es ihm vergönnt gewesen, länger zu leben, hätte er wohl irgendwann seinen Sohn Parzival mit auf Fahrt genommen – so wie er stellvertretend Schionatulander, wie wir später erfahren, auf diese Weise in das Rittertum eingeführt hat. Er hätte ihn aus der mütterlichen Umhüllung herausgeführt und ihm die Welt gezeigt. Im Grunde repräsentiert Gachmuret in seiner weit ausgreifenden Weltoffenheit und in dem ganz nach außen gerichteten Tatendrang eine Urgebärde des Väterlichen, aber in überspitzter Form, so wie die zum Äußersten getriebene Geste der Umhüllung, mit der Herzeloyde ihr Leben dem Kind widmet, das Urbild des Mütterlichen darstellt. Beide laufen hier aber auseinander, statt zusammen zu wirken. Der Strom natürlicher Kräfte, der vom Vater ausgeht, scheint dabei an ein Ende gekommen zu sein. In der Mutter entsteht zudem ein grundsätzlicher Zweifel an der Tragfähigkeit der bisherigen Lebensart, der Ritterwelt, die besonders in Gachmurets Abstammung repräsentiert ist. In dieser Distanzierung zu allem Angestammten, Traditionellen kündet sich der besondere Charakter von Parzivals Schicksal an. Hier ist vorgebildet, was sich später in seinem Innern seelisch-geistig vollziehen wird.
Soltane – Quarantäne und Entwicklungsraum
Parzivals Geburt wird von heftigen Erschütterungen in der Seele der Mutter begleitet. Bisher haben wir Herzeloyde als eine Frau kennengelernt, die sich zu behaupten wusste, die ihre Schönheit und ihre gesellschaftliche Stellung klug ins Feld zu führen verstand, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen ging. Geschickt wusste sie die Minnegesetze zu nutzen und Gachmuret durch einen Richtspruch zu gewinnen, wodurch ihr ein geradezu triumphales Lebensglück beschert wurde. «In Reichtum und Jugend lebte diese Frau und in Freuden über alle Maßen: sie hatte das Ziel aller Wünsche erreicht (rîcheit bî jugent phlac daz wîp, und freuden mêre dan ze vil: si was gar ob dem wunsches zil).» Erst mit der Geburt Parzivals beginnen wir zu ahnen, warum Wolfram der «Mutter», wie sie bei Chrétien ganz unpersönlich genannt wird, den so vielsagenden Namen gegeben hat, der an das kommende «herzeleit» anklingt. In vielfacher Hinsicht weist die Persönlichkeit der Namensträgerin auf zukünftiges Schicksal.
In einer gewaltigen Vision, die zugleich ein entsetzlicher Albtraum ist, kündigt sich diese Zukunft an: «Eines Mittags lag die Frau in ängstlichem Schlummer, da kam ihr ein furchtbarer Schreck. Es deuchte sie, dass ein Sternenblitz sie in die Lüfte entführte, wo sie von feurigen Donnerstrahlen mit Wucht getroffen wurde. Die flogen alle auf einmal auf sie zu: da zischte und knisterte es von Funken an ihren Zöpfen entlang. Krachend toste der Donner und mit ihm ergossen sich brennende Tränen. Als sie danach in ihren Leib und ins Leben zurückkam (ir lîp si dâ nâch wider vant), zog ein Griff (oder Greif)1 an ihrer rechten Hand (dô zuct ein grif ir zeswen hant). Damit verwandelte sich ihr Traum. Es deuchte sie ganz wunderlich, wie sie eines Lindwurms (eins wurmes) Mutter wäre, der darauf ihren Leib zerriss und wie ein Drache (ein trache) an ihren Brüsten söge, und dass er plötzlich von ihr flöge, sodass sie ihn niemals wiedersah. Das Herz brach ihr aus dem Leibe … Ihr Unglück wird lang und breit, ihr naht künftiges Herzeleid (ir schade wirt lanc unde breit: ir nâhent komendiu herzenleit).»
Drache, Wurm, vielleicht auch Greif, sind Wesen einer Zwischenwelt, die erscheint, als Herzeloyde aus der Entrücktheit ihrer kosmischen Vision in den Leib zurückkehrt. Es sind Schwellenwesen, an deren Überwindung der Mensch zur geistigen Erfahrung heranreift. Sie tauchen deshalb oft als Wächter und Hüter des «Schatzes» auf. Das Erlebnis weist zum einen auf die drohende Schicksalsprüfung, die Herzeloyde bevorsteht – die Nachricht vom Tode ihres Gatten wird ihr unmittelbar danach überbracht –, zum anderen auf den besonderen Schicksalsweg des Kindes, das sie unterm Herzen trägt. Eine Individualität kündigt sich an, deren Größe zunächst in der Gestalt des Drachen erscheint und die das mütterliche Leben – und nicht nur dieses – zerstören wird; eine Individualität, deren Schicksal von der Auseinandersetzung mit der eigenen Drachennatur geprägt und deren Lebensmotiv die daraus erwachsende Selbstüberwindung sein wird.
