen die inneren Widersprüche ihrer Erziehungsmaßnahmen noch schicksalshafter zum Tragen. Denn hier handelt es sich um Seelenbilder, die Parzival auf seinem Lebensweg erst noch in ihrem Sinn durchschauen müsste, um sie mit der konkreten Wirklichkeit verbinden und in eigenes moralisches Handeln umsetzen zu können. Indem er die Bilder unverstanden auf die individuellen Situationen seiner Lebenswirklichkeit überträgt, werden sie zum genauen Gegenteil dessen, was die sorgenvolle Mutter mit ihnen beabsichtigt hat. Schauen wir uns die drei «Ratschläge» im Einzelnen an.

      «‹an ungebanten strâzen

      soltu tunkel fürte lâzen:

      die sîhte und lûter sîn,

      dâ solte al balde rîten în.

      du solt dich site nieten,

      der werlde grüezen bieten.

      Op dich ein grâ wîse man

      zuht wil lêrn als er wol kan,

      dem soltu gerne volgen,

      und wis im niht erbolgen.

      sun, lâ dir bevolhen sîn,

      swâ du guotes wîbes vingerlîn

      mügest erwerben unt ir gruoz,

      daz nim: ez tuot dir kumbers buoz.

      du solt zir kusse gâhen

      und ir lîp vast umbevâhen:

      daz gît gelücke und hôhen muot,

      op si kiusche ist unde guot.›»7

      «‹Auf ungebahnten Wegen musst du dunkle Furten meiden, aber in die seichten und lauteren, hellen8 Furten kannst du hurtig hineinreiten.›» – Der erste Rat der Mutter greift das Bild der religiösen Unterweisung wieder auf, die Vorstellung von Licht und Finsternis. Hier wird an die Fähigkeit zur moralischen Entscheidung appelliert, der Weg des Guten soll beschritten, der des Bösen gemieden werden – es handelt sich also um eine willensbezogene Handlungsanweisung. Was geschieht nun, als der Knabe sich gleich nach dem Abschied wortwörtlich