Die folgenden Szenen im Zusammenhang mit der Geburt Parzivals sind von rührender Innigkeit. Bei der Nachricht vom Tode Gachmurets bricht Herzeloyde zusammen und wäre beinahe gestorben, wäre nicht ein erfahrener alter Mann zur Stelle gewesen, um sie ins Leben zurückzuholen. Sicher ist es aber auch die vorangegangene Vision, in der sie ihre Mutterschaft als geistigen Auftrag erfahren hat, woraus sie schließlich die Kraft der Lebensbejahung zieht. So ist dieses neugewonnene Leben allein dem Kind gewidmet. Von der Todesschwelle zurückgekehrt, wendet sie sich deshalb ganz dem Kind zu: «Ihren Leib und ihr Kind darin umfing sie mit Armen und Händen. Sie sprach: ‹Wolle Gott mir edle Frucht Gachmurets senden! Das ist meines Herzens Bitte …› Die Frau sah ihren Wunsch erfüllt daran, dass die Kindesspeise ihr Herz bedeckte, die Milch in ihren Brüstlein: die Königin drückte sie heraus und sprach: ‹Du bist aus Treue (von triwen) gekommen! Hätte ich die Taufe noch nicht empfangen, so wollte ich von Dir getauft werden!›» «Tränen» und «Milch» fließen zusammen, veranschaulichen die Trauer über das Vergangene und die Sorge um das Kommende. Die Gegenwart aber wird überstrahlt von der Ankunft des neuen Erdenwesens. Der Verweis auf die «Treue» und die «Taufe» verdeutlicht die Überzeugung vom geistigen Ursprung dieser «Ankunft». Der Bezug zur Geburt Jesu erscheint hier erst angedeutet, wird dann aber offenbar, als das Kind geboren ist und die Mutter sich entschließt, gegen die damaligen Gepflogenheiten ihm selbst Amme zu sein. «Frau Herzeloyde sprach mit Überlegung (mit sinne): ‹Die höchste Königin bot einst dem Jesusknaben ihre Brust, der dann als Mensch für uns den schrecklichen Tod am Kreuz erlitt und uns so seine Treue bewies.›»
Die mütterliche Hinwendung zum Kind bedeutet zugleich auch die Bejahung des eigenen Leibes. Es ist das Wesen der Mutterliebe, dass sie sich in der Erweiterung der eigenen Leiblichkeit darlebt. Aus der Distanz betrachtet erscheint sie deshalb untrennbar verknüpft mit der Selbstliebe, dem Egoismus. Anders als die idealistische Liebe oder die Freundesliebe zu einem anderen, die auf den ersten Blick selbstloser, weil der freien Entscheidung entsprungen zu sein scheinen, wurzelt sie in den natürlichen Instinkten des Menschen. Aber gerade darin liegt auch ihre lebenspendende Kraft, ihre Wirklichkeit begründet. Die Verbindlichkeit der Freundesliebe muss sich in der Realität erweisen, Mutterliebe geht – wenn auch zunächst instinktiv – von der Realität aus.
Was uns in Herzeloyde vor Augen tritt, ist nicht nur das Bild einer werdenden Mutter, sondern es ist – darauf wurde im vorigen Kapitel schon hingewiesen – das Urbild des Mütterlichen überhaupt. Die Gebärde des Umfangens, des Schützens, des Hüllens können wir überall in ihrem Handeln, in ihren Lebensäußerungen entdecken. Sie ist, und das ist entscheidend für ihre moralische Qualität, zugleich verknüpft mit der Gebärde des liebevollen Gebens. Wolfram wertet die Entscheidung Herzeloydes für die Waldeinsamkeit als Akt der Selbstlosigkeit, nicht zuletzt deshalb, weil sie in der selbst gewählten Beschränkung auch ihrem gewohnten, prachtvollen gesellschaftlichen Leben entsagen muss. «So wurden ihr stets neue Gaben zuteil», heißt es am Beginn des dritten Buches, «vom Himmel durch die unendliche Kraft des Schenkens.»2 So gesehen ist Parzivals Kindheit in der Soltane nicht der Versuch einer ängstlichen Frau, ihr Kind dem gesellschaftlichen Leben zu entziehen, sondern eine konsequente Ausweitung gesteigerter Mutterliebe über die gesamte Kindheit hin.
Behandelt man dies im Unterricht, wird man zunächst auf sehr viel Skepsis und Kritik an der «Einseitigkeit» Herzeloydes stoßen. Gelingt es aber, zu sachlichen, auf Erfahrung beruhenden Gesprächen über das «Mütterliche» und das «Väterliche» in der Erziehung zu kommen, werden sich diese seelisch-geistige Qualitäten von ihrer einseitigen Fixierung auf gesellschaftliche Rollenverteilung lösen, sie werden als Urgebärden erlebt, die sich unabhängig von einer individuellen Zugehörigkeit zum jeweiligen Geschlecht verstehen lassen. Hier besteht wahrlich Gesprächsbedarf, sind wir doch heute Zeugen einer dramatischen Entwicklung, in der den Kindern die mütterlichen Schutzräume für ihre gesunde Entwicklung vor allem durch den Zugriff einer omnipotenten, allgegenwärtigen Technik entzogen werden und jeder Versuch, sich dem zu widersetzen, mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen muss.
«Man bewahrte ihn vor allem ritterlichen Leben, ehe er zu Verstand kam (man barg in vor ritterschaft, ê er kœme an sîner witze kraft).»3 – Vorerst erscheint dies noch als Beraubung, als Vorenthaltung von Entwicklungsmöglichkeiten und